Vom Wahlergebnis bin ich schwer enttäuscht, wenn ich mich auch schon im Vorhinein mit dieser Aussicht fast abgefunden hatte.
Besonders unverständlich ist mir, wie man sich als linksgerichteter Nichtwähler nun freuen kann, die SPD abgenichtwählt zu haben, wenn man dafür den Erfolg einer den eigenen Zielen noch deutlich entgegengerichteteren rechten Regierung direkt herbeigeführt hat. Außer natürlich mit der Begründung, 4 Jahre Schrecken und eine Wunderheilung durch Linksruck danach seien einem lieber als ein fortgesetzter schleichender Verfall. Als letzteres verstehe ich Ipsis Haltung (korrekt?), aber bei vielen anderen Ex-SPD-jetzt-Nicht-Wähler schienen die Gedanken nicht so weit zu reichen.
Zu den Erwartungen an Schwarz-Gelb mal zwei extreme Szenarien:
1., pessimistisch:
Der Umweltschutz und die Energiewende erfahren einen großen Rückschlag, mittelfristig verliert Deutschland dadurch langfristig den technologischen Anschluss und kann seine Wirtschaft nicht mehr retten, langfristig wird der Welt schwer geschadet.
Eine missglückte Steuerreform verdoppelt die Staatsschulden und verdirbt den unteren Einkommensschichten endgültig die Lust an der Arbeit.
Die Arbeitslosenzahl steigt auf 6 Millionen, Arbeiter und Angestellte müssen sich mit beliebig unfairen Vertragsbedingungen und regelmäßigen Kündigungen abfinden, um überhaupt noch etwas zu bekommen.
Datenschutz und Bürgerrechte waren für die FDP reine Stimmenfänger, die Themen werden nie wieder angesprochen, Schäuble und van der Leyen setzen ihren Spitzel- und Behinderungskurs intensiviert fort.
Im Gesundheitssystem verbessern sich die Leistungen zwar kurzfristig wieder, die Finanzierung läuft aber endgültig aus dem Ruder, sodass mittelfristig Kassenpatienten auf eine absolute Grundsicherung zurückgedrängt werden, während sich die Privatversicherung nur noch Großverdiener leisten können.
Außenpolitisch blamiert uns Westerwelle bis auf die Knochen, die EU-Reformen kommen keinen Schritt voran, weltweit verliert Deutschlands Wort an Gewicht.
Unteren Einkommensschichten wird der Zugang zu Universitäten endgültig verbaut, parallel hört an diesen die wissenschaftliche Arbeit nahezu vollständig auf, da die Lehrpläne selbst in Physik und Theologie ausschließlich nach den Manager-Einstellungsprofilen der Finanz- und Beratungsbranchen ausgerichtet werden.
2., optimistisch:
Im Energiebereich werden mit Augenmaß nur ein paar Kernreaktoren länger am Leben gelassen. Wind- und Solarkraft haben sich in 1-2 Jahren von alleine so stark weiterentwickelt, dass ihnen die gekappte Förderung auch nicht mehr viel schadet und sie den Markt schnell aufrollen. Mit dem abgeschöpften Kerngeld wird die Infrastruktur im großen Stil modernisiert.
Die Steuerreform fällt weitgehend kosmetisch aus, in Spezialfällen wie Großfamilien oder bestimmten engen Einkommensbereichen gibt es aber spürbare Entlastungen, und das ein oder andere Unternehmen oder manch Millionär wird am Abwandern gehindert.
Staatschulden und Arbeitslosenzahlen bleiben dank der anspringenden Wirtschaft im verträglichen Rahmen, effizientere Vermittlungstrukturen können letztere sogar senken. Der Kündigungsschutz bleibt dank der CDU erhalten.
Dafür setzt sich die FDP weitgehend mit ihren Datenschutz- und Bürgerrechtsansprüchen durch, bleibt diesen auch treu. Manch Blödsinn der letzten Regierung wird zurückgenommen, umfassende Internetrechte kodifiziert.
Zahlreiche Gesundheitsleistungen werden wieder zur Kassenpflicht, Zusatzgebühren fallen, die Arbeitsbedingungen der Ärzte verbessern sich. Einsparungen an überflüssigen oder markenbedingt überteuerten Arzneien machen dies ohne Mehrkosten möglich.
In der Außenpolitik gibt es keinerlei Umbrüche. Nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages und dem Tory-Wahlsieg in Großbritannien setzt das gut zusammenarbeitende Trio konservativer Herrscher in den großen EU-Staaten zahlreiche weitere Reformen um.
Die Bildungspolitik wird stärker zentralisiert, Gesamtschulexperimente nicht weiter verfolgt, die Gymnasien wieder anspruchsvoller. An den Universitäten führen weitere Stufen der Exzellenzinitiative zu weiterer Konzentrierung, die letztlich in einer Trennung von Industrie- und Wissenschafts-Ausbildungs-Standorten endet, in beiden Bereichen gute Ergebnisse erzielt.
Natürlich erwarte ich eher etwas nahe am ersten Szenario, mit etwas Glück kommen aber vielleicht ja doch ein paar Bruchstücke aus dem zweiten zustande. Sorgen macht mir neben Westerwelles am Wahlabend wiedermal bewiesener Unreife und Unfähigkeit vor allem der nachwievor hohe Anteil abgehalfterter Fuzzis aus Kohlzeiten in beiden Truppen und die Vermutung, dass letztlich der Mut zu echten Veränderungen fehlen wird, während kosmetische Manipulationen hier und da letztlich das System nur weiter schwächen.
PS @ Lykurg:
Unbedingt notwendig finde ich aber als Ziel den Schuldenabbau, den ich nur (!) einer schwarzgelben Koalition mit viel gelbem Gewicht zutraue
Diese Einschätzung kann ich nun wirklich überhaupt nicht teilen. Sieht man sich die deutsche und auch die internationale Geschichte an, habe ich doch sehr den Eindruck, dass die Rechten hier noch viel mehr versagen als die Linken. Kohl hinterließ einen eskalierenden Schuldenberg, unter Rot-Grün wurde erstmals ernsthaft dagegen angegangen und der Erfolg begann sich einzustellen. In der großen Koalition war der SPD-Finanzminister Steinbrück auf einem sehr guten Weg, bis die Krisen- und Konjunkturpaketgeschichte ihm das vermasselt hat. International wäre z.B. die Entwicklung Reagan-Clinton-Bush zu nennen, Obama lässt sich da noch nicht beurteilen. Insbesondere die Kombination von Steuer- und Schuldenabbau funktioniert halt einfach nicht.