Beschneidungen aus religiösen Gründen sind strafbar

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Malte279
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Sa 14. Jul 2012, 12:00 - Beitrag #21

Was ich bemerkenswert finde ist wie deutlich auch die Medien in dieser Debatte Stellung zugunsten der religiösen Praktik beziehen. Es findet sich kaum je ein Kommentar der eher dem Recht auf Selbstbestimmung und Unverletzlichkeit des Körpers das Wort geredet wird. In den Artikeln und Debatten ist fast ausschließlich von medizinischen Aspekten die Rede und ich glaube gerne, dass eine Beschneidung unter den richtigen Bedingungen durchgeführt nur ein sehr geringes gesundheitliches Risiko birgt. Auch dem Argument dass die Beschneidung nicht, wie von Beschneidungsgegnern oft behauptet, zu einer völligen traumatischen Persönlichkeitsstörung führt bin ich bereit zu glauben.
Was aber meiner Ansicht nach auch in den Medien viel zu sehr unter den Teppich gekehrt wird ist dass es eben nicht darum geht die Beschneidung an sich zu verbieten sondern lediglich darum diesen nicht mehr rückgängig zu machenden Eingriff ohne Zustimmung des Betroffenen durchzuführen. Ich glaube schon, dass dort eine sehr große Furcht bei vielen Zeitungen besteht als ausländerfeindlich, rassistisch, antisemitisch etc. gebrandmarkt zu werden wenn sich Kommentare gegen die Beschneidung irgendwo außerhalb der Leserbriefe finden.

e-noon
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Sa 14. Jul 2012, 12:06 - Beitrag #22

Das Problem ist ja, dass die Betroffenen Kinder sind (die vor jeder Spritze davonlaufen) oder gar Babies (die ihre Zustimmung oder Ablehnung überhaupt nicht ausdrücken können).

Ich finde es furchtbar, dass man Kindern eine unnötige Operation aufzwingt, deren Ergebnisse nach außen sichtbar und auch nicht rückgängig zu machen sind (wie etwa auch bei einer vorsorglichen Blinddarmentnahme, von der ja auch abgeraten wird). In einer Zeit, in der mangelnde Hygiene den Tod oder Verlust des Organs bedeutet hätte, ist das noch verständlich, aber heutzutage... Ich kenne jedoch auch einen Juden, der völlig atheistisch ist, dennoch sein Kind ganz selbstverständlich hätte beschneiden lassen, wenn seine Frau nicht dagegen gewesen wäre (die Entscheidung steht iirc noch aus).

Völlig traumatisiert wird man wohl nicht, aber wenn ich an die wochenlangen Schmerzen zurückdenke, die ich als Außenstehender miterlebt habe, so frage ich mich doch, wie Eltern ihrem Kind so etwas antun können wollen.

Maglor
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Sa 14. Jul 2012, 12:48 - Beitrag #23

Zitat von Malte279:Was ich bemerkenswert finde ist wie deutlich auch die Medien in dieser Debatte Stellung zugunsten der religiösen Praktik beziehen.

Das sind die Merkmale einer verängstigten Gesellschaft, die sich sehr wohl bewusst ist, dass Kritik am Islam zu Toten und Kritik am Judentum zur Ächtung führen kann.

Zu den rätselhaftelhaftesten Argumenten gehört immer noch die Vorstellung, Säuglinge würden auch bei der Beschneidung ohne Betäubung kaum Schmerzen empfinden. Wie der Mohel das wieder herausgefunden hat?

Zur politischen Debatte:
Groteskerweise verteidigen die Grünen die Beschneidung ohne Betäubung, setzen sich aber beim Tierschutz dafür ein, dass das Kupieren und Kastrieren von Ferkeln ohne Betäubung verboten wird. Bei Hunden ist es auch schon verboten.
Nur an Kleinkinder soll munter weiter ohne Betäubung herumgeschnitten werden. :rolleyes:

Ipsissimus
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Sa 14. Jul 2012, 12:48 - Beitrag #24

Es ist bei dieser Geschichte ja auch nicht gerade die Rede davon, dem Kind eine Hand abzunehmen. Aber nochmal, wie wollt ihr Impfungen rechtfertigen, wenn nicht im Verweis auf das höhere Gut, das mit ihnen erzielt werden soll. Auch bei der Beschneidung geht es um ein höheres Gut. Ich bezweifele, dass Mediziner und Juristen die geeigneten Personen sind, um für Religiöse zu entscheiden, dass deren höheres Gut minderwertig ist. Immer vorausgesetzt, die Religionsfreiheit soll weiterhin gültig bleiben.

Maglor
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Sa 14. Jul 2012, 12:53 - Beitrag #25

Der Vergleich hinkt. Eine Impfung ist keine Erziehungsmaßnahme sondern medizinische Vorsorge.

Lykurg
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Sa 14. Jul 2012, 13:17 - Beitrag #26

Die Beschneidung ist ebenfalls keine Erziehungsmaßnahme, sondern - aus jüdischer Sicht - unumgängliches Zeichen des Bundes mit Gott, also eine geistliche Vorsorge. ;)
Das auch im Gegensatz zu e-noons "unnötiger" Operation - medizinisch sicherlich, aber im Sinne der Religionsfreiheit unumgänglich.

Wäre höchstens die Frage (nur mal ein Gedankenspiel von mir, um Maltes Argumentation aufzugreifen), ob liberale Rabbiner dazu zu bewegen wären, eine symbolische Markierung am Kind vorzunehmen, die dann in mündigem Alter zur Beschneidung vervollständigt werden kann. Manche Rabbiner sind ja sehr kreativ in der Anpassung der Tora an moderne Erfordernisse. Aber ich weiß nicht, ob derartiges durchsetzbar wäre, ob es überhaupt etwas brächte; und was man mit denjenigen (z.B. Orthodoxen) macht, die eine solche Lösung nicht akzeptieren.

Darüber hinaus wäre es eben trotzdem eine staatliche Einschränkung religiöser Praxis, und wie schon Ipsissimus verdeutlichte, sehr geschmäcklerisch, wenn gerade Deutschland da vorprescht. Würde ein Beschneidungsverbot etwa in der Mehrheit der EU-Staaten eingeführt, ohne daß Deutschland dies tut und darauf hinwirkt, wäre es wesentlich leichter zu akzeptieren, wenn man sich anschließt. Aber warum sollten wir gerade in einer so schwierigen Frage eine Vorreiterrolle einnehmen? Das erinnert mich irgendwie an die Argumentation von Günter Grass "gerade wir müssen"... und da wird mir schon wieder ganz anders. Bild

Malte279
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Sa 14. Jul 2012, 13:26 - Beitrag #27

Zudem ist eine Impfung für gewöhnlich auch nicht nach außen hin sichtbar und führt nicht zu der nicht rückgängigzumachenden Entfernung eines Stücks vom Körper. In der Debatte werden was die Ausmaße angeht wohl von beiden Seiten grobe Übertreibungen verwendet. Gegner der Beschneidung vergleichen sie gerne mit der weiblichen Genitalverstümmelung. Dies halte ich für unangebracht da erstens die weibliche Genitalverstümmelung wirklich darauf abzielt einer Frau für alle Zukunft jede Möglichkeit nehmen soll Freude am Sex zu haben (zur großen Enttäuschung gewisser Moralapostel nimmt die Beschneidung meines Wissens nach nicht die Möglichkeit beispielsweise zur Masturbation) und vor allem eine so grobe Verstümmelung ist, dass es bei dieser barbarischen (und mit keinerlei "medizinischen Rechtfertigungen" behafteten) Sitte zu einer sehr hohen Todesrate unter den Opfern kommt, die bei der Beschneidung nicht gegeben ist.
Befürworter der Beschneidung untertreiben in die andere Richtung, indem sie das ganze mit der christlichen Taufe vergleichen und darauf hinweisen, dass ein Religionswechsel durch die Beschneidung genausowenig unmöglich gemacht wird. Das es im einen Fall auf physischer Ebene um ein bisschen Wasser geht und im anderen um eine irreversible Veränderung am menschlichen Körper wird dabei natürlich geflissentlich verschwiegen.
Man kann wohl nachvollziehen warum aus den von Maglor genannten Gründen die Medien sich hier ganz klar nicht gegen die religöse Fraktion stellen wollen, aber ich finde es schon etwas abstoßend wie vehement hier gegen Gegner der Beschneidung Front gemacht und dabei der wichtige Punkt des Recht des Kindes auf Selbstbestimmung weitestgehend ausgeklammert wird. Dieser Teil der Debatte wird fast ausschließlich den weniger direkt (an)greifbaren Lesern in ihren Briefen überlassen, die dann aber von offiziellen "Ethikern" und so weiter als Stammtischredner abgetan werden ohne dass auf ihre Hauptargumente (v.a. dass es nicht um ein grundsätzliches Beschneidungsverbot sondern nur um die Möglichkeit geht die Person selber entscheiden zu lassen) eingegangen wird. Stattdessen findet sich sehr viel darüber wie unheimlich gesund und medizinisch sinnvoll die Beschneidung sein soll, was möglicherweise stimmt (kann ich nicht beurteilen) aber an der Frage der Selbstbestimmung völlig vorbeigeht.

PS: Ich habe Lykurgs letzte Post erst lesen nachdem ich meine fertig gestellt hatte. Das Problem der großen Peinlich- und fehlenden Sinnhaftigkeit eines nur in einem Land (und dann auch noch ausgerechnet Deutschland) bestehenden sehe ich auch.
Ich denke wir können es auch für absolut sicher halten, dass die angekündigten gesetzlichen Regelungen ein nahezu uneingeschränktes Recht von Eltern vorsehen werden ihre Jungen aus religiösen Gründen beschneiden zu lassen. Einen ziemlich faden Beigeschmack hinterlässt aber bei mir die Weigerung der Medien auch die nicht religiöse Sichtweise ebenfalls außerhalb von Leserbriefen dazustellen.

Lykurg
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Sa 14. Jul 2012, 13:58 - Beitrag #28

Nicht jede Impfung, die Pockenimpfung aber z.B. schon. Aber ja, ich will den Eingriff ja auch nicht kleinreden und habe mich in den ersten Beiträgen deutlich dazu geäußert, was ich prinzipiell von Beschneidung halte. Und du hast völlig Recht damit, daß die ethische Seite der Selbstbestimmung auch medial dargestellt werden muß. Selbstzensur macht jedenfalls nichts besser, und um international glaubwürdig für Menschenrechte einzutreten, sollte man auch im eigenen Land deren Verwirklichung bedenken.

janw
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Sa 14. Jul 2012, 20:20 - Beitrag #29

Sieht man davon ab, daß manche Impfungen nur erfolgen, um das Gewese mit Kinderkrankheiten zu umgehen, unter Inkaufnahme gelegentlicher und nicht immer ganz harmloser Nebenwirkungen und einer geringeren allgemeinen Aktivierung des Immunsystems, und der letzten Impfaktionen gegen Pocken mit dem politischen Ziel, diese ein und für allemal auszurotten, dienen Impfungen dazu, teilweise schwerwiegende Erkrankungen zu verhindern. Von daher würde ich sie nicht gleichsetzen mit einem körperlichen Eingriff, bei dem einem Menschen ohne dessen Zustimmung dauerhaft ein Teil der sexuellen Empfindsamkeit genommen wird.

Die ungleichgewichtige Berichterstattung ist mir auch aufgefallen; allerdings sehe ich durchaus das Problem, daß der Schoß noch fruchtbar ist... und daß deutlich eher das Bankenwesen aus nationaler Ebene reguliert werden könnte, als diese Angelegenheit geregelt. Und wenn die Medien sich da schon zurückhalten...

Vielleicht leitet die Medien auch der Gedanke, daß es letztlich Sache der Religionsgemeinschaften sein muss, zu finden, ob und wie weit die Beschneidung erforderlich oder in wiefern verzichtbar ist, welche alternativen Ritualformen sich ggf. finden ließen - und daß diese Findung nur aus den Gemeinschaften heraus kommen kann, aus diesen heraus kommen muss, wenn es in diesen für wichtig erachtet wird, und nicht durch mediales Geschehen provoziert oder gesteuert werden kann.

Ipsissimus
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Mo 16. Jul 2012, 10:26 - Beitrag #30

ihr lasst den Einwand, dass die Riten einer Religion durch die Religionsfreiheit als allgemeinem Menschenrecht geschützt sind, nicht gelten?

Ich hatte in früheren Foren-Diskussionen durchaus nicht den Eindruck gewonnen, als würde Religionsfreiheit von der Mehrheit der Disputanten grundsätzlich hinterfragt werden^^ es kommt mir etwas merkwürdig vor, Religionsfreiheit inhaltlich nicht in Frage zu stellen, sie dann aber anhand einer mehr als fragwürdigen Problembehauptung - sorry, das Beschneiden der Vorhaut als Argument für eine Einschränkung der Religionsfreiheit ist überaus fragwürdig - en passant auszuhebeln.

Lykurg
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Mo 16. Jul 2012, 10:51 - Beitrag #31

Ich bin ja auch der Meinung, daß es aufgrund der Religionsfreiheit nicht anders geht, und insbesondere aus der deutschen Schuld heraus ein solcher Vorstoß nicht von hier kommen darf. Aber irgendwo muß in meinen Augen auch Religionsfreiheit ihre Grenzen haben - bei der Schulpflicht zB ist es ja auch sehr umstritten: Würden Eltern (oder auch von ihnen beauftragte Erzieher) ihre Kinder aufgrund der Vorstellungen irgendeiner Sekte dauerhaft in ein Kellerverlies sperren, würde das Gericht vermutlich einschreiten. Ebenso sicherlich gegen die Amputation einer Hand als Bestrafung für Diebstahl, obwohl durch Bibel und Koran legitimiert. Was darf man abschneiden, was nicht? Wie wichtig sind etwa Ohrläppchen?

Ich denke eher, daß man ein Umdenken herbeiführen sollte, wenn irgend möglich. Man sollte dabei natürlich etwas sensibler vorgehen, als diese Beispiele, auch wenn deren bruchlose Weiterführung historischer Bildtraditionen im jüdisch-christlichen Dialog immerhin eindrucksvoll ist... Bild
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Ipsissimus
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Mo 16. Jul 2012, 11:35 - Beitrag #32

apropos Ohrläppchen^^ Gefängnis für alle Ohrlochstecher, alle Piercer, alle Tätowierer? Die begehen alle Körperverletzung^^

Anaeyon
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Mo 16. Jul 2012, 11:36 - Beitrag #33

Steht Religionsfreiheit über dem Recht auf körperliche Unversehrheit? Sagt Religionsfreiheit nicht in erster Linie aus, dass man aufgrund seiner Religion nicht diskriminiert werden darf? Falls ja, ist es Diskriminierung, keine Körperverletzung ausüben zu dürfen?

Falls Religionsfreiheit ausdrücklich erlaubt, an Babys rumzuschneiden, sollte man sich evtl. Gedanken über eine Änderung daran machen. Grundsätzlich, nicht (nur) im Bezug auf das Thema Beschneidung

@Piercer und Co: Ich habe bisher noch keine tattowierten oder gepiercten Babys gesehen.

Ipsissimus
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Mo 16. Jul 2012, 11:40 - Beitrag #34

Soweit ich weiß, ist rechtlich Körperverletzung auch dann Körperverletzung, wenn sie mit dessen Einvernehmen an einem Erwachsenen durchgeführt wird.

Ana, wir haben dann also den Wertekonflikt um das höhere Gut. Aus der Sicht eines religiösen Juden ist die Beschneidung eindeutig ein höheres Gut, das die Körperverletzung rechtfertigt. Zwing ihn, das aufzugeben, und du zwingst ihn, seine Religion aufzugeben, wozu du als Außenstehender nicht das Recht hast.

Anaeyon
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Mo 16. Jul 2012, 11:50 - Beitrag #35

Nun, ich halte Emotionen für gewöhnlich nicht für ein Argument, deshalb betrachte ich hier auch Juden als "Religion XY, die gerne Sonderrechte hätte", getrennt von deutsch-jüdischer Geschichte. Somit ist es mir nicht möglich, in irgend einer Form Verständnis dafür zu haben, dass Kleinkindern/Babys eine religiöse Tradition aufgezwungen wird, für die sie sich nicht bewusst entscheiden können.

Religion ist etwas für Menschen, die sich diese bewusst ausgesucht haben. Babys können nicht religiös sein. Wenn ich erlaube, dass religiöse Menschen nichtreligiösen Menschen ihre fragwürdigen Traditionen aufdrängen, dann kann ich ihnen auch gleich einen "Du darfst Menschenrechte ignorieren"-Schein ausstellen.

Ich habe ja schon an anderen Stellen betont wie sehr es mich nervt, dass Juden Sonderstatus genießen, aber wenn wir sogar so weit gehen und ihnen Körperverletzung erlauben nur weil wir zu sehr Angst davor haben, ihre Gefühle zu verletzen, dann ist das eine perverse Form von Selbsthass. Irgendwann ist mal Schluss und auch wenn mir das Thema Beschneidung ansich egal ist und ich die Schäden für eher gering halte, so wüsste ich nicht, warum man nicht spätestens hier aufhören sollte mit den Sonderrechten.

Was wäre denn, wenn ich als Atheist plötzlich an meinem Baby rumschneide? Ohne medizinische Begründung, ohne ernsthafte Fachkenntnisse und steriles OP-Zimmer? Darf da bei mir anders entschieden werden, als bei denen? Wenn ja, wäre das Diskriminierung. Genau das, was wir doch verhindern wollen.

Und vielleicht stimmst du mir wenigstens da zu: In diesem Falle wäre ein allgemeines Verbot höchstwarscheinlich positiver zu bewerten als eine allgemeine Erlaubnis.

Malte279
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Mo 16. Jul 2012, 12:14 - Beitrag #36

Ana, wir haben dann also den Wertekonflikt um das höhere Gut. Aus der Sicht eines religiösen Juden ist die Beschneidung eindeutig ein höheres Gut, das die Körperverletzung rechtfertigt. Zwing ihn, das aufzugeben, und du zwingst ihn, seine Religion aufzugeben, wozu du als Außenstehender nicht das Recht hast.

Wobei nicht zu vergessen ist, dass es um die Ausübung der Religion an einer anderen Person handelt, die noch nicht in der Lage ist dem seine Zustimmung zu geben oder auch nicht. Ich halte dass gegebene Einverständnis im Falle eines Piercings oder Ohrendurchstechens für einen zu bedeutenden Unterschied als dam man ihn es mit einer Beschneidung ohne besagtes Einverständnis vergleichen könnte (würde einem kleinen Kind ohne dessen Einverständnis ein Piercing oder Ohrendurchstechen aufoktruiert läge die Sache anders).
Es kann nicht oft genug wiederholt und betont werden dass es nicht darum geht die Beschneidung an sich zu verbieten, sondern lediglich darum diese Entscheidung für andere zu treffen die noch nicht in der Lage sind sich dafür oder dagegen zu entscheiden.
Ich zweifle nicht einen Augenblick daran, dass die bevorstehenden gesetzlichen Regelungen dieses Recht den Eltern eindeutig zugestehen werden und unter dem Aspekt den möglichst geringsten Schaden anzurichten wird es wohl (wegen der Wahrung des sozialen Friedens und dem Risiko des des Ausweichens auf weniger hygienische Bedingungen unter denen die Beschneidungen dann wohl andernorts durchgeführt würden) die richtige Entscheidung sein. Nichtsdestotrotz halte ich es für sehr problematisch aus der Religionsfreiheit ein Recht abzuleiten es an anderen Personen als der eigenen auszuüben und dass in einer nicht mehr rückgängig zu machenden Art und Weise.
Am eigenen Körper auf Grund der eigenen Entscheidung sehe ich kein Problem an der Beschneidung und bin auch sehr skeptisch gegenüber den stammtischartigen Darstellungen denen zu folge alle Beschnittenen in Folge der Beschneidung vollkommen traumatisiert wären etc. Aber diese Entscheidung für andere zu treffen und dann mit dem Recht auf Religionsfreiheit zu begründen halte ich doch für sehr fragwürdig. Auch in Bezug auf Religionsfreiheit sollte dass Prinzip gelten, dass das Recht des Individuums die Faust zu schwingen dort endet wo die Nase (oder in diesem Fall die Vorhaut) eines anderen Individuums beginnt.
Auch dem Dogma dass die Beschneidung innerhalb der ersten Tage erfolgen müsse kann ich in sofern schwer folgen, als dass es ja demzufolge nicht mehr möglich wäre in einem höheren Alter zum Judentum zu konvertieren ohne einen Makel davon zu tragen der von dem späteren Zeitpunkt der Beschneidung herrühren würde. Nun ist das Judentum im Gegensatz zu vielen anderen Religionen nicht sehr missionarisch ausgerichtet (eine Tatsache die man ihm zu Gute halten kann), aber ich meine doch, dass ein späteres konvertieren zum Judentum möglich ist, oder? Ich würde mich freuen wenn jemand der sich hier besser auskennt als ich dies bestätigen oder korrigieren könnte.

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Mo 16. Jul 2012, 12:52 - Beitrag #37

"Nicht sehr missionarisch ausgerichtet" ist nett ausgedrückt, Malte279... Es gibt die Möglichkeit zur Konversion, allerdings muß man einen Rabbiner finden, den man von seinem festen Willen überzeugen kann (üblicherweise wird man erstmal abgelehnt) und muß Prüfungen über die genaue Kenntnis der Gesetze ablegen, außerdem ist natürlich die Beschneidung nötig (als Mann). Daß die prinzipiell auch im höheren Alter möglich ist, zeigt das Beispiel des Abraham, aber eben auch, daß es ein Frevel ist, sie nicht im Kleinkindalter vorzunehmen (vgl. Vers 10-14). Darum ja auch mein Vorschlag einer 'Markierung'.

Anaeyon, bei gepiercten Babies ist der Fall anders, weil die Güterabwägung nicht so schwierig ist, dazu gibt es auch zumindest auf Werbung bezogen ein Gerichtsurteil. Meinerseits dient der Verweis auf die deutsche Vergangenheit ja eben als ein Grund, über die Praxis in anderen Ländern nachzudenken. Warum sollte gerade Deutschland als erstes westliches Land ein Verbot einführen, das Juden gezielt an ihrer Religionspraxis hindert? Frankreich als Ursprungsland der Menschenrechte und des Säkularismus sieht da keine Notwendigkeit, die Niederlande, England und die USA sowieso nicht. Wenn da wirklich aus humanitären Gründen eine Notwendigkeit besteht, warum soll Deutschland sich den Ärger einhandeln, da als erstes Land zu agieren?

Andersherum überlegt kann aber auch ein Schuh daraus werden: Wenn die Notwendigkeit nicht besteht, was sagt das über Deutschland aus, daß gerade hier als erstes die Gerichte auf so eine Idee kommen? Meines Erachtens eine ziemlich spannende Frage. Das meinte ich mit der in meinem ersten Beitrag angesprochenen Unmöglichkeit, sich aus dem eigenen Denkschema weit genug zu lösen, um zu beurteilen, welche Faktoren da noch mit rumgeistern mögen. Das ist gerade kein Versuch, es emotional anzugehen - die Vorreiterrolle ist evident. Gerade wenn Deutschland so sein soll wie alle anderen, warum sollte es sich dann hier anders verhalten als die anderen Länder?

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Mo 16. Jul 2012, 13:00 - Beitrag #38

Malte, wir gewähren doch aber Eltern ganz grundsätzlich jede Menge Rechte hinsichtlich der Zurichtung ihrer Kinder. Auch christliche Eltern lassen ihre Babys taufen, ein zumindest nach Auffassung der katholischen Kirche irreversibler Vorgang. Diese im Christlichen implizite Irreversibilität wird im Jüdischen eben explizit vollzogen.

Ana, "Juden als "Religion XY, die gerne Sonderrechte hätte"" sehe ich nicht so ganz. Erstens waren diese "Sonderrechte" konstituierendes Element der Religion lange bevor es einen deutschen Staat, die Idee dieses Staates oder die Idee von Menschenrechten gab; zweitens wurden Juden aufgrund ihrer Religion in deutschen (und europäischen) Landen seit 1200 Jahren verfolgt, vernichtet und diffamiert, der Höhepunkt ist bekannt. Und da soll heute mit "Körperverletzung" als neuem Argument den Juden abermals ihre Religion strittig gemacht werden? Ehrlich gesagt, wenn das durchkommt, hätte ich für einen israelischen Atomwaffenangriff auf Deutschland vollstes Verständnis.

Anaeyon
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Mo 16. Jul 2012, 13:15 - Beitrag #39

Zitat von Ipsissimus:Ana, "Juden als "Religion XY, die gerne Sonderrechte hätte"" sehe ich nicht so ganz. Erstens waren diese "Sonderrechte" konstituierendes Element der Religion lange bevor es einen deutschen Staat, die Idee dieses Staates oder die Idee von Menschenrechten gab


Und seit wann stehen Religionen über dem Gesetz des Landes? (oder anders gefragt, da das ja leider manchmal der Fall ist: sollte es denn so sein?)

zweitens wurden Juden aufgrund ihrer Religion in deutschen (und europäischen) Landen seit 1200 Jahren verfolgt, vernichtet und diffamiert, der Höhepunkt ist bekannt. Und da soll heute mit "Körperverletzung" als neuem Argument den Juden abermals ihre Religion strittig gemacht werden?


Hier wird keine Religion strittig gemacht, es wird lediglich über Sinn und Unsinn von "Ein recht auf etwas haben" diskutiert. Ein Land und seine Gesetzgebung haben sich nicht von Religionen diktieren zu lassen, wie ihre Gerichte entscheiden.

Ehrlich gesagt, wenn das durchkommt, hätte ich für einen israelischen Atomwaffenangriff auf Deutschland vollstes Verständnis.

Ich hoffe, dass du dich für diesen Satz schämst.

@Lykurg:
Wenn da wirklich aus humanitären Gründen eine Notwendigkeit besteht, warum soll Deutschland sich den Ärger einhandeln, da als erstes Land zu agieren?

Warum sollten wir als erster was sinnvolles machen?

Lykurg
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Mo 16. Jul 2012, 13:29 - Beitrag #40

Es gäbe ein paar deutlich angemessenere Eskalationsstufen des diplomatischen Protests unterhalb eines Atomschlags. Immerhin wäre das aber eine interessante Fußnote zu Grass.^^

Anaeyon, die Betonung lag auf "als erstes Land". Darüber, daß es aus säkularer Sicht sinnvoll ist, sind wir uns einig, die Frage ist aber, ob es auch objektiv richtig ist. Und die möchte ich lieber von anderen verhandelt sehen, bzw. meine, daß es in jedem Fall der Sache schadet, es auf Biegen und Brechen hier durchsetzen zu wollen.

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