Zitat von Padreic:Kannst du das mit dem Hochverrat genauer erläutern?
Juristisch sicher etwas krude angewandt, aber dafür sind andere zuständig...
Hochverrat im klassischen Sinne bezieht sich auf ein das das Verhältnis des Staates nach außen in existentiellen Fragen beeinträchtigendes Handeln einzelner.
Wenn man in neoliberaler Manier die Qualität eines Staates als Wirtschaftsstandort zu den existentiellen Belangen eines Staates stellt, dann liegt hier eine erhebliche Beeinträchtigung dieses dann als existentiell anzusehenden Belanges vor, der Ruf des Standortes hat Schaden genommen, erheblichen. Nun, dieses neoliberale Gedankengut treibt mich in dieser Frage eher weniger um. Schon hier ergäbe sich aber ein Ansatzpunkt.
Das Binnenverhältnis des Staates ist mindestens genauso bedeutend wie das Außenverhältnis, und das förderliche Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern, und damit meine ich zu allen im Staatsgebiet lebenden Menschen für einer der zentralen existentiellen Belange eines Staates.
Man kann sicher fragen, wie weit ein Sozialstaat gehen muss, wo die Verantwortung des Einzelnen anfangen muss, aber man kommt nicht daran vorbei, daß ein Staat den in seinem Gebiet lebenden Menschen ein Mindestmaß an Lebensmöglichkeiten geben muss - ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Schutz vor Gewalt, Rechtssicherheit und die Möglichkeit, sich gegen staatliche Gewaltmaßnahmen rechtlich zur Wehr zu setzen.
Bildung und Chancen, Arbeit zu finden, zähle ich desweiteren dazu.
In diesen Bereichen sind in den banlieues langjährige Defizite zu verzeichnen, wer dort eine Adresse besitzt, fällt praktisch automatisch bei Bewerbungen raus. Die Polizei ist dort drastisch abgebaut worden, ebenso andere öffentliche Einrichtungen. Öffentlicher Nahverkehr existiert teilweise nicht mehr.
Jetzt sattle ich noch einen drauf. Ich sehe den Staat auch in der Pflicht, die in seinem Hoheitsbereich lebenden Menschen vor Diskriminierung zu schützen und sie auch vor der Öffentlichkeit als Menschen zu behandeln.
Alle diese Verpflichtungen betreffen den Staat als Ganzes, seine Organe und handelnden Personen. Besonders aber die für das Binnenverhältnis verantwortlichen Politiker, den Innenminister voran.
Und hier hat Sarkozy in meinen Augen eben jenes Verbrechen begangen - Hochverrat - indem er die Entwicklung in den banlieues zu verantworten und nichts unternommen hat - UND jetzt die dort lebenden Menschen pauschal kriminalisiert und verbal ent-menscht hat, indem er sie als "Abschaum", "Unrat" bezeichnet hat, der mit Hochdruckreinigern zu beseitigen sei.
Und das mit dem Ziel, Wählerstimmen zu bekommen. Das ist ultimativer Verrat an den betroffenen Menschen.
Und weil er diese Formulierungen wiederholt, jedenfalls in keiner Weise abgeschwächt hat, als der Schaden offenbar wurde, unterstelle ich ihm Vorsatz.
Die Person Sarkozy hat das förderliche Binnenverhältnis des Staates zu den in seinem Hoheitsbereich lebenden Menschen in existentiellen Fragen schwerwiegend beschädigt.
Die Person Sarkozy hat damit IMHO alle bürgerlichen Rechte verwirkt, er gehört sofort angeklagt und in meinen Augen zu einer langjährigen Strafe verurteilt.
Zitat von janw:
Wobei ich aber entsetzt bin, wie sich der Protest gegen die eigenen Menschen richtet, das darf es so nicht geben. Hoffentlich bekommen die Leute in den Stadtvierteln das selbst in Griff, ohne Polizei.
Wie stellst du dir das genau vor? Leuten gut zureden, die einen gerade zu Tode prügeln?
Nein, hier sind die Bürger selbst gefragt, Bürgerwehren zu bilden, die Leuten, die zu weit gehen und Trittbrettfahrern Einhalt gebieten.
Was ja auch schon passiert.
Zitat von Padreic:Allgemein finde ich es schwer, Leute, die Kindergärten anzünden und anderen Menschen (oder bisher zumindest einen) zu Tode prügeln als Kämpfer für eine gute Sache anzusehen. Dass ich Gründe für ihre Handlungen sehe (Jugendarbeitslosigkeit, Vernachlässigung durch den Staat etc.) heißt nicht, dass ich ihre Taten gutheißen kann.
Es ist sehr schade, dass dies der Weg zu sein scheint, Veränderungen zu erzielen. Aber trotzdem sollten diese, die jetzt diese Unruhen betreiben, sehen, dass es auch Menschen sind, denen sie da Schaden zufügen, ob sie nun Autos anzünden, Busse kapern oder auf Polizisten schießen. Ich will durchaus zugestehen, dass man die Politik, die solche Zustände erst ermöglicht, als verbrecherisch sehen kann, aber das heißt nicht, dass es die Randalierer nicht auch sind.
Bei all den moralischen Erörterungen bleibt die Frage, was nun aktuell zu tun ist. Besseres Schulwesen [bzw. dafür zu sorgen, dass die Kinder überhaupt die Schule besuchen], besseres Jobangebot [woher nehmen, wenn nicht stehlen...] etc. pp. schön und gut, doch dies alles geht nicht von heut auf morgen und das bloße Versprechen derselben wird die Unruhen nicht mir nichts dir nichts aufhalten können.
Ich bin dabei durchaus der Meinung, dass das Gewaltmonopol beim Staate liegen sollte und er auch das Recht hat dies zu zeigen. Will heißen: er soll sich bemühen, die Ordnung wieder herzustellen, auch mit Ausganssperren, Gewalt und dergleichen, wenn es Not tut. Und dann die Zustände verbessern, sodass das nie wieder vorkommen muss.
Keine Frage, wer Schulen und Kindergärten anzündet, muss dafür bestraft werden, auch wer anderer Leute Autos anzündet.
Nur, man muss verstehen, warum die Menschen das tun:
Weil sie in der Mehrheit keine andere Möglichkeit mehr sehen, ihrer miserablen und wesentlich nicht selbstverschuldeten Lage Ausdruck zu verleihen.
(Daß dann noch Trittbrettfahrer aufgesprungen sind, keine Frage...)
Wenn der Staat die örtlichen Polizeidienststellen abgebaut hat, wo die Polizisten ihre Pappenheimer kannten und wußten wo die Schuhe drücken, braucht man sich nicht wundern, wenn irgendwelche Banden sich ausbreiten.
Wenn das Busnetz zusammengestrichen wird, können nur noch die Leute ihre Arbeitsstellen erreichen, die selber ein Auto besitzen.
Wenn eine Adresse in den banlieues automatisch zum Aussortieren bei Bewerbungen führt, haben die jungen Menschen dort keine Chance, es zu etwas zu bringen.
Nein, die Lage haben die Leute sich nicht überwiegend selbst geschaffen.
Wenn jetzt plötzlich Lohnzuschüsse und dergl. aus dem Hut gezaubert werden - warum nicht vorher?
Es gibt Stadteilentwicklungspläne von 2003 und früher - Paris glänzte lieber mit moderner Architektur am Louvre, als diese umzusetzen.
Die Ausgangsperre sehe ich eher mit gemischten Gefühlen. Sicher muss die Gewalt aufhören, aber es kann nicht darum gehen, den gerechtfertigten Protest abzuwürgen. Und diese Gefahr sehe ich extrem.
@FAZ-Artikel:
Den Hinweis verdanke ich Aydee
Lykurg, wieder mal richtig interpretiert
"Wenn eine Gesellschaft, die so hochindustrialisiert ist wie die hiesige, keine andere Form des Gesellschaftszusammenhangs erfinden kann als die Lohnarbeit, muß sie mit solchen Zyklen leben."
Das ist eine treffende Beschreibung des aktuellen Zustands - ohne Arbeit bist Du Nichts.
"Erst wenn der letzte Mülleimer abgefackelt ist, wird die Volkswirtschaftslehre begreifen, daß man überzählige Lohndrücker nicht wegschmeißen kann."
Beißender kann man es nicht ausdrücken. Wobei, eigentlich werden die Lohnempfänger weggeschmissen...
Lykurg, man muss seinen Feind kennen *g*
Ich kenne die FAZ eher als Sachwalter eines kultivierten Konservativismus, das Adjektiv adelt sie dabei. Aber für ihren Konservativismus finde ich den Artikel schon recht provokativ. Weiß nicht, ob das allen klugen Köpfen mundet




