Unruhen in Frankreich

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
janw
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Do 10. Nov 2005, 15:22 - Beitrag #41

Na dann werd ich mal meinen fähigen Pressesprecher etwas entlasten *g*

Zitat von Padreic:Kannst du das mit dem Hochverrat genauer erläutern?

Juristisch sicher etwas krude angewandt, aber dafür sind andere zuständig...
Hochverrat im klassischen Sinne bezieht sich auf ein das das Verhältnis des Staates nach außen in existentiellen Fragen beeinträchtigendes Handeln einzelner.
Wenn man in neoliberaler Manier die Qualität eines Staates als Wirtschaftsstandort zu den existentiellen Belangen eines Staates stellt, dann liegt hier eine erhebliche Beeinträchtigung dieses dann als existentiell anzusehenden Belanges vor, der Ruf des Standortes hat Schaden genommen, erheblichen. Nun, dieses neoliberale Gedankengut treibt mich in dieser Frage eher weniger um. Schon hier ergäbe sich aber ein Ansatzpunkt.

Das Binnenverhältnis des Staates ist mindestens genauso bedeutend wie das Außenverhältnis, und das förderliche Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern, und damit meine ich zu allen im Staatsgebiet lebenden Menschen für einer der zentralen existentiellen Belange eines Staates.

Man kann sicher fragen, wie weit ein Sozialstaat gehen muss, wo die Verantwortung des Einzelnen anfangen muss, aber man kommt nicht daran vorbei, daß ein Staat den in seinem Gebiet lebenden Menschen ein Mindestmaß an Lebensmöglichkeiten geben muss - ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Schutz vor Gewalt, Rechtssicherheit und die Möglichkeit, sich gegen staatliche Gewaltmaßnahmen rechtlich zur Wehr zu setzen.
Bildung und Chancen, Arbeit zu finden, zähle ich desweiteren dazu.
In diesen Bereichen sind in den banlieues langjährige Defizite zu verzeichnen, wer dort eine Adresse besitzt, fällt praktisch automatisch bei Bewerbungen raus. Die Polizei ist dort drastisch abgebaut worden, ebenso andere öffentliche Einrichtungen. Öffentlicher Nahverkehr existiert teilweise nicht mehr.
Jetzt sattle ich noch einen drauf. Ich sehe den Staat auch in der Pflicht, die in seinem Hoheitsbereich lebenden Menschen vor Diskriminierung zu schützen und sie auch vor der Öffentlichkeit als Menschen zu behandeln.

Alle diese Verpflichtungen betreffen den Staat als Ganzes, seine Organe und handelnden Personen. Besonders aber die für das Binnenverhältnis verantwortlichen Politiker, den Innenminister voran.
Und hier hat Sarkozy in meinen Augen eben jenes Verbrechen begangen - Hochverrat - indem er die Entwicklung in den banlieues zu verantworten und nichts unternommen hat - UND jetzt die dort lebenden Menschen pauschal kriminalisiert und verbal ent-menscht hat, indem er sie als "Abschaum", "Unrat" bezeichnet hat, der mit Hochdruckreinigern zu beseitigen sei.
Und das mit dem Ziel, Wählerstimmen zu bekommen. Das ist ultimativer Verrat an den betroffenen Menschen.
Und weil er diese Formulierungen wiederholt, jedenfalls in keiner Weise abgeschwächt hat, als der Schaden offenbar wurde, unterstelle ich ihm Vorsatz.

Die Person Sarkozy hat das förderliche Binnenverhältnis des Staates zu den in seinem Hoheitsbereich lebenden Menschen in existentiellen Fragen schwerwiegend beschädigt.
Die Person Sarkozy hat damit IMHO alle bürgerlichen Rechte verwirkt, er gehört sofort angeklagt und in meinen Augen zu einer langjährigen Strafe verurteilt.

Zitat von janw:
Wobei ich aber entsetzt bin, wie sich der Protest gegen die eigenen Menschen richtet, das darf es so nicht geben. Hoffentlich bekommen die Leute in den Stadtvierteln das selbst in Griff, ohne Polizei.

Wie stellst du dir das genau vor? Leuten gut zureden, die einen gerade zu Tode prügeln?

Nein, hier sind die Bürger selbst gefragt, Bürgerwehren zu bilden, die Leuten, die zu weit gehen und Trittbrettfahrern Einhalt gebieten.
Was ja auch schon passiert.

Zitat von Padreic:Allgemein finde ich es schwer, Leute, die Kindergärten anzünden und anderen Menschen (oder bisher zumindest einen) zu Tode prügeln als Kämpfer für eine gute Sache anzusehen. Dass ich Gründe für ihre Handlungen sehe (Jugendarbeitslosigkeit, Vernachlässigung durch den Staat etc.) heißt nicht, dass ich ihre Taten gutheißen kann.
Es ist sehr schade, dass dies der Weg zu sein scheint, Veränderungen zu erzielen. Aber trotzdem sollten diese, die jetzt diese Unruhen betreiben, sehen, dass es auch Menschen sind, denen sie da Schaden zufügen, ob sie nun Autos anzünden, Busse kapern oder auf Polizisten schießen. Ich will durchaus zugestehen, dass man die Politik, die solche Zustände erst ermöglicht, als verbrecherisch sehen kann, aber das heißt nicht, dass es die Randalierer nicht auch sind.

Bei all den moralischen Erörterungen bleibt die Frage, was nun aktuell zu tun ist. Besseres Schulwesen [bzw. dafür zu sorgen, dass die Kinder überhaupt die Schule besuchen], besseres Jobangebot [woher nehmen, wenn nicht stehlen...] etc. pp. schön und gut, doch dies alles geht nicht von heut auf morgen und das bloße Versprechen derselben wird die Unruhen nicht mir nichts dir nichts aufhalten können.
Ich bin dabei durchaus der Meinung, dass das Gewaltmonopol beim Staate liegen sollte und er auch das Recht hat dies zu zeigen. Will heißen: er soll sich bemühen, die Ordnung wieder herzustellen, auch mit Ausganssperren, Gewalt und dergleichen, wenn es Not tut. Und dann die Zustände verbessern, sodass das nie wieder vorkommen muss.

Keine Frage, wer Schulen und Kindergärten anzündet, muss dafür bestraft werden, auch wer anderer Leute Autos anzündet.
Nur, man muss verstehen, warum die Menschen das tun:
Weil sie in der Mehrheit keine andere Möglichkeit mehr sehen, ihrer miserablen und wesentlich nicht selbstverschuldeten Lage Ausdruck zu verleihen.
(Daß dann noch Trittbrettfahrer aufgesprungen sind, keine Frage...)

Wenn der Staat die örtlichen Polizeidienststellen abgebaut hat, wo die Polizisten ihre Pappenheimer kannten und wußten wo die Schuhe drücken, braucht man sich nicht wundern, wenn irgendwelche Banden sich ausbreiten.
Wenn das Busnetz zusammengestrichen wird, können nur noch die Leute ihre Arbeitsstellen erreichen, die selber ein Auto besitzen.
Wenn eine Adresse in den banlieues automatisch zum Aussortieren bei Bewerbungen führt, haben die jungen Menschen dort keine Chance, es zu etwas zu bringen.
Nein, die Lage haben die Leute sich nicht überwiegend selbst geschaffen.
Wenn jetzt plötzlich Lohnzuschüsse und dergl. aus dem Hut gezaubert werden - warum nicht vorher?
Es gibt Stadteilentwicklungspläne von 2003 und früher - Paris glänzte lieber mit moderner Architektur am Louvre, als diese umzusetzen.

Die Ausgangsperre sehe ich eher mit gemischten Gefühlen. Sicher muss die Gewalt aufhören, aber es kann nicht darum gehen, den gerechtfertigten Protest abzuwürgen. Und diese Gefahr sehe ich extrem.

@FAZ-Artikel:
Den Hinweis verdanke ich Aydee :)

Lykurg, wieder mal richtig interpretiert :)
"Wenn eine Gesellschaft, die so hochindustrialisiert ist wie die hiesige, keine andere Form des Gesellschaftszusammenhangs erfinden kann als die Lohnarbeit, muß sie mit solchen Zyklen leben."
Das ist eine treffende Beschreibung des aktuellen Zustands - ohne Arbeit bist Du Nichts.
"Erst wenn der letzte Mülleimer abgefackelt ist, wird die Volkswirtschaftslehre begreifen, daß man überzählige Lohndrücker nicht wegschmeißen kann."
Beißender kann man es nicht ausdrücken. Wobei, eigentlich werden die Lohnempfänger weggeschmissen...

Lykurg, man muss seinen Feind kennen *g*
Ich kenne die FAZ eher als Sachwalter eines kultivierten Konservativismus, das Adjektiv adelt sie dabei. Aber für ihren Konservativismus finde ich den Artikel schon recht provokativ. Weiß nicht, ob das allen klugen Köpfen mundet ;)

Ipsissimus
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Fr 11. Nov 2005, 16:52 - Beitrag #42

folgenden Text habe ich bei telepolis gefunden


"Was bleibt, ist das Recht der Kalaschnikow!"

Rüdiger Suchsland 11.11.2005

André Glucksmann über die Unruhen in den französischen Vorstädten und die Allgegenwart des Hasses

Der französische Philosoph André Glucksmann (geboren 1937) gehört in seiner Heimat zu den bekanntesten, aber auch widerständigsten lebenden Intellektuellen. Mit seinen Thesen, die vor allem der antitotalitäre Impuls und die Geste des Gegen-den-Strom-Schwimmens eint, gelingt es ihm seit Jahren immer wieder, vor allem den liberalen Mainstream zu provozieren und die Einverständnisse der "Political Correctness" in Frage zu stellen.



In den 70er Jahren entlarvte er als einer der Nouveaux Philosophes "Die Meisterdenker", in den 80er Jahren verteidigte er die atomare Abschreckung ("La force du vertige"), zuletzt kritisierte er vehement die europäische Politik gegenüber Jugoslawien, Russland und dem Nahen Osten ("Dostojewski in Manhattan"). Glucksmann gehört auch zu den Verteidigern des Irak-Krieges. In seinem neuen Buch "Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt" liefert Glucksmann eine Geschichte der Manifestationen des Hasses und eine sehr genaue Phänomenologie seiner Eskalation.



Ihr neues Buch scheint perfekt jene Phänomene auf den Begriff zu bringen, die wir gerade in Frankreich erleben. Fällt auch dies unter Ihre Kategorie des "Hasses"?

André Glucksmann: Unbedingt. Die Revoltierenden in Frankreich stilisieren sich als Opfer. Unsere Soziologen liefern ihnen dafür auch wunderbare Rechtfertigungsgründe. Aber es bleibt trotzdem unwahr. Viele von ihnen kommen aus den Maghreb-Staaten. Wenn sie einmal ihre Verwandten in Algerien besuchen und denen erzählen, wie furchtbar schlecht es ihnen in Frankreich geht, dann bekommen sie aber was zu hören! Die sagen ihnen nämlich ganz schnell: Wir können ja tauschen. Darauf lassen sie sich natürlich nicht ein. Aber sie beharren trotzdem darauf, sie seien die ärmsten Menschen der Erde. Der römische Philosoph Seneca, ein großer Kenner des Hasses, schließlich war er am Hofe Kaiser Neros, nennt das "Dolor", das Selbstmitleid - eine Form von Narzissmus, der sich selbst noch Salz auf die eigenen Wunden gießt. Es handelt sich natürlich in diesem Fall nicht um etwas Objektives. Es gibt natürlich objektive Ursachen, aber der Dolor macht alles noch schlimmer. Dies ist das erste Stadium des Hasses.

Das zweite Stadium ist der "Furor": Weil ich der Ärmste der Welt bin, habe ich nichts mehr zu verlieren, also kann ich alles in Brand stecken, zu allererst den Anderen. Der Selbsthass verwandelt sich in Hass auf den Anderen. Dies ist nicht das Gleiche wie Feindseligkeit: Feindschaft gibt es immer. Aber auch den Feind achtet man. Da geht es um den Willen zur Macht, um Kolonialismus, um Rassismus. Man hat auch immer schon viele Wagen in Brand gesteckt. Das ist nichts Neues. Im vorigen Jahr sind in Frankreich 28.000 Autos angezündet worden! Das Neue ist, dass man nun auch Busse anzündet, in denen Menschen sitzen. Es gab ja schon ein paar Scherverletzte. Viele konnten sich nur in letzter Sekunde retten. Dieser Wille zum Mord ist neu.

Das dritte Studium des Hasses verkörpert Brünhilde in Wagners Götterdämmerung: der Weltenbrand, die Lust an der selbst herbeigeführten Katastrophe. Wagner hat dazu wunderbare Musik geschrieben. Aber ihm fehlen die Worte. Das hat der Komponist Karl-Heinz Stockhausen auch so gesehen, als er den Anschlag auf das "World Trade Center" als "Gesamtkunstwerk" bezeichnete. So sehen das auch die Jungen in den Banlieues. Sie spielen. Sie freuen sich. Sie fabrizieren jeden Abend ein Gesamtkunstwerk. Und sagen: "Hier ist Bagdad". Das ist Terrorismus, Nihilismus gegen Zivilisten. Sie finden das schön, ästhetisch und veranstalten einen regelrechten Wettbewerb: Wer hat mehr in Brand gesteckt?

Und sie zünden Fabriken an, die ihnen doch Arbeit - zumindest ein bisschen - geben könnten, Bibliotheken und Schulen, in denen sie sich fortbilden könnten, Kindergärten - es ist völlig destruktiv! Das ist das dritte Stadium, das Seneca beschreibt - und er ist nicht der Innenminister von Frankreich. Er wusste, wovon er redet. Rom in Brand zu stecken, das ist auch Hass. Es gibt 60 Prozent, die Arbeit haben. Es ist schwer, welche zu bekommen, ganz klar. Aber es ist keine Fatalität.

Frankreich ist das Zentrum des Nihilismus

Sie beschreiben den Sieg des Irrationalen: das Ende des Diskurses. Der Hass verzichtet auf einen Diskurs....

André Glucksmann: Ich möchte nicht sagen, dass das irrational ist. Der Hass hat auf seine Art eine Rationalität. Ich möchte auch nicht sagen, das sei völlig ohne Diskurs. Medea in Senecas Stück vollzieht einen Diskurs. Alle drei Stufen: der Selbsthass, der Hass auf Andere und die Lust am Weltenbrand, der Hass als Fest - das ist eine Art Diskurs. Sie finden diese drei Stufen auch in den "drei Verwandlungen" in Nietzsches "Zarathustra". Nietzsche sagt, der Nihilist sei dreierlei: Ein Kamel, das alles Böse der Welt auf seinem Rücken trägt - der Selbsthass-, zweitens ein Löwe, der das ganze Tierreich frisst - der Hass auf Andere -, drittens ist er ein unschuldiges Kind, das spielt und ein Fest der Zerstörung feiert.

Sind die Unruhen etwas speziell Französisches oder könnte das auch in anderen Ländern des Westens passieren?

André Glucksmann: In Europa kann es schon auch woanders passieren. Oder schauen Sie nach New Orleans. Aber was jetzt in Frankreich geschieht, ist schon etwas spezifisch Französisches. Frankreich ist das Zentrum des Nihilismus. Schauen Sie nur auf unseren Präsidenten, er ist genauso destruktiv. Chirac sagt immer nur Nein. Er sagt Nein zu Europa, indem er sich gegenüber den Osteuropäern schlecht benimmt. Er sagt Nein zu den Amerikanern, indem er behauptet, Putin sei ein besserer Mensch als Bush - dabei ähnelt Putin eher Bin Laden, wenn man sich seine Tschetschenien-Politik vor Augen führt. Schließlich feiert Chirac den Egoismus, indem er für den Wohlstand von zwei Prozent französischer Bauern ganz Afrika dem Hungertod überlässt. So ist er eigentlich: Er ist kein Mann des Hasses, denn um Autos anzuzünden, ist er zu zivilisiert, aber er ist ein Nihilist.

In diesem Sinne glaube ich, dass die Jungen in den Banlieues ganz integriert sind. Allerdings muss man sich fragen: in welches Frankreich? Sie sind integriert in den Hauptsitz des europäischen Nihilismus. In Frankreich sagt man Nein. Dann fühlt man sich stark. Und was machen die Jungen in der Banlieue? Sie sagen nicht nur Nein, sie leben es.

Was ist nun die Lektion aus den Ereignissen in den Banlieues? Die Revoltierenden lernen ja: Das Konzept des Nein ist ein erfolgreiches Konzept. Jetzt reden alle über die Menschen in den Banlieues. Jetzt bekommen sie Aufmerksamkeit, Anerkennung...

André Glucksmann: Ja genau - leider ist das so. Als Chirac Nein gesagt hat, war er der König von Europa. Frankreich ist systematisch nihilistisch. Die Buben machen das nach, was ihnen Chirac vormacht.

Was ist es, das diesen Hass hervorbringt?

André Glucksmann: Es gibt ihn in allen Gesellschaften, nicht nur in unserer. Der Hass hat seine Wurzeln nicht in der Gesellschaft, sondern in der menschlichen Natur. Es gibt kein "Warum?" Die Erklärung für den Hass ist der Hass. Als Primo Levi in Auschwitz einen Nazi fassungslos fragte, warum das alles passiere, antwortete der: "Hier gibt es kein Warum." Kant spricht davon, dass es das Böse von Anfang an gibt. Man muss deshalb kein Skeptiker und kein Pessimist sein. Denn wenn der Hass von Beginn an existiert, gibt es doch auch sein Gegenteil. Jede Zivilisation sagt in der einen oder anderen Art und Weise: "Du sollst nicht töten!" Man soll seinen Hass zügeln.

Wir nehmen das Böse nicht ins Visier

Wenn der Hass zur Natur des Menschen gehört - müsste ihn dann nicht seine Kultur eindämmen und zivilisieren? Warum kommt er jetzt? Versagt die Zivilisation?

André Glucksmann: Nein, es ist nichts fasch an der Zivilisation. Natürlich gibt es viel, das besser sein könnte. Aber was uns eigentlich fehlt, ist die Fähigkeit, den Hass zu erkennen. Unsere Wahrnehmung versagt. Wir nehmen das Böse nicht ins Visier. Schon Voltaire greift im "Candide" einen solchen falschen Optimismus an. Aber auch heute gibt es viele, die glauben, die Welt würde immer besser und besser. Der US-Regierungsberater Francis Fukuyma sprach nach dem Fall der Mauer 1989 sogar vom "Ende der Geschichte" als dem Ende aller Gefahren. Nach dem Fall der Mauer haben das sehr viele geglaubt. Aber das war völlig falsch. Fünf Jahre später erlebten wir den dritten Genozid des Jahrhunderts: Nach dem an den Armeniern und dem an den Juden waren nun die Tutsi dran. 10.000 Menschen pro Tag wurden hingeschlachtet. Jeder wusste das! Es gab genug Fernsehkameras, die UNO, die Großmächte und die Journalisten wussten es - aber niemand hat etwas getan, um den Völkermord zu stoppen. Und so war zu erkennen, dass das "Ende der Geschichte" nur eine große Lüge war.

Seitdem haben die Amerikaner ihre Politik ein wenig korrigiert - wegen der Ereignisse des 11.September. Aber die Europäer machen so weiter wie zuvor, trotz der Anschläge von Madrid. Und auch jetzt in Frankreich beeilt man sich zu erklären: Nein, das ist nichts Schlimmes, nur ein Reflex auf Probleme der Einwanderung, auf fehlende Integration. Nein! Es gibt Hass, es gibt das Böse.

Aber warum kommt er jetzt so deutlich zum Vorschein?

André Glucksmann: Weil die großen Ideologien den Hass nicht mehr ummänteln. Den Hass gab es auch zuvor bei den Faschisten, bei den Kommunisten, auch bei den Islamisten. Wir in Westeuropa staunen nur, weil wir das vergessen haben. Der "Kalte Krieg" ist eine Erfindung Westeuropas. Für niemand anderen war dieser Krieg kalt. Es gab niemals in der Menschheitsgeschichte so viele Revolutionen, Konterrevolutionen, Bürgerkriege, Staatsstreiche und Konzentrationslager - in China, Russland und so weiter. Es gab auch noch nie so viel Kriege gegen die Zivilbevölkerung. Die UNICEF hat eine Untersuchung veröffentlicht, nach der der prozentuale Anteil er Zivilbevölkerung an den Kriegsopfern ständig zunimmt. Inzwischen sind 80 Prozent der Toten Zivilisten.

In diesem sehr heißen Krieg der letzten Jahrzehnte sind fast alle Maßstäbe der Zivilisation zerbrochen. In der Dritten Welt sind Demokratie und Rechtsstaat nicht wirklich an die Macht gekommen. Vielmehr ist ein Zwischenzustand erreicht worden: Die alten Erziehungsgrundsätze und Traditionen gelten nicht mehr, die modernen gelten noch nicht. Schauen Sie nur nach Tschetschenien oder Afrika oder Bagdad - da erlebt man das jeden Tag: Was bleibt, ist das Recht der Kalaschnikow. Und zwar in der ganzen Welt. So darf man nicht überrascht sein, dass der Hass so unverstellt und grenzenlos auftritt.

Wie können wir damit umgehen? Was müsste man anders machen?

André Glucksmann: Erstens müssen wir erkennen und annehmen, dass die, die hassen, dass die Jungen in den Vorstädten ein brutaler Spiegel unserer eigenen Gesellschaft sind, keine traurige oder furchtbare Ausnahme. Viele Menschen benehmen sich ähnlich. Zweitens muss man schlicht und einfach sein Benehmen ändern. Und wir sollten nicht wegschauen.

Aber auch der Arzt weiß nicht, was die perfekte Gesundheit ist. Und wenn er das wüsste, wäre er kein Arzt mehr, sondern ein Prophet. Aber er versteht doch etwas von der Krankheit. Die Gesundheit ist auch kein Paradies. Sie ist eher der Nullpunkt der Krankheit. Das gilt auch im Politischen. Es gibt in der Politik kein Paradies. Aber es gibt die Hölle.

Gibt es so etwas wie Trost?

André Glucksmann: Ich lese am liebsten die Romane von Thomas Mann, Hermann Broch und Robert Musil. Alle drei lassen mich etwas verstehen, was ich nicht erlebt habe. Sie schildern etwas Grundsätzliches, das mich mehr interessiert als individuelle Geschichten. Aber als Philosoph muss und will ich mich engagieren. Ich will, wenn ich sterbe, keine Schuld auf meinem Buckel tragen. Ich will von Tatsachen erzählen, gegen das Böse ankämpfen. Das ist das Entscheidende: Warum schreibt man? Das ist meine Frage.



ich finde, Glucksmann ist verräterisch. Abgesehen davon, daß seine Darstellung an Menschenverachtung kaum zu überbieten ist, wird darin doch etwas deutlich: der unbedingte Wille einer abgehobenen Betrachtungsweise, die Menschen der Banlieus unter gar keinen Umständen ernst zu nehmen, solange sie mit Gewalt be"friedet" werden können. Es steht zu vermuten, daß diese Sicht der Dinge in analogen Fällen den Innenministern der ganzen Welt zu eigen ist. Wenn ich an diese Albernheit denke, "man sollte schlicht und einfach sein Benehmen ändern". Reicher, wohlgesättigter Bauch, der sich für einen Denker hält.

janw
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Fr 11. Nov 2005, 18:28 - Beitrag #43

Er wirft etwas Licht auf die irrationalen Aspekte im menschlichen Handeln, gerade der "Masse Mensch", ignoriert aber die faktischen Grundlagen und übersieht wesentliche Konsequenzen seiner Argumentation.

Es gibt den Hass aufgrund der selbst empfundenen lang anhaltenden miserablen Lage, Bezugsrahmen für diese Selbstempfindung ist natürlich nicht der Maghreb, sondern Frankreich - was sonst kann man auch erwarten von den Kindern der Einwanderer, jenen, die nie einen Fuß außerhalb Europas setzten?
Hass auf "die anderen", die da oben, auch auf die, die es ein Stück weit geschafft haben.
Und dieser Hass entlädt sich, wenn er sich entlädt, natürlich nicht geordnet, gezielt auf bestimmte Objekte, dabei Privatfahrzeuge, Schulen, Kindergärten schonend, anderes wäre auch verwunderlich gewesen.

Man kann das Irrationale Element dieses Hasses betonen, wie Glucksman das tut, jenen Teil, der auf der Individualität der Empfindung der Menschen basiert.
Dies aber alleine zu tun, heißt, die tatsächlichen faktischen Grundlagen, das objektive Element in der Wahrnehmung der Menschen auszublenden oder durch irrelevante Vergleiche (daß es den Menschen im Maghreb noch schlechter geht, hilft keinem der Menschen in den banlieues) zu verschleiern.
Heißt vor allem auch, das effektive Falschhandeln der Politik, ja ihr menschenverachtendes Bild von den Menschen zu ignorieren.
Glucksman macht sich die Worte Sarkozys zu eigen, so scheint es.
Er tritt die Menschen verbal mit Füßen.

Wenn Glucksman die Irrationalität an den Protesten betont, muß er sich allerdings auch fragen lassen, ob diese Unruhen nicht aus der allgemeinen Kenntnis gruppendynamischer Prozesse absehbar waren.
Gleichfalls jene Politiker, die jetzt die Irrationalität der Zerstörungen beklagen:
Es ist hinlänglich bekannt, wie sich Unzufriedenheit in Bevölkerungen entwickelt, welchen Stellenwert irrationale Prozesse dabei besitzen. Die soziale Struktur der banlieues und damit die Multiplikatibilität von Ideen und Gedanken ist bekannt, und so war absehbar, daß sich irgendwann der Hass Bahn brechen, sich dabei gegen alles Zerstörbare richten würde.
Dies nicht erkannt zu haben, und daraufhin, wenn schon nicht im Geiste für die Menschen, dann doch im Sinne der Erhaltung eines steady state, frühzeitig gegengesteuert und deeskalierend gewirkt zu haben, ist ein weiterer schwerwiegender Fehler der Politik, besonders des zuständigen Innenministers Sarkozy.

Ein Fehler indes, an dessen Versehentlichkeit ich nicht glauben kann. Der Machtwille des Menschen ist zutiefst irrational, und dem Machterhalt zuliebe wurden schon öfter Unzufriedenheiten der Bürger geschürt, Aufstände provoziert und Gruppen gegen andere aufgewiegelt.

Ein Narr, der diesmal...

Padreic
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Fr 11. Nov 2005, 21:41 - Beitrag #44

@Ipsissimus:
Wenn ich an diese Albernheit denke, "man sollte schlicht und einfach sein Benehmen ändern".

Sagt dies Glucksmann irgendwo? Die 'objektiven Ursachen', wie er es nennt, erwähnt er sicherlich nur am Rande, aber man muss daran denken, dass diese in allen Zeitungen diskutiert werden. Wenn er gerne provoziert, wie in der Einleitung geschrieben wurde, wird er sicherlich den kontroversen Punkt ganz fett herausstreichen, während er die andere Hälfte, die er womöglich auch sieht, nur im Nebensatz anreißt.

Abgesehen davon, daß seine Darstellung an Menschenverachtung kaum zu überbieten ist, wird darin doch etwas deutlich: der unbedingte Wille einer abgehobenen Betrachtungsweise, die Menschen der Banlieus unter gar keinen Umständen ernst zu nehmen, solange sie mit Gewalt be"friedet" werden können.

Angesichts dessen will ich aber auch bemerken, dass ich die Position, dass die Einwohner der genannten Vororte Paris per se keine Chance haben und in Anbetracht der gesellschaftlichen Situation quasi dazu gezwungen waren, diese Revolten zu starten, ebenfalls für menschenverachtend, wenn im Kern nicht noch sehr viel menschenverachtender und arroganter halte.
Das soll nicht die menschenverachtende Komponente der Ansichten Gluckmanns bestreiten. Oder dass er die Leute in den Banlieus nicht ernst nimmt. Er scheint allgemein Menschen nicht im besonderen ernst zu nehmen. "Für den denkenden Menschen ist Welt eine Komödie, für den fühlenden eine Tragödie.", wie man so schön sagt...

Ipsissimus
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Fr 11. Nov 2005, 22:42 - Beitrag #45

Glucksmann sagt das in seinem drittletzten Absatz explizit (in seinem viertletzten, wenn man den Einzelsatz als Absatz rechnet).

dass ich die Position, dass die Einwohner der genannten Vororte Paris per se keine Chance haben und in Anbetracht der gesellschaftlichen Situation quasi dazu gezwungen waren, diese Revolten zu starten, ebenfalls für menschenverachtend, wenn im Kern nicht noch sehr viel menschenverachtender und arroganter halte.


Padreic, du meinst also, mit Bravsein und das Spiel nach den Regeln derer zu spielen, die welches Wohl auch immer, jedenfalls nicht deines im Sinn, aber die Macht haben, sei der bessere Weg? Weil, gefügig, leise, zahm und still darf doch jeder machen, was er will?

Entschuldige, die meisten Menschen leben in geduckter Körperhaltung und hoffen, damit bis zum Ende ihres Lebens irgendwie leidensminimiert durchzukommen. Das Leiden, das sie dadurch verursachen, scheinen sie ebenso "irgendwie" nicht zu ahnen. Nebenan "die" dürfen gerne verrecken, wenn sie das nur in geziemender Weise machen. Nur daß die "nebenan" dazu gelegentlich wenigstens eine eigene Meinung haben

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Sa 12. Nov 2005, 00:33 - Beitrag #46

Auf jeden Fall kann man nicht sagen, dass die Menschen durch die "Umstände" dazu gezwungen wurden Randalle machen, das würde ja bedeuten, dass die Menschen nur Marionetten der äusseren Umstände sind und für nichts Verantwortung zu tragen brauchen. Ich will jetzt nicht auf die philosophische Ebene abgleiten, aber jeder von diesen randallierenden Chaoten hat seinen freien Willen und es ist seine eigene Entscheidung, das Eigentum seiner Nachbarn zu zerstören, und er wird von keinem dazu gezwungen.

Und man kann nicht jedes Verbrechen durch "Gründe" (auch wenn es andere Verbrechen sind) rechtfertigen, wenn jeder sich einfach so mal gewalttätig "rächen" darf (egal ob ihm ein Unrecht angetan wurde oder nicht), dann würde es zu einem vollkommenen Chaos führen...

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Sa 12. Nov 2005, 01:40 - Beitrag #47

Auf jeden Fall kann man nicht sagen, dass die Menschen durch die "Umstände" dazu gezwungen wurden Randalle machen,


werden Menschen durch irgendetwas anderes als die Umstände !!gezwúngen!!, etwas zu machen?

noch eine Kleinigkeit. BEVOR diese Menschen anfingen, angeblich krinimelle Randale zu machen, haben sich Politiker und hat sich die französische Gesellschaft an ihnen in verbrecherischer Weise vergangen. Wer andet das? Die schönen Worte wohlfeiler Betroffenheit haben nichts, aber auch gar nichts verstanden von den Umständen, in die Menschen hineingezwungen werden. Nur weil bestimmte Menschen sich omnipotent fühlen, heißt das noch lange nicht, daß für andere Menschen, die einen realistischeren Zugang zum Leben haben, alles machbar ist, was der Neoliberale für abverlangbar erachtet, solange jemand anderes, zum Beispiel seine reichen Eltern, deren Reichtum auf der Arbeit unzähliger anderer beruht, für ihn bezahlen.

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Sa 12. Nov 2005, 12:26 - Beitrag #48

werden Menschen durch irgendetwas anderes als die Umstände !!gezwúngen!!, etwas zu machen?


Sie werden eben durch NICHTS zu irgendwas gezwungen, sie haben immer die freie Wahl was sie tun, sie können selbst die Entscheidung treffen, bleibe ich heute abend zuhause und gehe ich randalieren, und für diese Entscheidung tragen sie selbst die Verantwortung, nicht die "Umstände", nicht der Freund der einen dazu anstiftet, nicht der böse Arbeitgeber der einen vielleicht letze Woche zurückgewiesen hat.

BEVOR diese Menschen anfingen, angeblich krinimelle Randale zu machen, haben sich Politiker und hat sich die französische Gesellschaft an ihnen in verbrecherischer Weise vergangen. Wer andet das?


Das mag so sein, aber meiner Meinung nach rechtfertigt ein Verbrechen nicht ein anderes Verbrechen. Wenn jemand mir etwas geklaut hat, soll ich ihn dann zusammenschlagen? Oder ihm auch etwas klauen? Findest du so eine Anarchie besser? Im Grunde ist der Staat ja genau dafür da, um so etwas zu vermeiden und um diese Probleme zu regeln. Wenn der Staat aber selbst ein Verbrechen begeht gibt es natürlich keine Instanz um das zu "bestrafen", und das ist natürlich nicht gut, aber entweder man nimmt den Staat so wie er ist, da er in meinen Augen mehr Vorteile als Nachteile hat, oder man lehnt ihn ab, dann darf man aber nicht nur das positive an dem Staat ausnutzen.

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Sa 12. Nov 2005, 15:09 - Beitrag #49

daß es so schwer ist, in Zusammenhängen zu denken

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Sa 12. Nov 2005, 15:55 - Beitrag #50

dass es so schwer ist mal über ein konkretes Problem zu diskutieren, ohne gleich Parolen gegen den ach so bösen Staat und ach so böse Reiche auszupacken. Und auch so schwer einfach mal auf ein paar Fragen einzugehen (z.B. ob du findest dass man jedes Verbrechen mit einem anderen erbrechen "sühnen" kann, oder gilt das für dich vielleicht nur wenn der Staat oder ein böser Unternehmer das "erste" Verbrechen begeht?)

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Sa 12. Nov 2005, 17:00 - Beitrag #51

Elbereth, es geht nicht darum, die Krawalle "gut zu heißen", das liegt mir fern. Es geht um das Verstehen, WARUM die Menschen so handeln, die Gewinnung von Werturteilen ist erst der zweite Schritt und muss alle Teile des Systems umfassen.

Zitat von Elbereth:Sie werden eben durch NICHTS zu irgendwas gezwungen, sie haben immer die freie Wahl was sie tun, sie können selbst die Entscheidung treffen, bleibe ich heute abend zuhause und gehe ich randalieren, und für diese Entscheidung tragen sie selbst die Verantwortung, nicht die "Umstände", nicht der Freund der einen dazu anstiftet, nicht der böse Arbeitgeber der einen vielleicht letze Woche zurückgewiesen hat.

Da fängt es eben an mit dem Verstehen.
Grundlage ist, daß in den banlieues schon länger einiges schief läuft, und dabei zunehmend schiefer.
Es waren immer Randgruppengebiete, die Menschen dort kamen überwiegend aus den ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika. Das heißt, es gab Sprachprobleme und ein grundlegend anderes kulturelles Umfeld als das Französische. Die Jugendlichen schafften deshalb oft die Schule nicht oder nicht sehr weit, viele Menschen dort fanden keine Arbeit, oft auf Jahre hinaus nicht.
Ohne Geld und ohne ein Auto hatten sie auch wenig Möglichkeiten, sich anderswo umzusehen. Aber es gab wenigstens ein halbwegs funktionierendes Bussystem. Und für die kleinen und großen Streits, die sich unter Menschen entwickeln, die zuviel Zeit, zu wenig zu tun und zuviel Bier in sich haben, gab es die örtliche Polizei, die ihre Pappenheimer kannte, wußte, wie sie die Menschen anfassen mußte.
Alles in allem keine schöne Situation, aber man konnte sich in ihr arrangieren.
In den letzten Jahren wurde die öffentliche Infrastruktur dann teuer, die Schulen und Gemeinschaftszentren aus den 60/70er Jahren waren marode und mußten saniert werden. Es wurden Pläne gemacht, um grundlegend etwas zu verbessern, Stadteilentwicklungspläne. Deren Umsetzung ebenfalls - teuer war.
Der Staat verschob beides, Stadteilentwicklung wie die Sanierung öffentlicher Einrichtungen. Baute stattdessen prunkvolle neue Museen für die Reichen und Kulturbeflissenen des Landes und jene, die sich gerne im Blitzlichtgewitter sahen.

Außerdem war eine neue Generation herangewachsen. Sie kam aus arbeitslosen Familien und wollte selber mehr erreichen.
In der Schule hakte es zum ersten Mal, als die zu Hause erworbenen Sprachprobleme auf die Leistungen drückten, die Lehrer aber nicht darauf eingingen. "Ihr seid eh nur der letzte Rest der Gesellschaft", das war die unausgesprochene Botschaft, die Schule ihnen vermittelte.
Dann die Suche nach Arbeit, einem Ausbildungsplatz. "Woher kommen Sie, aus Reincy, aus den banlieues? Nein tut mit leid, wir haben schon alle Plätze besetzt, versuchen Sie anderswo Ihr Glück". Das wiederholte sich 2 mal, 5 mal, 30 mal,... ebenso beim Freund, der Freundin, dem Kumpel, jedem aus der Clique.
"Ihr seid das Allerletzte, Unbrauchbarste der Gesellschaft", das war die unausgesprochene Botschaft, die diese kollektive Erfahrung vermittelte.
Dann wurde der Busverkehr gekürzt in einigen der banlieues, die Polizeidienststellen teilweise aufgelöst.
Polizei gab es jetzt - nur noch als Streife, externe Polizisten, die durch die Straßen fuhren. Die den Menschen zeigten, warum sie da waren - weil die Menschen selbst ein Sicherheitsrisiko waren in ihren Augen. Nicht Bürger, die Anspruch auf öffentliche Ordnung im üblichen Sinne haben.
"Ihr seid gefährlich und unerwünscht, nicht Teil dieser Gesellschaft, ein Haufen Probleme, die es zu entsorgen gilt", das war die unausgesprochene Botschaft, die diese kollektive Erfahrung vermittelte.

Die Gewalt in den banlieues nahm dann zu, weil sozialer Stress Frustrierter einfach zu Gewalt führt, schon fast immer zu Gewalt geführt hat. Aber es war keiner mehr da, der dies verstand, der die Menschen zur Ruhe bringen, die Straßen für jedermann betretbar halten konnte. Auch keiner, den man hätte rufen können, wenn es brenzlig wurde.
Die Polizei - war ein Grund, vor ihr wegzulaufen.
Nicht, daß dies "draußen" völlig unbekannt gewesen wäre. In den Medien wurde durchaus über die kleinen Rangeleien mit Körperverletzung, kleine Brände usw. berichtet - in unterhaltsamen Magazinsendungen am Vorabend oder in Reportagen um 23 Uhr, wenn keiner mehr hinsah.
Auch die Zeitungen schrieben einiges.
Die Regierung aber - tat nichts, verschob eher geplante Maßnahmen weiter und baute öffentliche Einrichtungen weiter ab.

Dann geschah das, was die Unruhen auslöste: Zwei Jungen gerieten in eine Polizeikontrolle. Und liefen davon, versteckten sich, es knallte.
Vor einem Stromverteilerkasten wurden zwei tote Jungen gefunden.
Es war ein klarer Fall für die Menschen, daß der Knall nur aus einer Pistole stammen konnte, zwei Jungen waren erschossen worden, so dachte man.

Und so brach das los, was früher oder später auch losgebrochen wäre.
Und der Innenminister sagte den Menschen, daß das, was sie Zeit ihres Lebens als kollektive Botschaften erlernt hatten:
"Ihr seid eh nur der letzte Rest der Gesellschaft"
"Ihr seid das Allerletzte, Unbrauchbarste der Gesellschaft"
"Ihr seid gefährlich und unerwünscht, nicht Teil dieser Gesellschaft, ein Haufen Probleme, die es zu entsorgen gilt"
noch zu übertreffen war:
"Diese Leute sind Abschaum, Unrat, der mit einem Hochdruckreiniger zu entfernen ist", so sagte er.
Bedarf es mehr?

Immerhin, ein Glück vielleicht, die Polizisten waren nicht direkt schuld am Tod der beiden Jungen. Sie starben an Stromschlägen in dem Verteilerkasten.
Zitat von Elbereth:Das mag so sein, aber meiner Meinung nach rechtfertigt ein Verbrechen nicht ein anderes Verbrechen. Wenn jemand mir etwas geklaut hat, soll ich ihn dann zusammenschlagen? Oder ihm auch etwas klauen? Findest du so eine Anarchie besser? Im Grunde ist der Staat ja genau dafür da, um so etwas zu vermeiden und um diese Probleme zu regeln. Wenn der Staat aber selbst ein Verbrechen begeht gibt es natürlich keine Instanz um das zu "bestrafen", aber entweder man nimmt den Staat so wie er ist, da er in meinen Augen mehr Vorteile als Nachteile hat, oder man lehnt ihn ab, dann darf man aber nicht nur das positive an dem Staat ausnutzen.


Für Handlungen unter Gleichen gebe ich Dir recht, Aug um Auge ist nicht recht.
Wenn der Staat aber ein Verbrechen begeht, dann kann dieser nicht straffrei ausgehen bzw. die konkret verbrecherisch handelnden Individuen.

Es gibt die Möglichkeit der Demonstration - wie, wenn man nicht mehr in die Stadt kommt? Von dem Aufwand mal abgesehen. Außerdem, welcher westlicher Politiker läßt sich noch von demonstrierendem Volk beeindrucken?
Den Staat abzulehnen, das ist ein Weg, aber wie soll das gehen, wenn man auf Sozialhilfe angewiesen ist und auf das Restmaß an öffentlichem Transport, das Restmaß an Schule...?

Mir will scheinen, daß die Unruhen, so irrational sie sich auch gegen sinnvolle öffentliche Einrichtungen richten und gegen Privateigentum, der einzige Weg waren, überhaupt noch eine Aufmerksamkeit für die Probleme zu erreichen.
Traurig, das.

Padreic
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Sa 12. Nov 2005, 20:38 - Beitrag #52

@Ipsissimus:
lucksmann sagt das in seinem drittletzten Absatz explizit (in seinem viertletzten, wenn man den Einzelsatz als Absatz rechnet).

Dass es im Zusammenhang des ganzen Absatzes auch durchaus anders interpretierbar ist, berücksichtigst du natürlich nicht...

Padreic, du meinst also, mit Bravsein und das Spiel nach den Regeln derer zu spielen, die welches Wohl auch immer, jedenfalls nicht deines im Sinn, aber die Macht haben, sei der bessere Weg? Weil, gefügig, leise, zahm und still darf doch jeder machen, was er will?

Entschuldige, die meisten Menschen leben in geduckter Körperhaltung und hoffen, damit bis zum Ende ihres Lebens irgendwie leidensminimiert durchzukommen. Das Leiden, das sie dadurch verursachen, scheinen sie ebenso "irgendwie" nicht zu ahnen. Nebenan "die" dürfen gerne verrecken, wenn sie das nur in geziemender Weise machen. Nur daß die "nebenan" dazu gelegentlich wenigstens eine eigene Meinung haben

Das 'also' im Bezug auf mein Zitat kann ich nur als böswilliges Missverstehen oder eine Form von Paranoia interpretieren. Wenn ich jemals so etwas gesagt haben sollte, dann sicherlich nicht in dem genannten Zitat.
Die Würde des Menschen liegt für mich vor allem in seiner Fähigkeit zur Wahl, in seiner Freiheit. Egal, ob es gut oder schlecht ist, kann man sich auch in einem Banlieue dafür oder dagegen entscheiden, Autos anzuzünden. Und in einem gewissen Maße sicherlich auch dafür oder dagegen, ob man drin bleiben oder rauskommen will. Ich glaube an die Würde des Menschen auch in miesen Zuständen, auch wenn sie es einem verdammt schwer machen können, sie sich zu bewahren.

Mir reicht es nicht zu verstehen, was der Staat falsch gemacht hat. Wenn man die Leute ernst nehmen will, muss man auch sie selbst betrachten. Und auch ihnen die Möglichkeit zu Fehlverhalten zubilligen.
Es sind ja nicht nur irgendwelche Regeln zum Schutz der bösen Reichen, die Leute dort brechen. Man kann sich fragen, warum z. B. Drogenhandel verboten ist. Und auch kann man sich fragen, ob nicht manche Leute, wenn sie sich klüger und strebsamer verhielten, vielleicht irgendwann einen besseren Lebensstandard hätten.
Ich will sie nicht verurteilen. Das kann man ja alles irgendwie verstehen. Aber den Staat verurteilen wir für sein offensichtliches Fehlverhalten. Ich muss sagen, so wenig ich sein Verhalten gutheißen kann, kann ich ihn doch auch irgendwo verstehen.

Ich glaube, man darf diese Leute in den Banlieus nicht zu Heiligen hochstilisieren. So gerecht ihre Sache sein mag, hauptsächlich kämpfen sie doch für ihren eigenen Vorteil und einige sind sicherlich auch dabei, die Krawall machen, weil sie sich austoben wollen. Es gibt überall solche Leute und schlechte Bedingungen machen Leute nicht besser. So denke ich auch, dass die von Glucksmann genannten Faktoren eine nicht unwesentliche Rolle bei dem ganzen spielen. Es geht bei dem ganzen weniger um Geld denn um Psychologie und um Respekt.

@janw:
In den letzten Jahren wurde die öffentliche Infrastruktur dann teuer, die Schulen und Gemeinschaftszentren aus den 60/70er Jahren waren marode und mußten saniert werden. Es wurden Pläne gemacht, um grundlegend etwas zu verbessern, Stadteilentwicklungspläne. Deren Umsetzung ebenfalls - teuer war.
Der Staat verschob beides, Stadteilentwicklung wie die Sanierung öffentlicher Einrichtungen. Baute stattdessen prunkvolle neue Museen für die Reichen und Kulturbeflissenen des Landes und jene, die sich gerne im Blitzlichtgewitter sahen.

Zumindest wenn ich dem Artikel " 'Geld ist nichts, Respekt ist alles' "in der aktuellen Zeit (nicht gerade als rechtes Blatt verschrien) trauen darf, gibt dies das ganz etwas verkürzt wieder. Ich zitiere:

"Sie [Clichy-sous-Bois] ist die ärmste aller Pariser Vorstädte: Die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 25 Jahre, fast jeder Zweite ist arbeitslos, das Steueraufkommen erreicht noch nicht einmal die Hälfte des NIveaus vergleichbarer Siedlungen. Jetzt ist sein Unglücksort nach tagelangen Krawallen zum landesweiten Symbol einer neuen 'Intifada' (Focus), zum Ursprung eines 'zweiten Mai 1968' (Le Monde) erklärt geworden. Nichts davon ist wahr.
Denn auch das 15 Kilometer vom Praiser Zentrum entfernte Clichy-sous-Bois entspricht kaum dem Horrorgemälde eines vom Staat aufgegebenen Ghettos, in dem Banden herrschen und das Faustrecht gilt. Es gibt drei neue Schulen, großzügige Sportanlagen, der neue Jugendclub in einer umgebauten Diskothek steht kurz vor der Fertigstellung. Clichy ist vielmehr ein zentrales Lehrstück dafür, dass die Anstrengungen, welche die Regierung seit den achtziger Jahren inden Vorstädten unternommen hat, nichts genützt haben.
Hinter den immer wieder erneuerten Fassaden der Gartenstadt mit ihren maßvoll hohen Wohnblödcken ist ein ganzes sozialpoloitisches System entgleist, das die Regierung immer wieder mit eneuen Bauprogrammen zu retten versuchte. Noch jeder zuständige Minister hatte den grünen Wohnpark zum Experimentierfeld seiner Reformpolitik erkoren. 1995 setzte Präsident chirac im Wahlkampf gar die Banlieue als 'Priorität der Prioritäten' auf seine Agenda, und Premier Alain Juppé versprach einen 'Marshall-Plan für die Vorstädte'. Den größten Kraftakt unternahm jüngst Sozialminister Jean-Louis Borloo: Unter den 83 Problemquartieren in Frankreich, für welche die Reigierung neun Milliarden Euro bereitstellt, ist Clichy mit 333 Millionen Euro das landesweit größte Sanierungsprojekt. Doch allmählich dämmert es den Sozialexperten, dass die Reperatur der Infrastruktur allein nichts nützt.
Obwohl das einstige Vorstadtidyll, das zur Hälfte aus Eigentumswohhnungen besteht, vor allem einfachereren Familien zum erwerb ihrer eigenen vier Wände verhelfen sollte, ist von der erhofften sozialen Mischung wenig geblieben. Aufsteigerfamilien, egal, welcher Hautfarbe, sind stets weggezogen, nur Ärmere kamen nach - auch weil hier die erste Anluafstation für Flüchtlinge vom nahe gelegenen Großflughafen ist. "
[im nächsten Absatz (den abzutippen meine Finger zu müde werden) werden dann die schon genannten Kritikpunkte geschildert, Abschaffung der Quartierspolzei, Abschaffung der beruflichen Eingliederungshilfe für Jugendliche. Allgemein ist der Artikel recht interessant, also wer noch Zeit hat, sich eine Zeit zu kaufen... ;)]

Also völlig vergessen hat der Staat die Bealieus auch nicht, er macht nur alles falsch ;).

e-noon
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Sa 12. Nov 2005, 22:01 - Beitrag #53

Ich habe den Artikel auch heute Vormittag gelesen, und tatsächlich scheint es den Jugendlichen mehr um Respekt zu gehen als um mehr finanzielle staatliche Förderung.

Sie verbrennen schließlich keine Reichenhäuser, keine Symbole für den Kapitalismus oder die Regierung, sondern (dummerweise, wie ich finde) ihre eigenen Schulen, Kindergärten und die Arbeitsplätze und Autos ihrer Eltern.
Respekt werden sie wohl kaum erreichen, indem sie ihrerseits offensichtlich die Werte und das Eigentum ihrer Mitmenschen missachten, und auch nicht, indem sie kaum einmal Forderungen äußern.

Man geht davon aus, dass sie einfach in besseren Verhältnissen leben wollen, aber es geht ihnen nicht unbedingt so schlecht; dass Einwanderer, die "es geschafft haben", wegziehen, ist nicht die Schuld der Regierung, sondern ein generelles Problem, das wohl immer wieder zu Armen- und Reichenvierteln führen wird.
Sie sollten aber, statt wild um sich zu schlagen, imo lieber klare Forderungen formulieren, und dann erst einmal abwarten, was daraus wird (Zeitung lesen vielleicht). Wenn klar ist, dass sie nicht ernst genommen werden, können sie ja weiter randalieren, dann wäre es wenigstens in meinen Augen etwas berechtigter. Unschuldige einfach so zu schädigen, dazu haben weder der Staat noch Ghettobewohner noch irgendwer sonst das Recht.

Dass es um religiöse Streitigkeiten geht, denke ich nicht, obwohl angeblich ein moslemischer Immam die Jugendlichen schneller beruhigen und nach Hause schicken konnte, als die viertelfremden Spezialeinheiten das hinbekamen.


Ich könnte mich fast einer Verschwörungstheorie anheim geben, dass diese Krawalle den Politikern gar nicht so ungelegen kommen; man hat unmengen Gelder in Verbesserungspläne gesteckt, es geht den viertelbewohnern eigentlich gar nicht so schlecht, und vielleicht möchte man ja demonstrieren, dass diese Einwandererkinder das nicht zu schätzen wissen und auch gar nicht wahrnehmen, sondern aus sich heraus schlecht sind und man das Problem nur lösen kann, indem man sie irgendwie loswird oder gewaltsam kleinhält. Dem entsprächen auch die Provokationen von "mit dem Hochdruckreiniger säubern" und so.

Zudem ist bei mir der Eindruck entstanden, als würden die alten, ortsansässigen Polizisten abgezogen, WEIL die Jugendlichen/jungen Erwachsenen so einen Terror machten...
Möglicherweise wurden sie durch unfreundliche Sonderbeamte ersetzt, DAMIT die Jugendlichen Terror machen?...

Hört sich konfus an ^^ Aber wie soll man das von hier beurteilen, anhand auch noch sehr widersprüchlicher Meinungen sogenannter "Experten"?

Ipsissimus
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So 13. Nov 2005, 02:42 - Beitrag #54

Elbereth, ich bin kein Jurist und kein Moralist. Deine Ansichten seien dir unbenommen - mir allerdings scheint es unangemessen, eingedenk der Fakizität von Menschen, die real eine Ungerechtigkeit mit einer anderen Ungerechtigkeit beantworten, darauf zu pochen, daß dies verwerflich sei, oder daß sie dies nicht tun sollten. Ich versuche zu verstehen, aufgrund welcher Zusammenhänge welche Sachverhallte verständlich sind - und siehe da, die derzeitigen Ereigniss in Frankreich sind plausibel.

Padreic
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So 13. Nov 2005, 02:56 - Beitrag #55

und siehe da, die derzeitigen Ereigniss in Frankreich sind plausibel.

Hat das irgendjemand bestritten?

janw
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So 13. Nov 2005, 04:13 - Beitrag #56

Padreic, mag sein, daß in dem einen Viertel denn doch etwas gebaut wurde, in anderen Zeitungen wird ebenso glaubwürdig von anderen banlieues berichtet, wo eben vollmundig Maßnahmen angekündigt wurden, dann Architekten teure Pläne machten, die dann in den Schubladen verschwanden.
Auffälllig ist immerhin in dem ZEIT-Artikel, daß die Ankündigungen von Chirac 1995 im Wahlkampf erfolgten - wie die jetzigen Äußerungen von Sarkozy und seinem Regierungschef auch im Wahlkampf stattfinden.

Und genau darum ging es mir: Den Prozeß darzustellen, mit dem sukzessive, über längere Zeit, in den Menschen das Gefühl der Nicht-Wertvollempfundenheit, ja, das Gefühl der Unerwünschtheit gereift ist.
Daß in dem einen Viertel der Busverkehr noch besser ist, in einem anderen die öffentlichen Einrichtungen, ändert nichts an der Grundaussage.
Und daß das Gefühl der Unerwünschtheit real begründet ist, hat sich ja nun gleich zu Anfang gezeigt - und Sarkozy hat keinen einzigen Satz zurück genommen, sein Ministerpräsident ebenso nichts relativiert.

e-noon, schöne Ideale, die Du da vorträgst :)
Sich zu organisieren, klare Forderungen formulieren, das erfordert viel - Organisationsvermögen, Kooperation über die Viertel hinweg, auch finanzielle Mittel - was nicht allen Menschen gegeben ist. Nicht jeder ist ein zoon politikon.
Bei der Aufstellung der Pläne zur Stadtteilentwicklung hat es sicher solche Ansätze gegeben - aber wohin haben sie, zumindest teilweise, geführt? Den Unmut politisch zu kanalisieren, in kleine Projekte fließen zu lassen, die man dann je nach Kassenlage und Wahlkampfzustand umsetzen kann oder auch nicht, das war zumindest teilweise das Ziel. Um die Menschen ging es oft genug nicht.
Das mit der Verschwörungstheorie sehe ich durchaus so, Problemzonen sind immer gut, um sich im Wahlkampf ihrer anzunehmen...und alle Kommentatoren sind sich einig, daß Sarkozy mit seinen Worten Stimmen am rechten Rand angeln will.
"Diese Leute sind Abschaum, Unrat, der mit Hochdruckreinigern entfernt werden muß."
Mit diesem Satz, im Wahlkampf, nicht in irgendeiner Weise zurückgenommen, ist eben für mich jenes Maß an Menschenverachtung erreicht, wogegen mir sehr viele Mittel erlaubt scheinen.
"Das Volk hat kein Brot? Sollen sie doch Brioches essen", sagte Marie Antoinette. Die Folge war eine Revolution...

Ipsissimus
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So 13. Nov 2005, 11:37 - Beitrag #57

gut, Padreic, wenn es also plausibel ist, daß die Gewalt, der Hass, wie Glucksmann es nennt, seinen Ursprung an einem ganz anderen Ort hat - in der Psyche der Mächtigen, die das System so manipulieren, daß das System per quasi-Automatik dafür sorgt, daß immer stärker abgeschirmte elitäre Machtmenschen immer mehr menschlichen "Abschaum" produzieren und diesen in Grund und Boden treten können - wenn dies also plausibel ist, dann mach mir bitte plausibel, wieso bei der Ursachenforschung die Psyche des aufbegehrenden Abschaums und nicht die der wirklichen Verbrecher zur Debatte steht.

Weil die Bösartigkeit der letzteren in gute Manieren gegossen ist, solange Kameras dabei sind?

Weil die Machtigen schon längst im Narrenparadies der Ohnmacht aller anderen leben?

Weil der Gedanke gilt, daß dann, wenn gegen deren Dummdreistig-Mächtigkeit nichts gemacht werden kann, dann halt bei den Opfern angefangen werden muss?

Weil das staatsbürgerliche "gefügig,leise, zahm und still" als Wert an sich gilt?

Aber bei wem wohl?

e-noon
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So 13. Nov 2005, 14:31 - Beitrag #58

@JanW: Ich erwarte nicht, dass sie sich politisch engagieren, ob sie dazu fähig sind oder nicht. Aber ich denke, sie sollten (in ihrem eigenen Interesse) wenigstens kurz sagen, worum es ihnen primär geht, finanzielle Unterstützung, Bildung, soziale Gleichstellung und Integration oder einfach nur Krawallmache... und solange sie das nicht tun, wird es für viele einfach wie sinnlose Randale aussehen.

An ein paar Häuserwände etwas zu sprayen, das wenigstens sollten sie drauf haben, und dann können das ja gleich ihre Forderungen sein.

Wenn jedes zweite Haus "Respekt", "Chancengleichheit", "Bildung" als Aufschrift trägt, ist das imo ein klügerer Schachzug als die Häuser (Schulen, Kindergärten) direkt abzufackeln.

janw
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So 13. Nov 2005, 15:20 - Beitrag #59

e-noon, da hast Du wohl nicht unrecht. Vielleicht sollte man mal hinfahren und es ihnen sagen, die Spraydosen im Gepäck...

Ich denke aber grundsätzlich, daß man solches wünschen kann, aber letztlich kann man den Menschen nicht vorschreiben, wie sich ihr Protest zu entladen hat.
Schlimm genug, daß man ihnen zumutet, weiter so einen Innenminister zu ertragen...

Allmählich aber wird es wirklich Zeit für eine Wende, für Visionen, wie das Morgen aussehen soll und konkrete Schritte dahin.

Mal unabhängig davon...
In einem Interview im Deutschlandfunk heute gegen 10.30 wurde ein größerer Bogen geschlagen, dahin, daß auch hierzulande das Ende des Wachstums real geworden ist, daß Perspektivlosigkeit auch hier kein Fremdwort mehr ist für viele.
Perspektivlosigkeit, das war auch das Motiv vieler Protestler in der DDR. Die Proteste dort liefen anders ab, friedlich, zum Glück.
Wie, so frage ich mich, hätten die Konservativen hierzulande reagiert und kommentiert, wenn dort Autos und Busse und Schulen gebrannt hätten? Hätten da nicht einige - gejubelt?

Padreic
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Mo 14. Nov 2005, 20:48 - Beitrag #60

@Ipsissimus:
gut, Padreic, wenn es also plausibel ist, daß die Gewalt, der Hass, wie Glucksmann es nennt, seinen Ursprung an einem ganz anderen Ort hat - in der Psyche der Mächtigen, die das System so manipulieren, daß das System per quasi-Automatik dafür sorgt, daß immer stärker abgeschirmte elitäre Machtmenschen immer mehr menschlichen "Abschaum" produzieren und diesen in Grund und Boden treten können - wenn dies also plausibel ist, dann mach mir bitte plausibel, wieso bei der Ursachenforschung die Psyche des aufbegehrenden Abschaums und nicht die der wirklichen Verbrecher zur Debatte steht.

Dass dies in dieser Einseitigkeit plausibel ist, habe ich nicht behauptet. Zu sagen, dass die Gewalt nur einen Ursprung hat, wird der Komplexität der Situation bei weitem nicht gerecht.

Wer ist der Mächtige, der da in völliger Niedertracht das System so manipuliert, wie du es sagst? Ich traue kaum jemandem zu, da wirklich entscheidendes manipulieren zu können...ein Sarkozy mag wirklich der Meinung oder vielmehr der tief in ihm verwurzelten Überzeugung sein, dass diese Menschen, die er da bekämpfen will, Abschaum sind. Er wird nicht der einzige sein, der gefangen ist in den Wertvorstellungen seiner Eltern, Schicht, Umgebung.

Die Psychologie dieser Leute zu untersuchen, wäre sicherlich ein interessantes Feld. Das sicherlich zum Teil auch beackert wird; über (politisch) Mächtige ist meist viel Material vorhanden, das dann teils auch psychologisch ausgewertet wird. Nur eben nicht akut, besonders wohl, weil die Psyche von einzigen immer schwerer zu untersuchen ist als die von Massen.
Die Psychologie in diesem speziellen Fall ist aber sicherlich etwas, was in den Zeitungen allgemein zu wenig Beachtung findet. Die Wahrnehmung von Politikern (die meinst du mit den "wirklichen Verbrechern" vermutlich zumindest zum Teil) als Menschen wird allgemein auch zu wenig beachtet. Die Schnittmenge ist noch viel geringer. Dass Herr Sarkozy seine Äußerungen aus Wahlkampfgründen gemacht haben könnte, wird ja noch das ein oder andere Mal erkannt, aber vielleicht zu untersuchen, aus was für einer Familie er kommt, wie er seine Wertvorstellungen bekommen hat, was seine Sexualität damit zu tun hat, davon hab ich noch nirgendwo gelesen...

Ein weiterer Punkt ist sicherlich, dass meist in Zeitungen nicht die ganz grundlegenden Fragen gestellt werden. Es wird gefragt: Was kann der Staat anders machen, damit so etwas nicht wieder passiert? Dafür ist die Psychologie der Massen in der Vorstädten interessant. Aber nicht: Wie kann man den Staat machen, damit so etwas nicht wieder passiert? Dafür wäre wohl auch die Psychologie der Mächtigen von nicht unwesentlicher Relevanz.

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