Auch christliche Eltern lassen ihre Babys taufen, ein zumindest nach Auffassung der katholischen Kirche irreversibler Vorgang. Diese im Christlichen implizite Irreversibilität wird im Jüdischen eben explizit vollzogen.
Ich sehe hier aber doch einen deutlichen Unterschied, da im einen Fall keine dauerhafte physische Veränderung vorgenommen wird im anderen Fall aber schon. Die Auffassung der katholischen Kirche über die Irreversibilität der Taufe könnte jemandem der sich im nachhinnein für eine andere Form des Glaubens, der Spiritualität oder auch dagegen entscheidet ziemlich egal sein. Wer allerdings beschnitten wurde, bei dem ist die Irreversibilität keine Meinung sondern ein Faktum.
Es gibt übrigens durchaus den juristischen Begriff des Gewohnheitsrechtes, der hier zum Tragen kommen könnte.
D'Accord und darauf wird es letztlich hinauslaufen, weil die Beschneidung nicht als eine "große Verstümmelung" (z.B. nicht vergleichbar mit der weiblichen Genitalverstümmelung) ist. Da Du aber den Wunsch nach einer Regelung, die es Menschen ermöglichen würde selber über die Beschneidung zu entscheiden, mit dem Ziel Hitlers auf eine Stufe stellst glaube ich, dass Du Dir im Umkehrschluss auch die ebenso unverhältnismäßige Frage gefallen lassen musst, ob man nicht zu früheren Zeiten mit dem Gewohnheitsrecht ein fortbestehendes Recht auf Hexenverbrennungen oder Blutrache hätte begründen können. Das etwas seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden auf die eine oder andere Weise gehandhabt wird heißt nicht, dass es ewig so weiter gehen muss oder sollte.
Leider sind fast alle Religionen sehr stark auf "Gewohnheitsrecht" begründet. Dass es durch die Trennung von Staat und Kirche möglich wurde viele der schädlichen Folgen des Festhaltens an nicht mehr zeitgemäßen Traditionen zu überwinden halte ich für einen großen gesellschaftlichen Fortschritt.
Da dieser Konflikt um eine permanente Veränderung des menschlichen Körpers an einem Menschen, der darüber noch nicht selbst entscheiden kann, sich auch auf viele andere Fälle übertragen ließe, tauchen hier schon eine Menge Grundsatzfragen auf. Diese Fragen muss man auch stellen dürfen ohne dafür an den Holocaustpranger gestellt zu werden.
Wenn eine hypotetische Gruppe eines Druidenkultes an Hand archäologischer Funde nachweisen könnte, dass es seit Jahrtausenden Tradition war einem Neugeborenen nach der Geburt rituelle Narben beizubringen, wäre dass dann ebenfalls gedeckt? Warum wäre es gegebenenfalls nicht gedeckt? Auf Grund der geringeren Anzahl von Gläubigen an einem solchen Kult? Wo würde mit welcher Begründung die Grenze des Rechtes auf körperliche Veränderungen am eigenen Nachwuchs auf Grund religiöser Überzeugungen gezogen?
Ich halte den Vorschlag von Lykurg zu einer Markierung, die die vorläufige Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe bis zur eigenen Entscheidungsfähigkeit des Menschen symbolisieren würde für eine Option über deren für und wieder man diskutieren können muss ohne dafür mit den abscheulichen Verbrechen des Naziregimes in einen Topf geworfen zu werden.
Du betonst sehr vehement das Recht auf freie Religionsausübung Ipsissimus und das ist Dein gutes Recht. Macht aber das Recht auf freie Religionsausübung einer Person das Recht einer anderen Person auf Selbstbestimmung und Unverletzlichkeit des Körpers ungültig? Solange eine Person noch nicht in der Lage ist überhaupt eigene Entscheidungen zu treffen müssen Eltern dies natürlich oft tun und bei den meisten Entscheidungen die in diesem Rahmen von den Eltern getroffen werden bleiben auch keine dauerhaften körperlichen Veränderungen zurück. Wo aber solche Veränderungen in einem Maße stattfinden, bei dem die negativen Aspekte den Menschen später belasten könnten, glaube ich schon dass man das Recht auf unverletzlichkeit des Körpers und Selbstbestimmung in einem säkularisierten Staat nicht einfach mit dem Recht einer anderen Person auf freie Religionsausübung für null und nichtig erklären darf.