Erdbeben in Japan; historischer Wert von 8,9

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Fr 18. Mär 2011, 12:46 - Beitrag #61

offenbar wird mittlerweile der Bau eines Sarkophags à la Tschernobyl erwogen

http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,751682,00.html

das ist ein hochindustrialisiertes Land, Lykurg, noch dazu eines, dessen Bevölkerung mit Begriffen wie "Ehre" und "Gesichtsverlust" in einer ganz anderen Weise konditioniert ist wie unsereins. Möglicherweise müssen da erst Schwellen überwunden werden, ehe das Eingeständnis der Hilfsbedürftigkeit erfolgt und Hilfe angenommen wird.

Ich halte es absolut nicht für unmöglich, dass die gesamte Konzernspitze Seppuko begehen wird, eventuell sogar die Regierung

Lykurg
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Fr 18. Mär 2011, 13:20 - Beitrag #62

Das war eher 009s Frage - aber ich hatte auch über den Aspekt Auslandsbeteiligung nachgedacht - das war in Kobe ja noch viel schlimmer, aber generell ist Erfragen und Annehmen von Hilfe in ostasiatischen Gesellschaften aus Gesichtswahrungsgründen ja ein extrem schwieriges Thema, aus deren Sicht vielleicht der Gesichtsverlust schwerwiegender als die an Menschenleben. Trotzdem zweifle ich sehr an einem kollektiven Seppuku der Verantwortlichen; wenn auch nicht daran, daß es Selbsttötungen geben wird.

Erstaunlich aber, daß in Japan, dem Roboterland der Welt, erst jetzt die entsprechenden Überlegungen kommen bzw. dann auch wohl nach deutschen Robotern gefragt hat. Für diese speziellen Aufräumarbeiten allerdings ist fraglich, ob fertige Lösungen bereitstehen.

janw
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Fr 18. Mär 2011, 21:19 - Beitrag #63

Die Frage stellt sich IMHO wirklich, warum die nicht mit Robotern und ähnlichem vorgehen. Ich könnte mir allerdings vorstellen, daß es für die Arbeiten in den zerstörten Bereichen keine entsprechenden Lösungen gibt, die individuellen Arbeitsschritte in unüberschtlichen Bereichen erfordern möglicherweise zu viel direkte Anwesenheit von entscheidungsfähigem Personal, das auch bereiche erst zugänglich machen muss. Davon ab wären auch dann Leute erforderlich, um die Roboter aufgrund von Kamerabildern per Funk zu steuern.

Letztlich stellen diese Probleme IMHO aber eine generelle Herausforderung für Technologien mit dem Risiko derartig gefährlicher Störfälle dar.

009
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Sa 19. Mär 2011, 11:00 - Beitrag #64

Dr. Kai Gniffe erläutert auf blog.tagesschau.de unter dem Titel "Spenden für Japan?, warum die ARD/Tagesschau anders als andee keine Spendenkonnten nennt - nicht weil herzlos wären oder die im Spendenwillen erkennbaren Solidaritätsbekundungen nicht gut heißen, sondern weil sie sich mit Spenden für ein hochindustrialisiertes Land wie Japan schwer tun und es offensichtlich auch zwiefelhaft ist, inweifern solche Spenden derzeit überhaupt sinnvoll helfen könnten.

Das und wie Lebensmittelhersteller in Deutschland auf die Ereignisse in Japan reagieren und (auch) das transparent machen können, obwohl derzeit letztlich eben keine besonders dringliche Notwendigkeit besteht, zeigt eines meine Lieblingsblogs. Im Blog des Tiefkühlkost-Herstellers Frosta schreibt deren Vorstandsvorsitzender Felix Ahlers unter dem Titel Japan warum de facto derzeit bei ihren Produkten nix passieren kann (bedingt durch die Logistikketten wird nach den Ereignissen gefangener Fisch von dort hier erst im Mai ankommen) und wie sie zukünftig auch das eher theoretische Restrisiko ausschließen wollen (eigene Kontrollen mit Geigerzähler - zusätzlich zu den behördlichen beim Lebensmittel-Import).

Hinweis: ich sehe in meinem Verweis auf Froste ausdrücklich keine Werbung, sondern will damit in diesem Thread aufzeigen, wie Unternehmen Verbraucher und Kunden durch Transparenz auch in Krisen informieren können. Dies ist noch leider nicht üblich, viele Lebensmittelhersteller werden wie bisher wohl entweder gar nichts kommunizieren oder nur eher dürftig beschwichtigende Pressemeldungen verbreiten, anstatt sich in einem Blog dem offenen Diskurs mit allen daran interessierten zu stellen.

Könnte ich japanisch oder/und wäre der Google-Übersetzer ein wirklicher Hit, würde ich auch selber gucken, wie das der AKW-Betreiber und japanische Unternehmen eigentlich so halten.

Traitor
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Sa 19. Mär 2011, 13:04 - Beitrag #65

Spenden braucht Japan wohl nicht, und auch sicher keine von außerhalb gelieferten Helikopter oder Löschfahrzeuge. Bei letzteren ist der Flaschenhals wohl kaum der Mangel an Geräten, sondern höchstens der an Personal, und vermutlich am ehesten der, dass man einfach nicht unbegrenzt viele um die Kraftwerke herum postieren kann.

Roboter, autonome und auch ferngesteuerte, sind wohl noch lange nicht flexibel und mobil genug, um einer solchen Situation helfen zu können. Unterwasser bei der Ölbohrlochgeschichte waren ja unbemannte U-Boote eines der Hauptwerkzeuge, aber Bewegung in Freiwasser-3D ist nunmal viel einfacher als über den Erdboden und innerhalb von demolierten Gebäuden.

@Lykurg: Mit "Auftretensschwelle" meinte ich, dass es für vermischte kleinere Störfälle eben kein Jahrhundertbeben und keine Terroristen braucht, sondern nur kleine Fehlfunktionen oder Schlampereien. Gegen Fehlfunktionen helfen mehrfach redudante Sicherungen recht gut, gegen Schlampereien erschreckend wenig.

Zur wirtschaftlichen Verzichtbarkeit kommt es derzeit mal wieder nur darauf an, welchem Artikel und welcher Statistik man glaubt. ;) Nach manchen bringt uns jedes einzelne AKW weniger an den Rand der Steinzeit, nach manchen könnten wir alle zusammen sofort abschalten, ohne auch nur importieren zu müssen. Das pessimistische Extrem ist offensichtlich falsch, da ja eh andauernd abgeschaltet wird, das optimistische ziemlich sicher auch, da es Bedarfsspitzen nicht genügend berücksichtigt. Die richtige Antwort liegt irgendwo dazwischen, auch ich halte nichts von einer Sofortabschaltung aller AKWs. Dass zumindest die 7 Alt-AKWs mit ihrer kombinierten Leistung locker innerhalb der nationalen Sicherheitsspanne ohne Importe liegen und somit sofort verzichtbar waren, scheint mir aber durchaus Konsens aller Analysen zu sein.

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Sa 19. Mär 2011, 13:32 - Beitrag #66

In den Scienceblogs findet sich unter dem Titel Die Redaktionsschmelze im deutschen Presse-Fall-Out eine m.E. zum nachdenken anregende Darstellung dazu, wie sehr die Berichterstauung von den atomaren Aspekten und wie wenig vom eigentlichen Erdbeben und den daurch verursachten Schäden und Opfern geprägt wird.

Auch wenn das an den ggf. noch drohenden heftigeren atomaren Folgen liegen könnten, die in Europa wohl vielen als relevanter als das Schicksal der lokalen Bevölkerung erscheinen dürften, musste ich bei dem Bericht schon erstmal stutzen.

janw
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Sa 19. Mär 2011, 14:20 - Beitrag #67

009, die Überlagerung der Bebenfolgen durch die Kraftwerksprobleme wurde zumindest in den öffrechtlichen Nachrichtensendungen immer wieder angesprochen, in meinen Augen ist sie auch angemessen, denn für das Land wäre eine Kernschmelze oder ein anderes Ereignis mit Freisetzung des Reaktorinhalts ein weiterer schwerer Schlag, dazu mit Langzeitfolgen.

Letztlich könnte man es auch so sehen, daß ohne die Kernkraftgeschichte Japan jetzt zu einem Randthema geworden wäre, vielleicht noch mit Durchschlag in den Wirtschaftsbereich, und die talkshows der letzten Woche hätten die Frage thematisiert, ob wir jetzt vor dem nächsten Krieg stehen.
Medien sind eine Karawane...

Die Nahrungsmittelkonzerne äußern sich natürlich, in meinen Augen ist das aber ein eher kleineres Problem. Der Import von Fisch aus Japan lag im letzten Jahr, wenn ich gestern richtig gelesen habe, bei 200 Tonnen oder so, nicht eben viel, und der größte Teil dürfte nur von japanischen Fangflotten gefangen worden sein, aber nicht zwangsläufig vor Japan.
Ansonsten, was exportieren sie? Spezialitäten wie Miso - und natürlich Grünen Tee. Ein Glück, daß der aus dem Süden kommt...

Hinsichtlich Spenden ist mir gestern der Gedanke gekommen, daß eigentlich die Kinder mal wieder die Ärmsten sind. Ob das Land es schafft, sie in sicheren Gebieten unterzubringen, vielleicht im milderen Süden?

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Sa 19. Mär 2011, 14:27 - Beitrag #68

Zitat von janw:Die Nahrungsmittelkonzerne äußern sich natürlich, in meinen Augen ist das aber ein eher kleineres Problem.


In dem Kontextund in gewisser Weise: ja - und noch^^. Denn so, wie immer mehr Verbraucher gerne mehr über das von ihnen verzehrte Wissen möchten und für Wissenszuwachs durch Medien aller Art (Sachbücher, Verbrauchersendungen, durch unabhängige vertrauenswürdige Instanzen belegte Aussagen von Herstellern) dankbar sind, scheint sich m.E. zumindest ein Marktpotential mit großem Potential abzuzeichnen, in dem nur noch Erfolg haben kann, wer transparent, offen, authentisch die (Produktions-)Geschehnisse in seinem Unternehmen und auch die eingesetzten Rohstoffe und Zutaten informiert. Während ich dabei bei so manchem Großkonzern eher Schwierigkeiten sehe (denn wie will man zB im offenen und öffentlich sichtbaren Dialog per Blog kommunizieren, dass man "ohne Geschmacksverstärker lt. Gesetz" draufschreibt, aber genau zu dem Behufe für das Produkt/Gericht ansonsten untypische Hefeextrakte einsetzt?), dürfte das eine große Chance für "ethischer" agierende Unternehmer und Unternehmen sein - was aber wenn nicht in diesem Thread weiterzudiskutieren wäre...

janw
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Sa 19. Mär 2011, 14:39 - Beitrag #69

Mein Satz war etwas mist-verständlich formuliert - natürlich begrüße ich es, wenn die Firmen informieren, das konkrete Problem, daß belastete Lebenmittel aus Japan in unseren Läden landen könnten, halte ich aber für eher gering, weil eben...was wird da denn überhaupt importiert, und in welchen Mengen?
Und bei Fisch, kommt er überhaupt aus den belasteten Gewässern?

009
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Sa 19. Mär 2011, 14:43 - Beitrag #70

Jein, ich habe den, gewiss auch aus einem gewissen Sendungsbewusstsein, wohl schon recht verstanden - sehe auch nicht, dass wirklich große Mengen potentiell belasteter Lebensmittel/Fische auf dem Weg nach oder schon in Deutschland sind.

Vor dem Hintergrund nur umso deutlicher, wie manche bereit bei Problemen/Effekten mit nur kleinerer Bedeutung informieren - und andere Firmen beispielsweise eher heiße Luft dazu absondern, warum ihre Produkte nicht billiger werden, wenn in die (fast) gleiche Packung bedeutend weniger abgefüllt wird.

Solchr transparenten Ansätze wie bei Frosta sind nach wie vor absolut exotisch.

Traitor
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Sa 19. Mär 2011, 22:53 - Beitrag #71

Der Blogeintrag ignoriert schon einige Quellen zu relevant erhöhter Strahlung. Dass ein Messpunkt 250km weit weg überhaupt signifikant etwas bemerkt, ist eher ein schlechtes Zeichen, dass es dort keine kritischen Werte sind, relativ klar. Aus Kraftwerksnähe wurden aber durchaus schon Millisievert pro Stunde berichtet, was noch weit von instantaner Schädigung entfernt ist, aber ziemlich schnell erlaubte bis kritische Jahresdosen einbringt.
In Sachen Über- bis Fehlfokussierung der Pressearbeit hat er sachlich aber natürlich Recht. Ganz so schlimm wie er finde ich das aber nicht, denn beim Atomstörfall gibt es immerhin ab und an echt informatives zu berichten, während der zweiunddreißigste "die Menschen dort leiden"-Artikel zum Erdbeben an sich doch auch nur unter Mitleidshascherei und Exploitation fallen würde.

Nahrungsmittelimporte halte ich auch für ein eher irrelevantes Randthema. Gerade was Fisch angeht, habe ich fast das Gefühl, dass mein Followfish-Biolachs aus Kirkenes, Nordnordnordostostnorwegen, N69.758 E29.972, mehr Radioaktivität aus dem Murmansker Atom-U-Boot-Friedhof intus haben dürfte, als es japanischer Fangfisch in den nächsten Monaten abbekommen wird. ;)

janw
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Sa 19. Mär 2011, 23:05 - Beitrag #72

Ja, vor Ort gibt es durchaus Probleme, es ist weiter verbreitet Radioaktivität im Grundwasser zu messen, und z.B. Spinat aus der Region ist kontaminiert und wird aus dem Verkehr gezogen.

Maglor
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Mo 21. Mär 2011, 21:12 - Beitrag #73

Japan importiert ohnehin einen Großteil der Lebesmittel.
Das Grundwasser-Problem bleibt. Wobei da ohnehin fraglich ist, inwieweit es in der Erdbeben- und Tsunami-Unrat-Region überhaupt noch sauberes Wasser gibt. Aber das interessiert ja kaum einen. Was sind schon 20.000 ertrunkene und verschüttete gegen ein paar hundert Feuerwehrleute mit dem Restrisiko einer kurzfristigen Strahlenkrankheit. :rolleyes:

e-noon
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Mo 21. Mär 2011, 21:43 - Beitrag #74

Zitat von Maglor:Wobei da ohnehin fraglich ist, inwieweit es in der Erdbeben- und Tsunami-Unrat-Region überhaupt noch sauberes Wasser gibt. Aber das interessiert ja kaum einen.
Das glaube ich kaum.

Was sind schon 20.000 ertrunkene und verschüttete gegen ein paar hundert Feuerwehrleute mit dem Restrisiko einer kurzfristigen Strahlenkrankheit. :rolleyes:
Ein Unterschied ist, dass die Feuerwehrleute sich dem Risiko ihres eigenen Todes bewusst und freiwillig aussetzen. Die Berichterstattung gilt aber weniger den Feuerwehrleuten, auch wenn diese zu Recht lobend erwähnt werden, als vielmehr dem Risiko eines GAUs, der im Extremfall weit mehr als 20.000 Menschen beeinträchtigen könnte.

janw
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Mo 21. Mär 2011, 22:41 - Beitrag #75

Maglor, die Grundwasserbelastungen durch den Tsunami sind sicher erheblich, aber werden sich auf den Umkreis der zerstörten Siedlungen beschränken. Ich vermute mal, daß Tokio sein Wasser aus den angrenzenden Bergregionen bezieht, vielleicht aus Talsperren, die davon nicht beeinflusst sein dürften, wohl aber durch radioaktives fallout.
Wäre allerdings interessant, darüber näheres zu erfahren.

Wie kommst Du darauf, daß eine Strahlenkrankheit nur kurzfristig sei?

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Di 22. Mär 2011, 14:20 - Beitrag #76

Durchs BildBLOG habe ich mal wieder interessante Texte im Netz finden können, die eine Art refektierenden Meta-Blick auf die Berichterstattung zu Erdbeben, Tsunami und dem Nukleargeschehen werfen.

Der Deutschlandfunk widmet sich dem Zahlen-Zynismus:
Für die Abwicklung dieses zynischen Geschäfts gibt es professionelle Kriterien, nach denen die Tragweite eines Ereignisses für den eigenen Markt bemessen wird: So zählt ein Autobusunglück mit fünf Toten im Inland mehr als eines mit 50 Toten auf einem fernen Kontinent, außer es handelt sich im letzteren Fall um Deutsche. Solches Rechenwesen mit Opferzahlen mag zarten Seelen anstößig erscheinen, doch dahinter steckt nichts anderes als der Versuch, dem irrationalen Schicksal mit Rationalität zu begegnen.

Betrachtet man hingegen die aktuelle Japan-Berichterstattung, so scheint es, dass dort kein Erdbeben stattgefunden hat, sondern ein Reaktorunfall. Es muss sich um einen Reaktorunfall mit vielen tausend Toten handeln, denn seit einer Woche kreisen die Schlagzeilen der deutschen Medien fast ausschließlich das Atomkraftwerk Fukushima und die von ihm ausgehende Strahlengefahr. Durch Verstrahlung ist jedoch bis jetzt, gottlob, kein einziger Mensch ums Leben gekommen. An der Küste landauf und landab liegen indes mehr als 16.000 Leichen, zum größten Teil ungeborgen im Meer oder unter Haustrümmern begraben.

Diese völlige Verkehrung der Verhältnisse hat eine einzige, hässliche Ursache: beim Thema Atomkraft herrscht in Deutschland Rationalitätsverbot. Schon der Schadensvergleich mit anderen Arten der Energieerzeugung wird in der öffentlichen Diskussion konsequent ausgeblendet: In China sterben jedes Jahr mehrere Tausend Bergarbeiter beim Kohleabbau; um mit den Verheerungen, die immer wieder von brechenden Staudämmen angerichtet werden, Schritt zu halten, müssten sich noch etliche atomare Super-GAUs ereignen.

[...]

Bloß für den deutschen Journalismus gilt das nicht. Seit einer Woche geht Möglichkeit vor Wirklichkeit. Statt Berichten gibt es Befürchtungen. Statt Kennzahlen Kann-Zahlen. Natürlich kann es in Daiichi morgen noch ganz schlimm werden. Natürlich kann eine Strahlenwolke bis nach Tokyo ziehen. Ein Taumel des Könnens hat Korrespondenten und Kommentatoren erfasst, die mit Konditionalsätzen um sich werfen. "Es ist nicht auszuschließen, dass ... " lautet eine der beliebtesten Formulierungen, in der freilich die Abdankung des Journalismus liegt. Zyniker der Old School würden sagen: Warten wir mal ab, was passiert. Heutige Journalisten sind aufs Ausschließen erpicht. Der zynische Journalismus war jedenfalls sachlicher.


Einen wunderbaren Gegenblick gerade zum letzten Absatz liefert ein Japanologe der Uni Wien:
Manipulieren japanische Medien die Bevölkerung mit einer einlullenden Berichterstattung? Wird die ohnehin schon bildhafte und oft mehrdeutige japanische Sprache benutzt, um die Wogen zu glätten und die Menschen in der für uns so fremd wirkenden viel zitierten stoischen Ruhe zu halten? „Die großen überregionalen Tageszeitungen berichten seriös, nüchtern, rasch, aber unaufgeregt“, so Roland Domenig vom Institut für Ostasienwissenschaften und Japanologie der Universität Wien. „Man stellt keine Spekulationen an, sondern die Qualitätsmedien in Japan veröffentlichen nur wirklich fundierte Fakten, aber detailliert und in einer neutralen Sprache, die weder übertreibt noch verharmlost.“ Berichtet wird nur von als gesichert geltenden Todesopfern, und hier werde sehr genau gearbeitet. „Begriffe wie ,Todeszone‘ oder ,radioaktive Wolke‘, die in westlichen Medien präsent sind und im eigentlichen Sinne keinen Informationswert besitzen, finden sich nicht in den japanischen Medien, dafür wird der Fokus auf aktuelle Daten sowie ausführliche und leicht verständliche Grafiken gerichtet.“

[...]
In manchen Aussagen meinen Beobachter eine gewisse Unschärfe zu erkennen. Man meint, dass nicht immer alles auf den Punkt gebracht werde. Dies liege aber an der japanischen Sprachverwendung im Allgemeinen und betreffe nicht die aktuelle Berichterstattung im Besonderen. Bewusste Manipulation sei hier nicht zu verorten. So verstünden die Japaner ganz genau, was gemeint ist, wenn sie Formulierungen hören, wie „Man bemüht sich darum...“, „Es scheint so...“, „Dem Informationsstand zufolge...“, während solche Floskeln für uns schwammig und verklärend wirken mögen.

Domenig erklärt es an einem Beispiel: „Wenn ein Japaner hört, dass ,noch große Anstrengungen unternommen werden müssen‘, so weiß er genau, dass in der betreffenden Situation eine gewisse Unsicherheit herrscht. Nur für uns, die nicht wie Japaner bereits im Kindergarten darauf vorbereitet werden, wie man sich bei Erdbeben und Tsunamis verhält und dass die Voraussetzung für ein erfolgreiches Katastrophenmanagement eine gewisse Ruhe und Gelassenheit gepaart mit einer großen Portion Disziplin ist, wirken solche Aussagen zweideutig.“ Ein Japaner hört eindeutig heraus: keine Panik, aber auch kein Aufatmen – abwarten und aufmerksam die Situation verfolgen. Genau das ist die Stimmung, die wir seit über einer Woche im Reich der aufgehenden Sonne mitverfolgen.


Weil der von Grafiken spricht sei noch auf einen Beitrag dieses österreichischen Blogs verweisen, der aufzeigt, dass bei menschen mit Maischberger die verwendete Grafik zur Veranschulichung, wo es in Europa AKW gibt, manche nicht mehr existenten oder nie in Betrieb gegangene verzeichnet sind, während andere übersehen wurden.

Lykurg
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Di 22. Mär 2011, 15:21 - Beitrag #77

Ich frage mich, ob die Berichterstattung bei (und vor!) Tschernobyl, als es tatsächlich singulär um einen GAU ging, neutraler und faktischer war, oder ob wir es hier quasi mit einer dreißigjährigen Konstante in der Berichterstattung zu tun haben. Bei einem solchen Trommelfeuer wären jedenfalls die Sorgen in weiten Teilen der Bevölkerung nicht weiter überraschend. Ständiges Ängstigen führt zu kollektiven Neurosen (ggf. auch zu Aggression). Auch der Spiegel hatte dazu was passendes.

Der Text des Japanologen ist wirklich eine gute Gegendarstellung, man wünschte, es kämen mehr Fachleute zu Wort und weniger Windmacher.

Und ja, natürlich habe ich mich auch erheblich davon manipulieren lassen, der Effekt bleibt ja nicht aus bei einer so umfassend einseitigen Berichterstattung. -> Kritischer und selbständiger denken, eindeutig.

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Di 22. Mär 2011, 15:37 - Beitrag #78

Tja, wenn ichmich besser erinnern könnte...
So nur vage Versatzstücke an Tschernobyl: das es in der UdSSR ein wirklich schrecklich großes Unglück war, bekam ich damals schon mit. Auch, dass die UdSSR (irgendwo der damaligen Zeit und dem kommunistischen System geschuldet) nicht wirklich von Anfang an offen informierte und auch letzlkich wohl jedem halbwegs gebildeten und interessierten bewusst sein konnte, dass dort mehr oder minder Menschen verheizt werden um die Folgen irgendwie noch zu minimieren.

Große Panik und Sorge hier in Deutschland oder auch meiner Familie erinnere ich nicht, obwohl es damals klar war, dass es schon Belastungen und Gefahren gab. Größere und sicherere als es beim aktuellen Fall in Japan ist.

Mehr Einschränkungen erlebte ich beim Urlaub in Bayern, dort wurden die belasteten Wildbestände und auch die Pilze aktiv gemieden.

Als Konsequenz bzw. als Wunsch, was die sein sollte, erinner ich aus meinem Umfeld nur eine weiter hohe und verstärkte Sicherheit in Deutschland, Überprüfungen, was man noch besser machen kann und auch Ansätze, neben der gefühlt Optimierung der schon recht optimalen Sicherheit in D eher auf die Verbesserung der Sicherheit in den Ostblock-Staaten zu setzen, wo man da wohl eher nicht so gründlich war.

janw
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Di 22. Mär 2011, 16:10 - Beitrag #79

Solche Beiträge machen den Deutschlandfunk immer noch zu einem herausragenden der öffentlich-rechtlichen Medien.
Allerdings übersieht der Autor, worum es eigentlich ging, und bei der Kernkraft regelmäßig geht, nicht um die direkte Zahl der Opfer, sondern darum, daß hier tatsächlich ein unbeherrschbarer und beliebig folgenreicher Verlauf drohte, gleich mehrerer Reaktoren, der ggf. eine radioaktive Belastung weiter Landstriche und der dort lebenden Menschen zur Folge gehabt hätte, auch der Opfer der Naturkatastrophe, mit Langzeitwirkung. Bei den geographischen Bedingungen des Landes hätte es auch um den Bestand des Staates als solchen gehen können.
Und immerhin hat das Geschehen in Fukushima auch die Bergungsarbeiten erheblich behindert.

In meinen Augen war das ein sich entwickelndes katastrophales Szenario auf der bestehenden Katastrophe und als solches zu verfolgen.
Der Fehler war IMHO die Art und Weise des Runterbrechens auf die deutsche Situation.
Ganz generell, weniger talkshow wäre mehr Information.

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Do 24. Mär 2011, 14:07 - Beitrag #80

Der ARD-Korrespondent Robert Hetkämpfer berichtet in einem Interview Tagesschau über seinen Aufenthaltund seine Recherchen in Japan:

[...]

tagesschau.de: Es gibt eine Aussage von Ihnen, dass unter den so genannten Fukushima 50, den Arbeitern, die im Kernkraftwerk Fukushima die Reparatur- und Rettungsarbeiten ausführen, auch Arbeitslose und Obdachlose sind. Was hat es damit auf sich?

Hetkämper: Die "Fukushima 50" sind eine Legende, die eine ausländische Zeitung erfunden hat. In Japan hat man das gar nicht so gesehen. Erst später hat man das Thema gewissermaßen als Import aufgenommen.

Es waren, nach allem, was man weiß, nie 50. Es waren viel mehr Mitarbeiter, die abwechselnd immer wieder in das Kernkraftwerk gegangen sind. Das waren Ingenieure, Techniker, aber eben auch einfache Arbeiter. Es muss ja schlichtweg auch aufgeräumt werden. Es sind zum großen Teil auch Leiharbeiter, die dort eingesetzt werden. Der Verdacht lag nahe, dass viele Arbeiter nicht wirklich wissen, was sie da eigentlich tun und sie als Kanonenfutter verheizt werden.

tagesschau.de: Worauf begründete sich Ihre Aussage noch?

Hetkämper: Wir haben ehemalige Kernkraftwerksmitarbeiter gefunden, die darüber geklagt haben, dass sie mehr oder weniger in früheren Jahren verheizt worden sind und ihnen nie gesagt wurde, wie hoch die Strahlung tatsächlich ist. Sie wurden über die wirklichen Gefahren nicht aufgeklärt. Wenn sie erkrankten, zahlte ihnen niemand Kompensation.

Dann haben wir einen Arzt in Osaka gefunden. Er sagte, es sei Usus, in der Kernkraftwerksbranche Obdachlose oder Arbeitslose, Gastarbeiter oder sogar Minderjährige anzuheuern. Wir selber als ARD-Studio Tokio hatten vor vielen Jahren schon mal über Obdachlose in den Straßen von Tokio berichtet. Die hatten uns erzählt, dass sie in Kernkraftwerken eingesetzt wurden. Die Leute sind zu ihnen in den Park gekommen, wo sie lagerten, und haben sie dann für gutes Geld angeheuert, Kernkraftwerke zu reinigen. Da sind offenbar auch viele erkrankt. Das wussten wir.

Wofür wir am Ende keine Bestätigung bekommen haben, ist, dass bei Tepco in diesem Kernkraftwerk in Fukushima tatsächlich Arbeitslose oder Obdachlose beschäftigt waren zu dem Zeitpunkt.

[...]

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