Beschneidungen aus religiösen Gründen sind strafbar

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Malte279
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Mo 23. Jul 2012, 17:14 - Beitrag #61

Und nach wie vor, Deutschland und Judentum, das ist zu heikel für die Klärung dieser Frage.
Das bestreite ich keine Sekunde lang. Deutschland ist der wohl denkbar ungünstigste Kandidat um gerade diese Debatte anzustoßen.
Wenn es aber um die Frage an sich ginge und die Diplomatie keine Rolle spielen würde (ja, dass ist sehr hypotetisch) finde ich aber doch, dass es eine Debatte ist die es verdient hätte ergebnisoffener geführt zu werden (es steht ja fest, dass am Status quo nicht gerüttelt werden wird).
Das Verfügungsrecht der Eltern ist nicht wirklich das Gelbe vom Ei. Das Verfügungsrecht des Staates aber noch viel weniger.
Auch dann wenn die elterliche Entscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, die Folgen einer staatlichen Intervention mit dem Ziel die Entscheidung dem Betroffenenen zuzugestehen aber sehr wohl?

Ipsissimus
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Mo 23. Jul 2012, 17:28 - Beitrag #62

Auch dann wenn die elterliche Entscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, die Folgen einer staatlichen Intervention mit dem Ziel die Entscheidung dem Betroffenenen zuzugestehen aber sehr wohl?


na ja, psychische Prägungen können auch nicht mehr rückgängig gemacht werden. Und wenn ein als Baby beschnittener Jude mit 25 Jahren, seinen eigenen Einsichten folgend, plötzlich kein Jude mehr ist, wird er feststellen, dass die beschnittene Vorhaut aus der individuellen Perspektive überhaupt nichts mit Judentum zu tun hat, dass man eben auch als beschnittener Mann kein Jude sein kann. Dass die Religionszugehörigkeit trotz des Beschnitts aus Pass und Register ausgetragen wird.

Dass dies aus der kirchlichen Perspektive nicht zur Aufgabe der Religionszugehörigkeit führt, kann einem einsichtigen Menschen genau so gleichgültig bleiben wie die analoge Meinung der katholischen Kirche zur ewigen Gültigkeit der Taufe.

Und desweiteren laufen genügend viele nichtjüdische beschnittene Männer herum, dass auch keine Gefahr besteht, Frauen würden zwangsläufig auf Jude tippen müssen, wenn sie mit einem beschnittenen Gemächt konfrontiert werden.

Maglor
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Mo 23. Jul 2012, 18:53 - Beitrag #63

Nicht umsonst wird in der Bibel an mehreren Stellen die Beschneidung des Herzens gefordert. ;)

Zu Südafrika:
In Südafrika hat die rituelle Beschneidung der Männer bei mehreren Volksgruppen als Initiationsritual eine lange Tradition - jedoch völlig unabhängig von Islam und Judentum. (Auch ist es örtlich durchaus üblich die Gesichter der Kinder anzuritzen, sodass sich bedeutungsvolle Narben bilden.)
Gerade bei die Xhosa, aus deren Reihen die Post-Apartheids-Ikonen Nelson Mandela und Desmond Tutu stammen, halten die Beschneidung für einen eklatanten Bestandteil ihrer Kultur - trotz oder gerade wegen der damit verbundenen Gefahren.
Jedes sterben einige dutzend Südafrikaner an den Folgen der rituellen Beschneidung der Vorhaut. Das HI-Virus können sie dann nicht verbreiten.
Seit einigen Jahren gibt es wahre Beschneidungswellen unter Zulu und Swazi. Der Aberglaube breitet, die Beschneidung schütze vor Aids, breitet sich genauso rasant aus wie der rituelle Kannibalismus.

Ipsissimus
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Di 24. Jul 2012, 09:29 - Beitrag #64

Der Aberglaube breitet [sich aus], die Beschneidung schütze vor Aids


wenn die WHO das wie angesprochen propagiert, ist es per definitionem kein Aberglaube^^ wer sind wir, die politischen Absichten der WHO zu hinterfragen^^

janw
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Di 24. Jul 2012, 14:09 - Beitrag #65

Zitat von Ipsissimus:Jan, worauf ich hinaus will, ist doch nur eine einzige Sache: wenn wir das Menschenrecht der Religionsfreiheit in der Weise, wie es in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinigten Nationen, die auch Deutschland unterschrieben hat, als fundamentales Menschenrecht begreifen, haben wir keinen legalen Angriffspunkt gegen die Riten einer Religion.

In Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) finden wir:

(1) Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu bekunden.

(2) Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde.

(3) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, darf nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind.

(4) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Freiheit der Eltern und gegebenenfalls des Vormunds oder Pflegers zu achten, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen.

Besonders Absatz 2 und 4 halte ich im Kontext für beachtenswert.

Naja, die Beschneidung als körperliches Zeichen früher Religionszugehörigmachung könnte auch nach (2) als Beeinträchtigung für die Annahme einer anderen Religionszugehörigkeit angesehen werden - Konversion vom Islam zu anderer Religion einschließlich Atheismus...

(3) eröffnet mit der Einschränkung der Religionsfreiheit durch Gesetze zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Grundrechte anderer (Kind) Möglichkeiten zur Beschränkung der Beschneidung.

Deswegen trete ich schon seit langem für eine Abschaffung eines eigenen Rechts auf Religionsfreiheit zugunsten der Eingliederung in eine allgemeine Meinungsfreiheit ein, innerhalb derer Religionsfreiheit alle Freiheiten und Grenzen jeglicher Meinungsfreiheit teilen würde. Auf dieser Grundlage könnten invasive Initiationsriten problemlos hinterfragt und nötigenfalls verboten werden - was dann allerdings wiederum dazu führen würde, dass betroffene Religionen sich aller Wahrscheinlichkeit nach radikalisieren würden.

Eine solche Radikalisierung wäre denkbar, auch im Falle einer diesbezüglichen Regelung durch die Religionsgemeinschaften selbst.
Vielleicht wäre es eine Alternative, die Praxis zu verbieten, aber straffrei zu stellen, und dann den Betroffenen durch eine entsprechend lange Verjährungszeit die Möglichkeit zu geben, als Erwachsene dagegen vorzugehen.

Trotzdem wäre selbst in diesem Fall das problematische Verhältnis Deutschland - Judentum nicht vom Tisch. Ich empfinde es nach wie vor als anmaßend, wenn Deutsche Angehörigen der jüdischen Religion vorschreiben wollen, wie die ihre Religion auszuleben haben. Das Problem ist deswegen deutlich anders gelagert als das Problem Frauen und katholische Kirche, weil eben das Judentum nicht nur Religionszugehörigkeit sondern auch Volkszugehörigkeit ist.

Das Problem sehe ich genauso, ich weiß nur nicht...machen wir damit nicht die Kinder zu Geiseln der Geschichte?

Ansonsten läufst du bei mir bzgl der katholischen Kirche und Frauen offene Türen ein. Auch das wäre mit der genannten Integration zu lösen.

Ist die Gleichberechtigung von Frauen nicht eine Sache der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Grundrechte [anderer=der Frauen]? ;)

Mit welchem Recht wurde eigentlich die Praxis von Thelema bekämpft?

Ipsissimus
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Di 24. Jul 2012, 14:19 - Beitrag #66

mit dem Recht des Stärkeren? ^^

janw
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Di 24. Jul 2012, 14:47 - Beitrag #67

Wahrscheinlich war Thelema einfach zu jung...

Ipsissimus
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Di 24. Jul 2012, 14:52 - Beitrag #68

ach, Swingerclubs hatte es vorher schon gegeben^^

Das Problem sehe ich genauso, ich weiß nur nicht...machen wir damit nicht die Kinder zu Geiseln der Geschichte?


ja und?

janw
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Di 24. Jul 2012, 16:37 - Beitrag #69

Richter zum Kläger, der gegen seine Beschneidung als Kind klagt:
"Sie könnten vielleicht wie in Frankreich dagegen klagen, oder es wäre Ihnen vielleicht auch nicht angetan worden, wenn Deutsche nicht früher..."


Naja gut, vielleicht reden wir hier wirklich um das letzte bischen Sahne auf dem Grundrechtekuchen, wo 90% der Kinder nichtmal von der Möglichkeit von Belag auf dem Teig wissen^^

Lykurg
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Di 24. Jul 2012, 16:50 - Beitrag #70

Naja gut, vielleicht reden wir hier wirklich um das letzte bischen Sahne auf dem Grundrechtekuchen, wo 90% der Kinder nichtmal von der Möglichkeit von Belag auf dem Teig wissen^^
Und davon die Hälfte nicht, wo sie das Mehl hernehmen sollen. Einem großen Teil der Welt wäre ein Beschneidungsverbot jedenfalls nicht vermittelbar - auch in den USA z.B. dürfte sich wenig Verständnis dafür finden.

janw
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Di 24. Jul 2012, 17:48 - Beitrag #71

Vermittelbarkeit hat sonst auch nie interessiert, und wenn es nach den usa ginge, hätten wir Vollbewaffnung.

Die Frage ist berechtigt, ob nicht zu konsequente Grundrechtsdurchsetzung zum Verlust an tradierten Usancen und Freiheiten führt und wo hier die Angemessenheitsgrenze verläuft.
Ich persönlich empfinde die Beschneidung an Kindern unangemessen, zumal sie in der Folgezeit durchaus schmerzhaft ist. Ich weiß das noch von meiner Phimose-OP...
Und sie ist eben ein irreversibler Eingriff in einem der sensibelsten Körperbereiche
Von daher spräche für mich nichts dagegen, sie im Erwachsenenalter rechtlich angreifbar zu machen.

Ipsissimus
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Do 26. Jul 2012, 11:38 - Beitrag #72

Ich weiß nicht, Jan. Den größten Teil der Irreversibilität sehe ich eher in den Projektionen gegeben, die sich an die Beschneidung heften. Natürlich ist die Beschneidung auf anatomischer Ebene nur durch eine Operation rückgängig zu machen. Andererseits, wer sich mit seiner Religionszugehörigkeit überhaupt soweit auseinandersetzt, dass er sich dazu entscheiden kann, die Religion zu verlassen, dem traue ich auch die Kompetenz zu, die damit verbundenen religiösen Vorstellungen als gegenstandslos zu entlarven.

Malte279
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Do 26. Jul 2012, 12:22 - Beitrag #73

Natürlich ist die Beschneidung auf anatomischer Ebene nur durch eine Operation rückgängig zu machen.
Ist sie dass? Gibt es eine Operation die es erlaubt die Beschneidung "rückgängig zu machen"? Was genau wird da denn dann angenäht?

Ipsissimus
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Do 26. Jul 2012, 12:56 - Beitrag #74

meiner Aussage fehlt ein "wenn überhaupt", sorry. Allerdings kann sogar die Klitoris-Beschneidung von Mädchen wieder rückgängig gemacht werden, sogar unter voller Wiederherstellung des Lustempfindens, da würde es mich wundern, wenn es beim Manne nicht ginge.

eine überaus tiefgründige Reflektion

http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/beschneidungsdebatte-unsere-seltsame-tradition-11827726.html

daraus:
Das Urteil der nichtjüdischen Richter in Köln sollte Anlass für zwei urjüdische Akte sein: nachdenken und diskutieren. Wir brauchen keine Rechtssicherheit, sondern eine Denkpause. Juden sollten die kommenden 15 Jahre in Deutschland nutzen, um sich zu vergegenwärtigen, warum sie ihre Söhne beschneiden: ob sie das wirklich wollen oder nur aus Angst davor tun, anders zu sein. Die Feier des Brith am achten Tag nach der Geburt könnte ein wichtiger symbolischer Akt werden, in dem der Vater nicht seinen Sohn zu seiner Religion verdonnert, sondern sich selbst dazu verpflichtet, ihm ein bedeutungsvolles Judentum vorzuleben und zu übermitteln.

Lykurg
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Do 26. Jul 2012, 21:29 - Beitrag #75

Ja, ein guter Artikel, der genau zeigt, wie eine solche Veränderung laufen sollte - und klar sagt, daß eben das Kölner Urteil in dieser Hinsicht nicht hilfreich ist.

Zu der Beschneidung-gegen-Aids-Debatte und der Propagierung der Beschneidung durch die WHO dieser Blogeintrag von Brian Earp. Die zugrundeliegenden Studien sind offenbar aus medizinischer Sicht sehr dünn. Was mich am Blogeintrag stört, ist sein "Step 2", da der Verfasser anscheinend die Bedeutung von auch nur wenigen Prozentpunkten nicht erkennt - aber der Rest ist schwerwiegend genug, insbesondere das Argument, daß beschnittene Männer durch Hörensagen dazu gebracht werden, aufs Kondom zu verzichten, 'da sie nun sicher vor Aids sind' - und die überaus ungleichartige Behandlung der Versuchspersonen. Ich denke, die Einschätzung des Autors, daß zumindest diese Studie hinfällig und potentiell gezielt manipuliert ist, mit furchtbaren Folgen, trifft zu.

janw
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Sa 28. Jul 2012, 11:59 - Beitrag #76

Zitat von Ipsissimus:Ich weiß nicht, Jan. Den größten Teil der Irreversibilität sehe ich eher in den Projektionen gegeben, die sich an die Beschneidung heften. Natürlich ist die Beschneidung auf anatomischer Ebene nur durch eine Operation rückgängig zu machen. Andererseits, wer sich mit seiner Religionszugehörigkeit überhaupt soweit auseinandersetzt, dass er sich dazu entscheiden kann, die Religion zu verlassen, dem traue ich auch die Kompetenz zu, die damit verbundenen religiösen Vorstellungen als gegenstandslos zu entlarven.

Meines Wissens ist die Beschneidung irreversibel, die Vorhaut ist nicht nur gut innerviert, was vielleicht mit angrenzendem Gewebe wieder hinzukriegen wäre, sondern enthält besonders viele Tastkörperchen, die nicht aus angrenzendem Gewebe übernommen werden können.
Die Entlarvung der religiösen Vorstellungen hilft da nicht weiter.

Trotzdem erregt die juristische Federstrich-Methode, mit der das Thema behandelt wird, auch bei mir Unwohlsein, darüber kann nicht einfach ein Landgericht - in einer zudem etwas fragwürdigen Art und Weise, die Überprüfungen ausschließt (http://verfassungsblog.de/das-beschneidungsurteil-aus-kln-und-die-frage-wozu/)- entscheiden, bzw. kann ein solches einzelfallbezogenes Urteil keine Grundsatzwirkung beanspruchen, wie auch ein in Eile durch den Bundestag gepeitschter Persilschein nicht geht.

Letztlich ist die Sache auch im Zusammenhang mit der rechtlichen Behandlung anderer religiöser Bräuche zu betrachten, dem Schächten z.B.

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Sa 28. Jul 2012, 13:15 - Beitrag #77

Dieser "Die Frage wozu"-Eintrag ist sehr gut. Er zeigt die Bösartigkeit des Urteils ebenso wie seine Folgen - und der Wozu-Absatz trifft genau mein Empfinden. Lohnnd ist aber auch der von dort aus verlinkte Eintrag zur verfassungsrechtlichen Seite des Urteils - der ebenfalls zum Ergebnis kommt, es sei ungültig. Der Verfasser stellt fest, daß das Gericht auf einer sehr fragwürdigen Basis urteilte:
Zitat von Verfassungsblog:Das dritte Argument des LG besagt, dass diese Veränderung dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwiderläuft. Hier fragt sich, woher das LG die Interessen des Kindes kennt? Woher weiß es, dass das Kind ein Interesse daran hat, eines Tages selbst zu entscheiden? Das Argument ist Unterstellung. Zwar mag es ein erzieherisches Konzept sein, Kinder „unbeeinflusst“ groß werden zu lassen, damit sie am Ende „frei“ entscheiden, doch abgesehen davon, dass bereits die Nichtbeeinflussung ihrerseits eine Beeinflussung ist, ist es Sache der Eltern und nicht des Gerichts, die Interessen des Kindes zu formulieren, solange dem nichts entgegensteht – was nach wie vor die Frage ist.
Ich habe an anderer Stelle ebenfalls gelesen, daß sich die männliche Vorhaut wiederherstellen läßt, einschließlich (zumindest eines Teils) der Nerven.

Maglor
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Sa 28. Jul 2012, 18:22 - Beitrag #78

Ein Austritt aus dem Islam ist eigentlich zwar möglich, endet aber ausgesprochen häufig tödlich. Das islamische Recht fordert die Todesstrafe für den Abfall vom Islam.
Im Grunde impliziert das dritte Argument des Urteils, der Eintritt in die islamische Religionsgemeinschaft widerspreche den Interessen des Kindes, sei daher etwas schlechtes. Das kann ja nur bedeuten, dass Muslime eigentlich nicht erwünscht sind.

Eine Übertragbarkeit auf die jüdische Beschneidung ist eigentlich nicht ohnen weiteres gegeben. Das Gericht hält es für islamische Eltern für zumutbar mit der Beschneidung des Sohnes bis zum 12 Lebensjahr zu warten - also bis zu dem Alter, in dem der Sohn bereits selbst dem Eingriff zustimmen könnte.
Ob es einer jüdischen Familie zuzumuten wäre 12 Jahre lang mit einem unreinen Kinde unter einem Dach zu leben, ist die andere Frage.
Ein Unbeschnittener, ein Mann, bei dem die Vorhaut nicht entfernt wurde, muss von seinem Stammesverband beseitigt werden. 1. Mose 17.14

Eigentlich halte ich die Frage des Religionseintritts nebensächlich, ebenso wie die Frage der chirurgischen Rekonstruierbarkeit der Vorhaut.
Entscheidend für das Landgericht Köln war, dass es sich bei der Beschneidung um Gewalt. Das ist die Bösartigkeit des Urteils.
Alles andere ist von der strafrechtlichen Seite eher nebensächlich.
Genausogut könnte es ja erlaubt werden die eigenen Kinder derart zu misshandeln, solange dies medizinisch noch rekonstruierbar ist.

janw
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So 29. Jul 2012, 01:32 - Beitrag #79

Zitat von Lykurg:Ich habe an anderer Stelle ebenfalls gelesen, daß sich die männliche Vorhaut wiederherstellen läßt, einschließlich (zumindest eines Teils) der Nerven.

Wie gesagt, es geht nicht um die Nerven, sondern um die Tastsinnesorgane in der Haut. Die wachsen nicht nach.
Auch wird wohl ohne die schützende Vorhaut die Haut der Eichel härter und weniger sensibel.
Von daher handelt es sich in meinen Augen klar um eine Form körperlicher Gewalt.
Die Frage ist nur, ob die an sich verbotene Gewalt durch ihre religiöse Bedeutung erlaubt ist.

Das Gericht macht sich diesen Teil der Entscheidung zu leicht.

Zitat von Lykurg:Dieser "Die Frage wozu"-Eintrag ist sehr gut. Er zeigt die Bösartigkeit des Urteils ebenso wie seine Folgen - und der Wozu-Absatz trifft genau mein Empfinden.

Naja, lies nochmal genauer:
Zitat von Verfassungsblog:Meiner Meinung nach liegt die Antwort auf der Hand: Hier geht es darum, zu verhindern, dass Leute als Muslime oder Juden geboren werden. Hier geht es darum, Religionen, oder jedenfalls: diese beiden Religionen zu Vereinen downzugraden, denen man, sobald man die dazu nötige Mündigkeit besitzt, beitreten kann, wenn man unbedingt will.

Mit anderen Worten: Das LG Köln macht das Strafrecht zu einem Mittel eines antireligiösen Kulturkampfs. Wer das für liberal und aufgeklärt hält, sollte noch mal nachdenken.

Niemand wird als Jude oder Moslem geboren...
Die Bewertung des Autors hinsichtlich des aus seiner Sicht nicht gegebenen "Mißhandlungswertes" der Beschneidung teile ich nicht.

Das Gericht macht den Fehler, daß es den dem Kind zugefügten Schaden ausschließlich darin sieht, daß es später in der freien Wahl der religiösen Zugehörigkeit behindert wird.
Hiermit fällt es hinter den zuerst festgestellten Tatbestand der Körperverletzung zurück und macht sich den Glaubensinhalt zu eigen, daß die Beschneidung konstitutiv für die Religionszugehörigkeit sei, aus dem Menschen einen Angehörigen der jüdischen oder islamischen Glaubensgemeinschaft mache.

Ein Problem dabei ist IMHO, daß diese doxa in den Religionsgemeinschaften gar nicht als allgemein verbindlich gesehen wird: Die Beschneidung ist im Islam nicht vorgeschrieben und wird darauf zurückgeführt, daß Mohammed beschnitten gewesen sei.
Im Judentum wird die Praxis wohl auch in Teilen flexibel gehandhabt, so ließ Theodor Herzl seinen Sohn nicht beschneiden.

Das Gericht ist einem solchen Pfad nicht gefolgt, aufgrund der Unwägbarkeiten des weltanschaulichen Terrains sicher verständlich, aber es leistet damit unwillkürlich den Strenggläubigen Vorschub.
Schlimmer ist, daß es keine Abwägung der konkurrierenden Grundrechtsgüter vorgenommen hat.

Zitat von Maglor:Entscheidend für das Landgericht Köln war, dass es sich bei der Beschneidung um Gewalt. Das ist die Bösartigkeit des Urteils.

Was siehst Du daran als bösartig an?

Lykurg
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So 29. Jul 2012, 09:59 - Beitrag #80

Zitat von janw:Niemand wird als Jude oder Moslem geboren...
Die Bewertung des Autors hinsichtlich des aus seiner Sicht nicht gegebenen "Mißhandlungswertes" der Beschneidung teile ich nicht.
Das ist deine säkulare Sichtweise. Aus jüdischer Sicht ist Jude, wer eine jüdische Mutter hat, Moslem aus muslimischer Sicht, wer einen Moslem zum Vater hat (was mich aus naheliegenden Gründen schon immer fasziniert hat). In dem Moment, in dem das Gericht (oder du) diese Tradition für nichtig erklärt, wird aus ihrer Sicht bereits ein Grundrecht verletzt. Mit welchem Recht mahnt der Richter sich an, religiöse Prinzipien außer Kraft zu setzen? - Und das ist meiner Meinung nach sehr ernst zu nehmen]Das Gericht macht den Fehler, daß es den dem Kind zugefügten Schaden ausschließlich darin sieht, daß es später in der freien Wahl der religiösen Zugehörigkeit behindert wird.
Hiermit fällt es hinter den zuerst festgestellten Tatbestand der Körperverletzung zurück und macht sich den Glaubensinhalt zu eigen, daß die Beschneidung konstitutiv für die Religionszugehörigkeit sei, aus dem Menschen einen Angehörigen der jüdischen oder islamischen Glaubensgemeinschaft mache.[/QUOTE] Das tut es doch gerade nicht. Wäre das der Fall, hätte das Gericht direkt über die Religionszugehörigkeit entschieden - was schon dreimal nicht geht. Nein, es geht ja in dem Urteil konkret um den beschneidenden Arzt und damit um die Frage, ob es sich um Körperverletzung handelt. Und das Ergebnis ist quasi ein "ja, aber er konnte das nicht wissen".
Im Judentum wird die Praxis wohl auch in Teilen flexibel gehandhabt, so ließ Theodor Herzl seinen Sohn nicht beschneiden.

Das Gericht ist einem solchen Pfad nicht gefolgt, aufgrund der Unwägbarkeiten des weltanschaulichen Terrains sicher verständlich, aber es leistet damit unwillkürlich den Strenggläubigen Vorschub.
Schlimmer ist, daß es keine Abwägung der konkurrierenden Grundrechtsgüter vorgenommen hat.
Es gibt sehr vereinzelt Juden, die auf die Beschneidung verzichten - aus den verschiedensten Gründen. Es gibt auch eine bereits biblische Ausnahmeregelung für Nachkommen von Familien, in denen in der Vergangenheit gehäuft Probleme bei der Beschneidung auftraten. Aber was du da hinstellst, ist reines Wunschdenken, und das kannst du unmöglich zur Grundlage einer gerichtlichen Regelung machen. Ich hatte bereits die entsprechende Bibelstelle mit dem Beschneidungsgebot zitiert - die läßt nicht viel Zweifel offen. Und "den Strenggläubigen" Vorschub leisten - da kann ich nur noch den Kopf schütteln. Selbst wenn das so wäre, und es sich 'nur' um eine orthodoxe Praxis handelte, und die sind ja eh die Bösen... was meinst du, worüber ein Kölner Landgericht eigentlich nebenbei noch so alles entscheiden soll... Bild

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