Beschneidungen aus religiösen Gründen sind strafbar

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Maglor
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Mo 30. Jul 2012, 19:26 - Beitrag #81

Zitat von janw:Was siehst Du daran als bösartig an?

Bösartig an der Bewertung der Beschneidung als Akt der Gewalt, ist das dieser Kritik nichts mehr erwidert werden.

Der Vollständigkeit halber, verweise ich noch auf den den durchdachten Rat des Postillions zur Gesetzesänderung.
Das wird sicherlich ein schwieriges Unterfangen, da die Politiker ja an der Bigotterie festhalten möchten, die männliche Genitalverstümmelung aus religiösen Gründen in allen Fällen zu erlauben, die weibliche hingegen in allen Spielarten zu verbieten.

janw
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Mo 30. Jul 2012, 21:44 - Beitrag #82

Naja, die Einstufung in eine qualitative Dimension (gut, schlecht, nützlich, schädlich, Gewalt,...) ist die Voraussetzung dafür, daß überhaupt ein diskussionswürdiges Thema entsteht jenseits reiner Geschmackssache.

Die Gewalteinstufung liegt IMHO nicht fern, weil es Leid (Schmerzen, nicht natürliche Entwicklung, nicht rückgängig zu machender Verlust unter augezwungener Verursachung) verursacht, rechtlich ist die Einstufung als Körperverletzung zwanglos möglich.

Bigotterie könnte eher darin gesehen werden, daß die ebenfalls religiös gebotene Methode des Schächtens eher diskutiert wurde als die Beschneidung, und praktisch verboten wurde, trotz deutlich unsichererer Schädlichkeitseinstufung. Tiere sind hierzulande mehr wert, als Kinder.... :rolleyes:

Und geh nur mal als Schamane los, um Dir den für Deine kultischen Handlungen unverzichtbaren Biberpelz zu erjagen; schon bei der Herstellung des Speeres aus Eibenholz fängt es an ;)


Das ist so ein Punkt, der mir seit einigen Tagen durch den Kopf geht - es handelt sich bei der Beschneidung um ein archaisches Ritual, das gedeutet werden kann als darauf gerichtet, Kontrolle über die Männer der Gemeinschaft zu bekommen durch Verringerung ihrer sexuellen Empfindsamkeit.
Wie auch immer, es ist archaisch, und trägt das vielleicht zu der verbreiteten Aversion bei - eine versteckte Abwehr des Archaischen?

Lykurg, Du bekommst auch noch eine Antwort :)

Ipsissimus
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Di 31. Jul 2012, 10:18 - Beitrag #83

ich denke nach wie vor, das Problem ist nicht auf nationaler Ebene lösbar. Wir können uns nicht großartig Religionsfreiheit als Teil der allgemeinen Menschenrechte nach UN-Charta und Erbe der Aufklärung auf die Fahnen schreiben, dann aber versuchen, den Religiösen vorzuschreiben, wie die ihre Religionen zu gestalten haben. Dann wäre es ehrlicher zu sagen, dass wir auf Religionsfreiheit pfeifen, wo religiöse Riten uns nicht passen.

Malte279
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Di 31. Jul 2012, 10:30 - Beitrag #84

Dass dass Problem auf nationaler Ebene nicht gelöst werden kann sehe ich auch so, aber was dies betrifft...
Wir können uns nicht großartig Religionsfreiheit als Teil der allgemeinen Menschenrechte nach UN-Charta und Erbe der Aufklärung auf die Fahnen schreiben, dann aber versuchen, den Religiösen vorzuschreiben, wie die ihre Religionen zu gestalten haben. Dann wäre es ehrlicher zu sagen, dass wir auf Religionsfreiheit pfeifen, wo religiöse Riten uns nicht passen.
...kann man ebenso gut sagen dass wir uns dass recht auf Unverletzlichkeit des Körpers auf die Fahnen geschrieben haben und dass Prinzip, dass man nicht ohne medizinische Notwendigkeiten irreversible medizinische Eingriffe an Babys vornehmen darf, sowie dass die eigene religiöse Freiheit sich nicht auf das Verletzen anderer Personen erstreckt, dass wir aber auf all dies pfeifen wenn irgendwelche archaischen religiösen Riten dies fordern.
Da im einen Fall bei Zustimmung des Betroffenen die Beschneidung nachgeholt werden könnte die Folgen im anderen Fall aber wohl nicht mehr zu ändern wären finde ich den ersten Pfiff doch nachwievor wesentlich misstönender als den zweiten.

Ipsissimus
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Di 31. Jul 2012, 10:35 - Beitrag #85

Offen gesagt, ich halte es für an den Haaren herbeigezogen, die Beschneidung als Körperverletzung zu bewerten. In Zeiten, in denen alles mögliche juristisch eingeklagt werden kann, weil es vor allem um große Schmerzensgeldforderungen geht, mag "Körperverletzung" ein großes Problem sein. In strafrechtlicher Hinsicht verzichte ich aber nicht darauf, "Körperverletzung" anhand der zugrunde liegenden Absichten zu bewerten. Und die lauten im Fall der Beschneidung nicht "schade dem Körper deines Kindes" sondern "führe dein Kind dem höchstvorstellbaren Guten, der richtigen Religion, zu".

Malte279
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Di 31. Jul 2012, 10:56 - Beitrag #86

In diesem Punkt schließe ich mich janws Meinung an:
Die Gewalteinstufung liegt IMHO nicht fern, weil es Leid (Schmerzen, nicht natürliche Entwicklung, nicht rückgängig zu machender Verlust unter augezwungener Verursachung) verursacht, rechtlich ist die Einstufung als Körperverletzung zwanglos möglich.

Das Abschneiden von nicht nachwachsenden, schmerzempfindlichen Teilen des Körpers halte ich für eine Verletzung und eine Verletzung auch wenn sie aus religiösen Motiven begangen wird bleibt nichtsdestoweniger eine Verletzung. Wenn sie dann ohne den ausdrücklichen Willen des Betroffenen ausgerechnet an einem nicht entscheidungsfähigen Säugling vorgenommen werden muss dann sehe ich schon einen Fall bei dem Religionsfreiheit allein ein etwas fragwürdiges Argument ist.

Ipsissimus
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Di 31. Jul 2012, 12:17 - Beitrag #87

Warum sagen wir nicht einfach, dass wir auf Religionsfreiheit pfeifen? Wegen der daraufhin ausbrechenden Religionskriege? Aber Kriege sind doch ohnehin allgegenwärtig. Mensch muss ja nicht der Meinung sein, dass Religion wichtig ist. Wenn aber Menschen, denen sie wichtig ist, begreifen, dass ihnen das Wichtigste überhaupt weggenommen werden soll, geht es rund. Dann wird man sehen, dass Arabien überall ist.

Es ist nicht nur eine Aufhebung der Religionsfreiheit, wenn der Zugang zu einer Religion verwehrt wird, es ist außerdem auch ein massiver Eingriff in die elterliche Richtungskompetenz, die nach allen bisher geübten Praktiken und Traditionen eben bestimmen dürfen, in welche Richtung sie ihr Kind steuern wollen. Rechtsstaatlichkeit und totalitäre Systeme trennen sich auch an diesem Punkt.

Malte279
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Di 31. Jul 2012, 15:58 - Beitrag #88

Mein Verständnis von Religionsfreiheit sieht vor, dass jeder Mensch für sich selbst glauben darf was er oder sie möchte. Wenn er oder sie glaubt, dass alle die nicht der eigenen Vorstellung folgen in die Hölle kommen so ist das schade, aber hinnehmbar solange die Person aus diesem Glauben kein Recht ableitet andere missionieren und verbal (oder in sonst einer Weise) angreifen zu müssen wenn sie sich nicht missionieren lassen wollen.
An anderen Personen als der eigenen nicht rückgängig zu machende Operationen ohne deren Einverständnis vorzunehmen halte ich für nicht von der Religionsfreiheit gedeckt, da es sich hier eben nicht nur um eine Person handelt. Da sehe ich dass Recht einer Person auf Selbstbestimmung und Unverletzlichkeit des eigenen Körpers als wichtigeres Gut an. Ich schätze in diesem Punkt müssen wir einfach festhalten dass wir unterschiedlicher Meinung sind und keiner von uns beiden von der eigenen Sicht abweichen wird falls der Andere nicht noch irgendwelche bislang nicht genannten Argumente für den eigenen Standpunkt vorbringen kann.

PS: Auf die Religionsfreiheit pfeifen tue ich übrigens keineswegs. Ginge es um ein Gesetz das mündigen Menschen verbietet sich auf Grund ihrer Entscheidung beschneiden zu lassen würde ich dies ebenfalls als nicht tolerierbaren Eingriff in die Religionsfreiheit sehen. Aber selbst wenn man den (aus meiner Sicht doch sehr entscheidenden) "physischen Aspekt" bei der Beschneidung komplet ausblendet könnte man hier die Religionsfreiheit des Kindes zugunsten der Vorstellungen der Eltern beschnitten sehen. Das gleiche gilt natürlich für die Taufe, aber eben da halte ich die Dauerhaftigkeit und Unumkehrbarkeit des Eingriffs doch für zu wichtig um ihn Auszublenden.

Maglor
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Mo 6. Aug 2012, 19:27 - Beitrag #89

Die Religionsfreiheit laut Grundgesetz versichert den Eltern ihren unmündigen Kindern eine Religionszugehörigkeit aufzudrücken und im Sinne dieser zu erziehen.
Rechtlich problematisch ist daher tatsächlich nur die fleischliche Seite und da ist eben die Grenze der Religionsfreiheit erreicht.

Ipsissimus
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Do 9. Aug 2012, 15:00 - Beitrag #90

ich denke nach wie vor, ein Gesetz, dass die Kinder vor religiöser, also ideologischer Indoktrination schützt, wäre sehr viel wichtiger. Die Bemühung des Körperverletzungsaspektes bei einer so harmlosen Geschichte erscheint mir ... feige^^ die seelischen Wunden, die von den Grausamkeiten einer religiösen Erziehung geschlagen werden, die haben sehr viel weitreichendere Folgen.

Und es hat mir auch noch niemand die Frage des "höheren Gutes" beantwortet. Warum akzeptieren wir die mit Impfungen einhergehende Körperverletzung? Warum überlassen wir es nicht den mündig gewordenen Menschen zu entscheiden, ob sie geimpft werden wollen? Wegen des von Medizinern behaupteten "höheren Gutes" der Volksgesundheit? Was für wahr zu halten wir alle verpflichtet sind? Das "höhere Gut" der Religiösen ist die Religionszugehörigkeit, die formal das höchste Gut, die ewige Verbundenheit mit der Gottheit sichert. Es gibt in diesem Sinne noch nicht mal theoretisch ein höheres Gut. Warum akzeptieren wir es für die Religiösen nicht?

Weil wir, die Säkularen, nichts damit anfangen können. Weil wir glauben, die Religiösen spinnen. Dann sollten wir es so sagen, und in unseren Gesetzen so formulieren. Beschneidung verboten wegen Spinnerei und erwiesenem Blödsinn. Und die Taufe ist gleich mit verboten, inklusive der Nottaufe^^ ist die gleiche Art Spinnerei

Malte279
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Do 9. Aug 2012, 18:14 - Beitrag #91

Und es hat mir auch noch niemand die Frage des "höheren Gutes" beantwortet. Warum akzeptieren wir die mit Impfungen einhergehende Körperverletzung? Warum überlassen wir es nicht den mündig gewordenen Menschen zu entscheiden, ob sie geimpft werden wollen?
Dazu gab es mehrere Antworten.
Von Maglor:
Der Vergleich hinkt. Eine Impfung ist keine Erziehungsmaßnahme sondern medizinische Vorsorge.

Von mir:
Zudem ist eine Impfung für gewöhnlich auch nicht nach außen hin sichtbar und führt nicht zu der nicht rückgängigzumachenden Entfernung eines Stücks vom Körper.

Von Lykurg (in Erwiderung auf meine Aussage, dass eine Impfung für gewöhnlich nicht nach außen hin sichtbar ist):
Nicht jede Impfung, die Pockenimpfung aber z.B. schon.

Von janw:
Sieht man davon ab, daß manche Impfungen nur erfolgen, um das Gewese mit Kinderkrankheiten zu umgehen, unter Inkaufnahme gelegentlicher und nicht immer ganz harmloser Nebenwirkungen und einer geringeren allgemeinen Aktivierung des Immunsystems, und der letzten Impfaktionen gegen Pocken mit dem politischen Ziel, diese ein und für allemal auszurotten, dienen Impfungen dazu, teilweise schwerwiegende Erkrankungen zu verhindern. Von daher würde ich sie nicht gleichsetzen mit einem körperlichen Eingriff, bei dem einem Menschen ohne dessen Zustimmung dauerhaft ein Teil der sexuellen Empfindsamkeit genommen wird.

Wenn keine der Äußerungen zum Thema Impfung Deine Frage über die Sicht anderer auf diesen Punkt beantwortet, dann stell die Frage bitte noch mal präzieser.
Ich sehe hier aus mehreren Gründen zwei sehr unterschiedliche Vorraussetzungen.
1. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Impfungen vor Krankheiten schützen die, im Kindheitsalter auftreten und schweren Schaden auslösen können. Im Falle des medizinischen Nutzens der Beschneidung halte ich den medizinischen Nutzen für entweder "weniger konkret" bzw. allein durch die Beschneidung zu erreichen (Hygiene), bzw. wissenschaftlich umstritten und bezugnehmend auf eine Krankheit bei der für Kinder unter normalen Umständen kein Infektionsrisiko besteht (AIDS).
2. Von seltenen Ausnahmefällen abgesehen (wie viele von uns sind gegen die Pocken überhaupt geimpft worden?) hinterlässt eine Impfung im Gegensatz zur Beschneidung keine sichtbare oder potentiel nachteiligen Auswirkungen. Ein Spritzeneinstich ist nun wirklich nicht mit der dauerhaften Entfernung der Vorhaut vergleichbar.
Weil wir, die Säkularen, nichts damit anfangen können. Weil wir glauben, die Religiösen spinnen. Dann sollten wir es so sagen, und in unseren Gesetzen so formulieren. Beschneidung verboten wegen Spinnerei und erwiesenem Blödsinn. Und die Taufe ist gleich mit verboten, inklusive der Nottaufe^^ ist die gleiche Art Spinnerei

Ich sehe durch die von Dir zuvor propagierte Religionsfreiheit jene Sorten der Spinnerei geschützt die nicht unmittelbar jemandem schaden bzw. nicht unumkehrbare physische Folgen haben. Das Problem das eine fanatische und intollerante Auslegung von Religion schwere nicht so eindeutig und sofort erkennbare Folgen haben kann sehe ich zwar auch, aber sie sind hier erstens nicht so unvermeidbar wie die Vorhaut nach eine Beschneidung nunmal ab zu sein pflegt und zweitens würde die permanente Überwachung (mal ganz abgesehen von der Schwierigkeit abzuschätzen ab wann eine "Spinnerei" potentiel gefährliche Folgen (in der Zukunft) haben kann) tatsächlich ein Szenario ala 1984 nach sich ziehen, das ich durch den Schutz des Rechtes auf Selbstbestimmung und Unversehrtheit des eigenen Körpers einfach nicht gegeben sehe.

Ipsissimus
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Fr 10. Aug 2012, 12:08 - Beitrag #92

der springende Punkt bei der Impf-Geschichte ist folgender: Medizin unterliegt Moden und medizinfremden Bedingtheiten. Wer erinnert sich nicht an die Verteufelung von Cholesterin, die ein paar Jahre später kleinlaut "modifiziert" werden musste? Wer erinnert sich nicht an die maximal-invasiven Krebstherapien, die unzähligen Frauen die Brüste oder Gebärmutter gekostet haben, ohne etwas zu ihrer Lebensverlängerung beizutragen oder zur Verbesserung der Lebensqualität. Oder warum sollte ich einem Mediziner glauben, dass es mir gut gehe, da ja meine Blutwerte okay seien, wenn mir mein Empfinden etwas ganz anderes mitteilt.

Was ich damit sagen will: auch genügend Aussagen der Medizin sind nur dann eine sichere Repräsentation der Wirklichkeit, wenn diesen Aussagen vorab im Sinne eines Glaubenssystems Vertrauen geschenkt wird.

Erstens ist der Charakter vieler Aussagen von transitorischer Art, vorläufig. Wie das Beispiel Cholesterin zeigt, kann medizinisches Wissen definitiv falsch sein, obwohl es zu einem bestimmten Zeitpunkt als Weisheit letzter Schluss vermittelt wird.

Zweitens ist der Charakter vieler Aussagen davon abhängig, wie Medizin heute in das Gesundheitssystem eingebettet ist; Ärzte machen, was bezahlt wird, was eben nicht notwendigerweise in naturgesetzlicher Unbedingtheit dem entspricht, was das Beste oder auch nur gut für die Patienten ist.

Drittens, wieviele Menschen sind in der Lage, die Ergebnisse medizinischer Forschung und deren Anwendung tatsächlich zu validieren? Selbst Ärzte sind darauf angewiesen, dass die Erkenntnisse, die ihnen von einigen großen Forschungszentren geliefert werden, gültig sind. Wer misst denn selbst am Elektronenmikroskop nach, ob dieses und jenes Virus dieses und jenes tut?

Viertens, was ist mit dem Einfluss der Pharmaindustrie? Alles reine Menschenfreunde, die niemals Dinge machen würden, die nicht zum Wohle der Menschen sind?

Wenn wir medizinischen Aussagen unser Vertrauen schenken, hoffen wir zwar, dass valide Erkenntnisse aus der medizinischen Forschung in die Praxis medizinischer Therapien eins zu eins übertragen werden. Das hoffen wir aber auch nur. Sowohl, dass sie valide sind als auch, dass sie eins zu eins übertragen werden.

Medizin mag also keine Religion sein. Der Umgang mit ihren Wahrheiten entspricht aber dem analogen Umgang mit religiösen Wahrheiten durch religiöse Menschen.

Der Kern meiner Frage lautet: warum glauben wir in dem einen Fall, und verwerfen in dem anderen Fall. Es gibt in beiden Fällen jede Menge Fehlversuche.

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Die Folgen einer Einstufung religiöser Überzeugungen als Spinnerei ist mir wohl bewusst. Das heißt, wir beugen uns an dieser Stelle einem sozialen Pragmatismus. Wenn 90 Prozent der Bevölkerung sagen, dass 5 + 5 = 11 sei, müssen die weichen, die meinen, es sei 10.

Dann sollten wir das aber vielleicht so sagen. Den Verweis auf eine angebliche Körperverletzung, während wir tatsächlich sehr viel schwerwiegendere Verletzungen aus pragmatischen Gründen dulden, kann ich damit aber nur noch als ... na ja, bleiben wir milde ... nicht überzeugend einstufen.

Maglor
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Sa 11. Aug 2012, 20:05 - Beitrag #93

Die medizinische Seite ist tatsächlich nicht zu verachten. Die Phimose und andere Arten elterlicher Pseudo-Hypochondrie machen bestimmt in den entsprechenden Bevölkerungsgruppen bald Schule. (Die Jagd auf Weisheitsheitszähne ist sicherlich genauso ehrenhaft die Jagd auf Vorhäute und mag eher dem Beispiele Davids als dem Hippocrates folgen.)
In Ägypten wurde die weibliche Beschneidung vor wenigen Jahren verboten - mit der Ausnahme einer medizinischen Indikation. Die Vulvafehlstellung als behandlungswürdige Krankheit wird von der abendländischen Medizin jedoch kaum anerkannt.

Zur Objektivität der Medizin:
Es herrscht ein reger Streit mit der Tendenz zum ideologischen Grabenkampf darüber, ob die Beschneidung der männlichen Vorhaut überhaupt die sinnvolle Therapie einer Phimose ist.

Zu den Menschenrechten:
Es muss noch unbedingt geprüft werden, ob die rituelle Beschneidung minderjähriger Knaben ohne Betäubung nicht eine entwürdige Behandlung - d. h. eine Verletzung der Menschenwürde. (Für die weibliche Beschneidung wurde dies von deutschen Richtern unabhängig von der Methode und dem Alter der Betroffenen angenommen.)
Durchaus sinnvoll ist hier natürlich eine nähere Untersuchung der Sitte. Die Ähnlichkeit mit archaischen Methoden der Viehmarkierung wie dem Einkerben der Ohren oder dem Brandzeichen ist zu offensichtlich. Das Mal zeigt an wer dem Herrn zugehörig ist.
Zu Beachten ist hier natürlich, dass Maniplationen an den Genitalien, zumal wenn sie in der Öffentlichkeit stattfinden, eine unabhängig von den körperlichen Schmerzen eine nicht zu unterschätzende Beschneidung des Herzens bedeuten. (Es wird auch ganz anders bewertet, wenn der Pfarrer bei Taufe oder Kommunion den Penis des neuen Schäfchen bearbeiten würde.)

Zur Körperverletzung:
Bei medizinischen Eingriffen, Tätowierung und Verstümmelungen aller Art gilt übrigens § 228 StGB:
[INDENT]Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt.[/INDENT]
Was gute Sitten sind, bestimmt die Mehrheitskultur. Darum ist auch die weibliche Beschneidung nach ägyptischer und äthiopischer Sitte absolut sittenwidrig, während die männliche Beschneidung natürlich den guten Sitte der angeblich christlich-jüdischen Kultur des Abendlandes teutscher Nation entspricht. (So gilt etwa das "Wiederzunähen" einer erwachsenen, beschnittenen Frau nach der Niederkunft als sittenwidrig und darf vom Arzt nicht durchgeführt werden - auch wenn es die Betroffene verlangt.)
Operationen dürfen (außer bei Gefahr im Verzug) nur mit Einwilligung des Betroffenen durchgeführt werden. Bei Minderjährigkeit oder sonstiger Unmündigkeit ist der Vormund, die Eltern bzw. der gesetzliche Betreuer, jener der statt des Mündels, Kindes oder Betreutem einwilligt.

Ipsissimus
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Di 4. Sep 2012, 13:18 - Beitrag #94

http://www.tagesspiegel.de/berlin/koerperverletzung-bei-kindern-maedchen-erhaelt-70-euro-schmerzensgeld-nach-ohrloch-stechen/7079592.html

hach ja, wenn man glaubt, dass schon alles gesagt ist, spielt das Leben selbst die Trumpfkarten erst aus^^

Lykurg
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Di 4. Sep 2012, 14:32 - Beitrag #95

In meinen Augen ein guter Anlaß für eine säuberliche Unterscheidung. Anders als bei einem religiösen Gebot haben die Eltern hier keinen Grund, ihr Kind Schmerzen und einer dauerhaften körperlichen Veränderung zu unterziehen. Welche Altersschwelle man einzieht, wäre die nächste Frage - ich kann mir durchaus auch zehn- bis zwölfjährige Mädchen vorstellen, die gern Ohrringe tragen möchten - aber bei einer Dreijährigen finde ich es völlig deplaciert und angemessen, die Eltern zu belangen, auch nach ihrer mE völlig unangemessenen Zivilklage gegen den Piercer, die ein bißchen nach einem Versuch klingt, sich auf Kosten des körperlichen Wohls ihres Kindes zu bereichern.

e-noon
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Di 4. Sep 2012, 17:52 - Beitrag #96

Eine Unterscheidung würde ich noch machen zwischen körperlichem Schmerz (passiert auch bei Impfungen oder nach den ach so gesunden Spaziergängen), dessen Begründungen und der Reversibilität. Nimmt man die Ohrringe raus, wächst das Ohrloch in der Regel wieder zu. Trotzdem gibt es keinen Grund, Dreijährigen Ohrringe zu erlauben, auch nicht, wenn sie sie sich selber wünschen (Dreijährige wünschen sich ja auch, auf die Herdplatte zu fassen oder mit Scheren zu spielen).

Ipsissimus
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Mi 5. Sep 2012, 14:55 - Beitrag #97

Seit Jahrtausenden beschneiden Juden ihre männlichen Nachkommen. Seit Jahrhunderten geschieht dies auf dem Boden des heutigen Deutschland. Niemand hatte sich dafür interessiert. Bis jetzt. Seit bekannt wurde, dass ein Richter in Köln im Mai das Verdikt "Straftat" aussprach, ereifert sich die ganze Republik über das Pro und Contra der Entfernung eines winzigen Hautstücks.
...
Nicht einmal in meinen Albträumen habe ich geahnt, dass ich mir kurz vor meinem achtzigsten Geburtstag die Frage stellen muss, ob ich den Judenmord überleben durfte, um das erleben zu müssen.
...
Wir hören uns weit mehr an als die Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften. Wir ertragen es, dass alternde Literaturnobelpreisträger mit SS-Vergangenheit ihre letzte Tinte dafür opfern, Deutschland und die Welt vor der kriegslüsternen Atommacht Israel zu warnen. Wir ertragen, dass obsessive Weltverbesserer dazu aufrufen, Produkte aus Israel zu boykottieren und Unterschriften sammeln, wohl wissend, dass sich kein Mensch für sie interessieren würde, wenn sie die humanitären Katastrophen in Gambia, Somalia, Weißrussland - jenseits der besetzten Gebiete anprangerten. Wir ertragen das Verständnis, das palästinensischen Selbstmordattentätern entgegengebracht wird, weil ihnen das Verhalten Israels ja keine Alternative lasse.

Wir ertragen, dass deutsche Parlamentarier auf von Terrorgruppen organisierten Schiffen anheuern, um öffentlichkeitswirksam Baustoffe und abgelaufene Medikamente in den Gaza-Streifen zu liefern. Ladung, die niemand braucht und die auch gar nicht ankommen soll, weil der angestrebte PR-Effekt nur dann eintritt, wenn die israelische Marine dem Treiben ein Ende setzt. Wir ertragen, dass die singulären Verbrechen der Nationalsozialisten relativiert werden, selbst in der sogenannten Prager Erklärung, in der einige Bürgerrechtler die Verbrechen des Kommunismus und den Holocaust gleichsetzen.

Das alles und noch viel mehr hören wir uns geduldig an. Mehr als das: Wir rechtfertigen und erläutern die deutsche Mentalität gegenüber unseren Familien und Freunden im Ausland. Seit Jahrzehnten erklären wir, warum es trotzdem nicht nur richtig, sondern auch gut ist, in diesem Land zu leben, wir tun das selbst dann noch, wenn in Deutschland Rabbiner oder als Juden erkennbare Juden angepöbelt und krankenhausreif geschlagen werden. Beinahe mein ganzes Leben lang war und bin ich der Kritik der restlichen jüdischen Welt ausgesetzt. Seit sechs Jahrzehnten muss ich mich rechtfertigen, weil ich in Deutschland geblieben bin - als Überbleibsel einer zerstörten Welt, als Schaf unter Wölfen.

Ich habe diese Last immer gerne getragen, weil ich der festen Überzeugung war, dass es dieses Land und seine Menschen verdient haben. Erstmals geraten nun meine Grundfesten ins Wanken. Erstmals spüre ich Resignation in mir. Ich frage mich ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will. Ich frage mich, ob die unzähligen Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaft, Psychologie oder Politik, die ungehemmt über "Kinderquälerei" und "Traumata" schwadronieren, sich überhaupt darüber im Klaren sind, dass sie damit nebenbei die ohnedies verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland infrage stellen. Eine Situation, wie wir sie seit 1945 hierzulande nicht erlebt haben


http://www.sueddeutsche.de/politik/beschneidungen-in-deutschland-wollt-ihr-uns-juden-noch-1.1459038

tja

Anaeyon
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Mi 5. Sep 2012, 16:37 - Beitrag #98

Ipsi, ich übersetze das mal kurz:

Seit Jahrtausenden beschneiden Juden ihre männlichen Nachkommen.

- Was seit langem getan wird, muss in Ordnung sein.

Seit Jahrhunderten geschieht dies auf dem Boden des heutigen Deutschland. Niemand hatte sich dafür interessiert. Bis jetzt. Seit bekannt wurde, dass ein Richter in Köln im Mai das Verdikt "Straftat" aussprach, ereifert sich die ganze Republik über das Pro und Contra der Entfernung eines winzigen Hautstücks.

- Wie könnt ihr es wagen, plötzlich über ethische Fragen nachzudenken, wo ihr es doch davor nicht getan habt?

Nicht einmal in meinen Albträumen habe ich geahnt, dass ich mir kurz vor meinem achtzigsten Geburtstag die Frage stellen muss, ob ich den Judenmord überleben durfte, um das erleben zu müssen.

- Ich verweise mal wieder auf den Holocaust als unerschöpfliche und ultimative Rechtfertigung, alles, was den Juden nicht passt, ins Licht des Antisemitismus zu rücken. Btw, ihr Deutschen, die ich euch so nationalistisch über einen Kamm schere, weil ich es als Jude nicht besser wissen müsste, schämt euch fürs Deutschsein!


Wir hören uns weit mehr an als die Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften.

- Wir brennen nicht gleich Kirchen nieder wenn uns jemand kritisiert, aber bis auf den Islam übersehen wir bei unserer Selbstbeweihräucherung alle anderen Religionsgemeinschaften dieser Erde.

Wir ertragen es, dass alternde Literaturnobelpreisträger mit SS-Vergangenheit ihre letzte Tinte dafür opfern, Deutschland und die Welt vor der kriegslüsternen Atommacht Israel zu warnen.

- Wir zeigen gerne mit dem Finger, aber wehe einer zeigt auf uns.

Wir ertragen, dass obsessive Weltverbesserer dazu aufrufen, Produkte aus Israel zu boykottieren und Unterschriften sammeln, wohl wissend, dass sich kein Mensch für sie interessieren würde, wenn sie die humanitären Katastrophen in Gambia, Somalia, Weißrussland - jenseits der besetzten Gebiete anprangerten.

- Weil andere auch Fehler machen, sind unsere nicht so schlimm.

Wir ertragen das Verständnis, das palästinensischen Selbstmordattentätern entgegengebracht wird, weil ihnen das Verhalten Israels ja keine Alternative lasse.

- Wir behaupten, dass Menschen, die diese Situation nicht nur aus Sicht Israels betrachten, Verständnis (lies: Sympathie) für Terroristen haben.

Wir ertragen, dass die singulären Verbrechen der Nationalsozialisten relativiert werden, selbst in der sogenannten Prager Erklärung, in der einige Bürgerrechtler die Verbrechen des Kommunismus und den Holocaust gleichsetzen.

- Wehe es behaupte einer, man könne an anderen Menschen genauso schlimme Genozide vornehmen, wie an uns.

Seit Jahrzehnten erklären wir, warum es trotzdem nicht nur richtig, sondern auch gut ist, in diesem Land zu leben, wir tun das selbst dann noch, wenn in Deutschland Rabbiner oder als Juden erkennbare Juden angepöbelt und krankenhausreif geschlagen werden.

- Wenn ein Rabbiner in Deutschland zusammengeschlagen wird, bedeutet dass, dass Deutschland voller Nazis ist, und das auch die allgemeine Stimmung der deutschen Gesellschaft spiegelt.

Beinahe mein ganzes Leben lang war und bin ich der Kritik der restlichen jüdischen Welt ausgesetzt.

- Ihr bösen Deutschen, ihr seid schuld daran, dass meine Mitjuden nicht darauf verzichten können, alle Deutschen über einen Kamm zu scheren.

Seit sechs Jahrzehnten muss ich mich rechtfertigen, weil ich in Deutschland geblieben bin - als Überbleibsel einer zerstörten Welt, als Schaf unter Wölfen.

- Nochmal, Deutsche: Ihr seid alle Nazis! Zumindest wird mir das gerade bewusst, siehe nächster Satz.

Ich habe diese Last immer gerne getragen, weil ich der festen Überzeugung war, dass es dieses Land und seine Menschen verdient haben. Erstmals geraten nun meine Grundfesten ins Wanken.
Erstmals spüre ich Resignation in mir. Ich frage mich ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will. Ich frage mich, ob die unzähligen Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaft, Psychologie oder Politik, die ungehemmt über "Kinderquälerei" und "Traumata" schwadronieren, sich überhaupt darüber im Klaren sind, dass sie damit nebenbei die ohnedies verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland infrage stellen.

- Wer braucht schon diese Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaft und Psychologie? Juden braucht das Land, yay!

Eine Situation, wie wir sie seit 1945 hierzulande nicht erlebt haben

- Eine Situation, die uns nicht passt, und die wir deshalb mit dem Holocaust in einem Satz nennen, unbewusst, wie wir damit selbst den Holocaust viel perverser relativieren, als es all die bösen Deutschen machen, die ich gerade kritisiert habe.


Man könnte es aber auch kurz fassen: Hilfe, das dritte Reich kommt wieder, weil die Deutschen sich langsam trauen, von Juden etwas zu fordern, was sie von Christen schon seit Ewigkeiten und teils in viel krasserer Form (siehe Titanic) fordern, nämlich eine Modernisierung ihrer Traditionen.

Ipsi, falls du diesem Artikel zustimmst: Wie kann sich ein Volk/eine Religion das Recht nehmen, festzulegen, dass Verbrechen gegen sie auf Ewig nicht mit anderen Verbrechen vergleichbar sind? Wie kann man es sich als Jude so einfach machen, so vollkommen ignorant gegenüber den eigenen Fehlern mit dem Finger auf Andere zu zeigen? Und dann auch noch auf so nationalistische Weise. Bei vielen, nicht bei allen aber bei vielen Juden, die sich zu solchen Themen äußern, habe ich dass Gefühl, dass sie in uns hier nur Kopien von "dem Deutschen" sehen. Wie kann man akzeptieren, sich von Menschen kritisieren zu lassen, die die Grausamkeit des Holocaust ein ums andere mal zwecks ihrer persönlcihen Interessen relativieren, da zu noch weitaus unpassender als so ziemlich alles, was du von ernstzunehmenden Deutschen bezüglich dieses Themas zu hören bekommst.

Können wir akzeptieren, dass manche (!) Juden sich auf ihrem Sonderstatus ausruhen und Lektionen der Geschichte (ihrer eigenen Geschichte) völlig ignorieren, die wir hingegen größtenteils verinnerlicht haben? Haben diese Verallgemeinerer es verdient, dass wir ihnen aus Angst Narrenfreiheit gewähren? Ist es schlimmer, wenn ein Deutscher bräunlich denkt, als wenn es ein Jude tut?

Maglor
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Mi 5. Sep 2012, 19:46 - Beitrag #99

Zur Sache mit den Ohrringen.
Zitat von Maglor am 12.07.2012:Die wirklich entscheidene Frage ist jedoch, ob dies alles auch auf das Stechen von Ohrringen bei Kleinkindern übertragbar ist. Mit Religionsfreiheit haben die Ohrringe außerhalb des bajoranischen Sektors zumindest nichts zu tun.

Meines Erachtens ist die Sache glasklar übertragbar. Das Stechen von Ohrlöchern bei nicht einwilligungsfähigen Kinder dürfte meines Erachtens sogar gefährliche Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 Ziff. 2 StGB, da sicherlich ein gefährliches Werkzeug wie eine Ohrlochpistole verwendet wird.
Ähnlich wie Juden und Muslime bei der männlichen Genitalverstümmelung dürfte jedoch die Church of Body Modification auf Sonderrechte hoffen.

Der Rundumschlag der Süddeutschen ist einfach nur widerlich. Zumal die Autor offensichtlich auch dazu neigt hiesige Juden und den Staat Israel zu untrennbar zu verknüpfen - sie hat ja geradezu Beißrflexe zur Verteidigung Israels entwickelt - und das Kölner Beschneidungsurteil (im konkreten Fall) gegen eine muslimische Beschneidung als ausschließlich als antijüdisch intendiert umdeutet. (Nicht zuletzt hängt sie noch dem Mythos nach, hiesige Juden hätten besonders viel mit Israel oder der deutschen Geschichte zu tun. Tatsächlich handelt es sich bei den Juden in Deutschland mehrheitlich um Kontigentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjet-Union, mehrheitlich ohne familiären Verknüpfungen zu israelischen Juden oder der deutsch-jüdischen Gemeinde von vor 1945. Vielleicht sollte man, dass Thema Juden in Deutschland auch mal nicht als Märchen betrachten.) Die meisten Argumente beziehen sich auf Dogmen. Widerlicher noch als das Judenbild ist jedoch die Schelte gegen Weltverbesserer und Besserwisser, ein jedenfalls netter Versuch unsere Werte zu diskreditieren.

Zur Rolle des Antisemitismus in der Gesellschaft sei angemerkt, dass der tätliche Angriff auf den Berliner Rabbiner für breites Aufsehen und Entsetzen sorgte, während ausländerfeinliche Gewaltattacken in der Regel für kein Aufsehen, so lange sie nicht tödlich enden. Durchaus nicht vergleichbar mit der Prügel auf den Kippa-tragenden Rabbiner ist der Mord an Marwa El-Sherbini, die 2009 mitten im Landgericht Dresden nur sterben musste, weil sie ein Kopftuch trug. Anschließend war in der Presse vom Tod einer Islamistin zu lesen.
Nocht desto trotz, halte ich Antisemitismus für in Deutschland für ein schwerwiegendes. So lange Synagogen zur Festungen ausgebaut werden (müssen), läuft es etwas falsch in diesem Land. Eine Entdogmatisierung des Themas halte ich jedoch für unumgänglich.

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Mi 5. Sep 2012, 20:40 - Beitrag #100

Nicht daß ich Charlotte Knobloch sonderlich schätzte, aber du tust ihr mit der polemisch überspitzten Zusammenfassung massiv Unrecht, Anaeyon. In einigen der angesprochenen Fragen dürften ihre Äußerungen dir zusagen, etwa dies: „Wir müssen alles dafür tun, den jungen Leuten nicht das Gefühl zu geben, sie seien schuldig an der Vergangenheit.“ Sie setzt sich klar für eine deutsch-jüdische Identität und ein normales Miteinander ein, hat allerdings (sowohl in ihrem eigenen Überleben des Holocaust, als auch in späteren Anfeindungen bis hin zum vereitelten Bombenanschlag in München 2006) genügend negative Erfahrungen gemacht, um erhebliche Skepsis gegenüber der gewandelten deutschen Einstellung an den Tag legen zu können.

Ich habe jedenfalls einige Hochachtung für jemanden, der nach solchen Erfahrungen, trotz aller Verlogenheiten der 50er, Kampagnen der 68er, erstarkender Neonazis in den 80ern und 90ern sowie zuletzt muslimische Gewalttäter in diesem Land nicht resigniert. Erfahrungen wohlgemerkt, die jedes Mal mit einer großen Gleichgültigkeit behandelt werden - und mit dem Hinweis, man habe das doch alles 'längst' hinter sich gelassen. Wohlgemerkt, das sagten schon die Altnazis, die in den 50ern immer noch auf denselben Führungsposten saßen.
Ipsi, falls du diesem Artikel zustimmst: Wie kann sich ein Volk/eine Religion das Recht nehmen, festzulegen, dass Verbrechen gegen sie auf Ewig nicht mit anderen Verbrechen vergleichbar sind? Wie kann man es sich als Jude so einfach machen, so vollkommen ignorant gegenüber den eigenen Fehlern mit dem Finger auf Andere zu zeigen? Und dann auch noch auf so nationalistische Weise.
Ich bin nicht Ipsi und stimme auch nur in Teilen zu - aber hier verfällt sie ja, wenn dein Vorwurf zutrifft, nur haargenau in den Fehler, vor dem auch viele Deutsche nicht gefeit sind. Denn mit dem Finger auf andere zu zeigen, die eigenen Fehler der Gegenwart aber zu übersehen, bekommen wir großartig hin - abgesehen von unserer Vergangenheitsbewältigung, die in erheblichen Teilen geglückt sein mag - oder auch nicht, schließlich können wir immer noch nicht rational damit umgehen.
Bei vielen, nicht bei allen aber bei vielen Juden, die sich zu solchen Themen äußern, habe ich dass Gefühl, dass sie in uns hier nur Kopien von "dem Deutschen" sehen. Wie kann man akzeptieren, sich von Menschen kritisieren zu lassen, die die Grausamkeit des Holocaust ein ums andere mal zwecks ihrer persönlcihen Interessen relativieren, da zu noch weitaus unpassender als so ziemlich alles, was du von ernstzunehmenden Deutschen bezüglich dieses Themas zu hören bekommst.
Wenn du ihre Beweggründe ernstnimmst, kannst du schlecht von persönlichen Interessen sprechen. Der Thread hier geht auf die Unverzichtbarkeit der Beschneidung für Juden ein; sie steht nicht allein mit der Ansicht, daß mit dem Urteil eine Grenze überschritten ist, und nicht nur Juden sind dieser Meinung.

Können wir akzeptieren, dass manche (!) Juden sich auf ihrem Sonderstatus ausruhen und Lektionen der Geschichte (ihrer eigenen Geschichte) völlig ignorieren, die wir hingegen größtenteils verinnerlicht haben? Haben diese Verallgemeinerer es verdient, dass wir ihnen aus Angst Narrenfreiheit gewähren? Ist es schlimmer, wenn ein Deutscher bräunlich denkt, als wenn es ein Jude tut?
Man könnte durchaus sagen: Ja, schließlich hätten wir wirklich Gelegenheit gehabt, es zu lernen. Gerade dieses Urteil und sehr viele Reaktionen darauf deuten stark darauf hin, daß wir die Erfahrungen unserer Geschichte nicht hinreichend verinnerlicht haben. Ich habe es in diesem Thread mehrfach gefragt und tue es wieder: Warum müssen ausgerechnet die Deutschen als erste ein solches Verbot diskutieren und gerichtlich für gut erklären? Was für eine Perfidie steckt dahinter, eine solche Maßnahme durch die gerichtliche Hintertür durchzusetzen, noch dazu ohne weitere Instanz, in dem Land, das eben auch schon in der Wannseekonferenz Wege gefunden hat, sich seines vermeintlichen Judenproblems auf bürokratisch-effizientem Weg zu entledigen?

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