Was ist heute konservativ?

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Traitor
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Mi 7. Sep 2005, 14:14 - Beitrag #1

Was ist heute konservativ?

Im Wahlomat-Thread ist mir aufgefallen, wie seltsam die Verwendung des Wortes "konservativ" derzeit doch eigentlich ist.

Als "die Konservativen" bezeichnet man klassisch die CDU. Allerdings ist es derzeit doch eigentlich so, dass die SPD stärker als die CDU etwas erhalten - konservieren - möchte, nämlich die sozialen Sicherungssysteme. Diese wollen und müssen von allen Parteien abgebaut werden, doch die einen versuchen noch, soviel wie möglich davon zu erhalten.

Jedoch gibt es auch noch die Aspekte, die weniger wörtlich mit dem Begriff "konservativ" verbunden werden. Dinge wie Wertkonservativismus, wirtschafts- und großverdienerfreundliche Politik etc.

Sind dies Elemente, die nur fälschlich mit Konservativismus vermischt werden, und die Bezeichnungen der Parteien sollten derzeit genau umgedreht werden; oder ist es vielmehr so, dass die SPD nur den Fortschritt nicht zu sehr zurücknehmen will und die Reformen der CDU eher extremer Konservativismus, nämlich Reaktionismus sind?

Maglor
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Mi 7. Sep 2005, 14:25 - Beitrag #2

Im Grunde hast du natürlich recht. Die einzige konservative Partei ist allerdings die WASG, denn die wollen den alten Adenauer vielleicht als einzige zurück.
Was den Reaktionismus der Konservativen betrifft, so sticht er tatsächlich hervor. All zu lässig schwimmt die CDU zwischen Bierdeckel- und Bierzeltpolitik, je nachdem wo der Wind gerade herkommt. Das augenscheinlichste Merkmal der derzeitigen CDU ist allerdings ihre Doppelzüngigkeit. Dieser klare Widerspruch zwischen dem Modell Kirchhoff, dem offiziellen Programm und der Gelegenheits-Kritik "Hartz IV ist sozial ungerecht" ist all zu offensichtlich. Angela Merkel hat ein Chamäleon geschaffen! :crazy:

Merkwürdige Traditionslinien ziehen die Parteien heute all zu gern. Drastische Begriffsverschiebungen sind an der Tagesordnung, man denke nur an: Neue soziale Marktwirtschaft.

MfG Maglor

Maurice
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Mi 7. Sep 2005, 15:13 - Beitrag #3

Wenn man "konservativ" nach der eigentlichen Bedeutung verwendet, also "erhaltend", worin auch eine Skepsis gegenüber Neuerungen steckt, dann stimme ich zu, dass momentan man besser die SPD als die CDU als "konservativ" zu bezeichnen ist.
Das wäre aber für Mancheinen weniger vorteilhaft, weil manche meinen bloß nicht konservativ sein zu dürfen, weil das per se etwas negatives sei. Dahinter steckt imo zwar nur ein kindliches Trotzverhalten sich bestehende Struktur aufzulehnen (seis nun die Eltern, Lehrer oder eben der Staat), aber kein durchdachtes Konzept. Frei nach dem Motto "Hauptsache dagegen!". :rolleyes:

Was die Frage angeht, ob es gut ist das Sozialsystem zu vermindern (ich versuche ein möglichst neutrales Wort zu verwenden), könnte man durchaus in einem eigenen Thread diskutieren.

Ipsissimus
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Mi 7. Sep 2005, 15:22 - Beitrag #4

in meinem Sprachgebrauch hatte das Begriffsfeld "konservativ" noch nie etwas damit zu tun, ob reale gesellschaftliche Veränderungen abgelehnt oder begrüßt werden, sondern mit den Begründungen dafür, also weswegen sie abgelehnt oder begrüßt werden.

Als problematisch empfinde ich es allerdings zunehmend, daß der um sich greifende Neoliberalismus der SPD sich hinsichtlich der Auswirkungen nicht mehr wirklich transparent vom Konservativismus der CDU abgrenzen läßt

janw
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Mi 7. Sep 2005, 15:31 - Beitrag #5

Ich würde die Frage des Bewahrungs-Aspektes vor allem in der sozialen Dimension sehen, in dem Sinne, daß der klassische Konservativismus die hergebrachten Verhältnisse erhalten möchte, wo generell die Wohlhabenderen mehr Macht und Einfluß haben als jene, die weniger besitzen, die nur für die Produktionsmittelinhaber arbeiten und als jene, deren Arbeitskraft nicht nachgefragt wird.
Politisch tritt der Konservativismus für einen Vorrang der Eigeninitiative und Eigenverantwortung vor der des Staates ein.

Wertkonservativismus ist für mich etwas anderes. Ihm geht es nicht so sehr um den Erhalt sozialer Rangstrukturen, Abhängigkeiten und Privilegien, sondern eher um den Erhalt eines Wertesystems, das die Möglichkeit der Teilhabe aller Menschen am sozialen Ganzen fordert, zugleich aber auch dem, der etwas leistet, das Recht auf eine angemessene Belohnung zuspricht.
Dabei wird aber gerade auch dem materiell Leistungsfähigen eine besondere Verantwortung zugesprochen, damit besonders zum Ganzen beizutragen, durch Spenden usw.

Letztlich hat der Wertekonservativismus damit viele Heimaten, auch viele Grüne können sich darin wiederfinden.

Die Gefahr einer Verbindung von Konservativismus und Wertkonservativismus liegt für mich u.a. darin, daß die "Leistungsträger" im Sinne von Unternehmer a priori in einer besseren Lage sind, politischen Einfluss zu gewinnen, als die bei ihnen Arbeitenden, ihnen durch den Wertkonservativismus ein Mehr an Materiellem zugesprochen wird und sie dann in die Lage kommen, völlig unkritisiert tatsächlichen politischen Einfluss zu gewinnen, der ihnen eigentlich nicht zusteht.
Die politische Einflußbremse zu wollen, das ist das fehlende progressive Element. Das Element, das der konservative Flügel der Sozialdemokratie und auch die Grünen zusätzlich haben.

Maglor
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Mi 7. Sep 2005, 15:31 - Beitrag #6

Zitat von Ipsissimus:Als problematisch empfinde ich es allerdings zunehmend, daß der um sich greifende Neoliberalismus der SPD sich hinsichtlich der Auswirkungen nicht mehr wirklich transparent vom Konservativismus der CDU abgrenzen läßt

Eigentlich haben dort gerade in jüngster Zeit die Unterschiede verschärft.
Liberal und konservativ sind übrigens zwei grundverschiedene Begriffe.

MfG Maglor

Ipsissimus
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Mi 7. Sep 2005, 15:35 - Beitrag #7

Eigentlich haben dort gerade in jüngster Zeit die Unterschiede verschärft.


ja? Scheint komplett an mir vorüber gegangen zu sein.

Maglor
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Mi 7. Sep 2005, 15:48 - Beitrag #8

Nun ja zwischen Bürgerversicherung und Gesundheitspauschale liegen doch Welten?
MfG Maglor

Traitor
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Mi 7. Sep 2005, 18:10 - Beitrag #9

@Maurice: Interessant, bei der Recherche für diesen Thread war ich auf einen alten gestoßen, wo Thod erstaunlich ähnlich schrieb wie du jetzt ;) Ich hoffe doch aber sehr, dass die Verkürzung des Nicht-Konservativismus, also des Progressivismus, auf "kindliches Trotzverhalten" bei dir nicht so gemeint ist?

@Ipsissimus:
in meinem Sprachgebrauch hatte das Begriffsfeld "konservativ" noch nie etwas damit zu tun, ob reale gesellschaftliche Veränderungen abgelehnt oder begrüßt werden, sondern mit den Begründungen dafür, also weswegen sie abgelehnt oder begrüßt werden.
Eine sehr interessante Sichtweise, ich denke, mit der könnte ich mich anfreunden. Hast du ein gutes Beispiel zur Hand? Ich habe gerade versucht, mir etwas zur Arbeitslosenversicherung zu konstruieren, spontan wollte das aber nicht klappen.

@Jan: Woher hast du deine Definition von Wertkonservativismus? Dass sich dieses Wort auf die Organisation "der der Teilhabe aller Menschen am sozialen Ganzen" bezieht, ist mir bisher nicht untergekommen, und das Wort gibt es auch nicht ansatzweise her. Ich verstehe unter dem Wort einen Konservativismus in Bezug auf die Werte, also in Fragen wie Ehe- und Familienrecht oder Bioethik.

Maurice
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Mi 7. Sep 2005, 19:36 - Beitrag #10

Eine sehr interessante Sichtweise, ich denke, mit der könnte ich mich anfreunden. Hast du ein gutes Beispiel zur Hand? Ich habe gerade versucht, mir etwas zur Arbeitslosenversicherung zu konstruieren, spontan wollte das aber nicht klappen.

Also die erste Definition von konservativ wäre dann erfüllt, wenn jemand für alte Werte eintritt, z.B. Treue in der Ehe, sexuelle Enthaltsamkeit etc.
Die zweite wenn für irgendwelche Werte damit argumentiert wird, dass es sich um Traditionen handeln, die bewahrt werden müssten, dass es schon immer so war o.ä.

Ich hoffe doch aber sehr, dass die Verkürzung des Nicht-Konservativismus, also des Progressivismus, auf "kindliches Trotzverhalten" bei dir nicht so gemeint ist?

Nein, nein das sollte doch aus meinem letzten Post deutlich geworden sein.
Ich finde, dass es Leute gibt, die insgeheim nur gegen Konservativismus schimpfen, weil sie gegen irgendetwas rebellieren wollen (imo gehört der größte Teil der Anarchie-Symphatisanten dazu). Natürlich gibt es dagegen auch Personen, die gegen diese Richtung sind, weil sie sich einige Gedanken gemacht haben und zu einem überlegten Schluss gekommen sind.

Ipsissimus
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Do 8. Sep 2005, 00:21 - Beitrag #11

na ja, Traitor, etwas pauschalisierend gesagt begründeten konservative Parteien ihre Forderungen mit Schutz der Familie, Schutz des ungeborenen Lebens, Schutz der staatlichen Ordnung, Schutz von Eigentum usw., also im weitesten Sinne aus einem christlich-bürgerlichen Wertekanon mit Betonung eines starken Staates; demgegenüber war(!) die SPD und sind andere nichtkonservative Parteien eher auf der Idee des Privilegienausgleichs gegründet, mit der sie Forderungen wie Gleichberechtigung der Frauen, Mitspracherecht der Arbeiter und Angestellten usw. begründeten, unter Betonung der Individualrechte.

Das alles stimmt in dieser plakativen Form natürlich nicht mehr, aber eine Rest-Tendenz ist gelegentlich immer noch zu erkennen.

janw
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Fr 9. Sep 2005, 23:26 - Beitrag #12

@Traitor:
Mein Definitionsversuch klingt vielleicht ein wenig verwunderlich, ja...
Ich hab das so selbst entwickelt, ausgehend von der Frage des für mich zentralen Verhältnisses Einzelner - Gesellschaft - Staat und Recht des Einzelnen auf Lohn für Leistung und sich daraus ergebender Verantwortung.

Die Frage des Verhältnisses Einzelner - Gesellschaft ist im Focus aller politischen -ismen.
Die "soziale" Seite sieht den Einzelnen in einer Pflicht, vor allem der Gesellschaft zu dienen. Der Einzelnen wird, wenn er stark ist, als potentielle Gefahr gesehen für andere, schwache, Einzelne. Und deshalb wird eine starke Leistungspflicht des Starken an die Gesellschaft postuliert.

Die in meinem Sinne "wertkonservative" Seite sieht die Gesellschaft auch als Wert an, will, daß Schwache in gewisser Weise geschützt und unterstützt werden, betrachtet aber eher den Einzelnen und sieht aber den Einzelnen, wenn er stark ist, eher als Chance für die Gesellschaft und tritt dafür ein, daß dieser auch entsprechend von seiner Leistung profitieren kann. Hinsichtlich der Leistung des starken Einzelnen an die Gesellschaft wird eher an die Verantwortung appelliert als eine konkrete Pflicht postuliert.

Du hast natürlich recht, überkommene und oft "christlich" genannte Werte wie Familie, Ehe und als neuerer Gegenstand das ungeborenen Leben spielen auch eine wichtige Rolle im Wertkonservativismus. Ich halte sie nur nicht für so zentral, weil sie im Grunde überkommene Werte sind, an denen sich mehr oder weniger festgeklammert wird.
Auch wenn manche sie zum Zentrum ihres Denkens machen.


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