Unruhen in Frankreich

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
teut
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So 6. Nov 2005, 18:41 - Beitrag #1

Unruhen in Frankreich

Na was sagt das hier so klug schreibende Publikum zum real existierenden Bürgerkrieg in Frankreich??Geht die Angst nicht um ,dass ähnliches vor unseren Türen steht?? Alles was bis jetzt in Frankreich stattfand ,findet seinen Weg auch nach Deutschland.Was werden wir dann tun?? Selbsthilfe oder Verständnis oder mitagieren wäre sehr froh über eine kontroversielle Diskussion. :)

Feuerkopf
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So 6. Nov 2005, 19:09 - Beitrag #2

Ich empfehle zum Thema - so lange es noch umsonst ist - das Spiegel-Interview mit Daniel Cohn-Bendit .

Ich selbst empfinde die Krawalle als erste und berechtigte Wutausbrüche derer, die wir alle gern vergessen oder auf die wir hinabschauen. Erstaunlich, wie lange es gedauert hat...

In den Nachrichten wurde aber auch berichtet, dass in zwei Pariser Stadtteilen die dort wohnende Bevölkerung die Sache selbst in die Hand genommen hat und sich und ihr Hab und Gut schützt. Die Menschen reden mit den Jugendlichen und schaffen es, deeskalierend zu wirken. Dort war es letzte Nacht ruhig. Es wäre wohl auch nie so weit gekommen, hätte der französische Innenminister nicht die lokalen Polizeistationen geschlossen, vor einiger Zeit.

Wahrscheinlich sind die höchst medienwirksamen Krawalle ein probater Grund für alle Hardliner, schärfere Gesetze zu fordern und noch rigider gegen Ausländer vorzugehen.

Lykurg
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So 6. Nov 2005, 19:39 - Beitrag #3

Zitat von teut:Alles was bis jetzt in Frankreich stattfand ,findet seinen Weg auch nach Deutschland.
Nein, das sehe ich anders - sowohl historisch (etwa waren die Versuche, die französische Revolution nach Deutschland zu bringen, ziemlich desaströs - hinsichtlich der Terrorherrschaft des "Wohlfahrtsausschusses" kann man darüber auch ganz glücklich sein), als auch aktuell: Die Moslems in Frankreich stammen (anders als die in Deutschland überwiegenden türkischen Gastarbeiternachkommen) aus Marokko und Algerien und verhalten sich dementsprechend deutlich anders. Sie sind gesellschaftlich (noch) weniger integriert und stellen daher jetzt ein kaum zu bewältigendes Problem dar. Cohn-Bendit verweist übrigens im letzten Absatz darauf, daß die Lage ihm nicht sonderlich vergleichsgeeignet erscheint.

Nun ja, ich finde, Cohn-Bendit gackert, als hätte er das Ei des Kolumbus gelegt oder wenigstens entdeckt. Aber damit sich jeder selbst ein (dauerhaftes) Bild machen kann, bitte...
Zitat von Spiegel Online vom 05.11.2005:COHN-BENDIT ÜBER FRANKREICH-KRAWALLE

"Ghettos, wie man sie in Deutschland gar nicht kennt"

Auch heute Nacht brannten die Pariser Vorstädte. "Innenminister Sarkozy hat versagt", sagt der grüne Europa-Politiker Daniel Cohn-Bendit. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE spricht der Ex-Straßenkämpfer über nutzlose Aktionspläne, eine notwendige Schulreform und das Gewaltpotenzial in Deutschland.

SPIEGEL ONLINE: Herr Cohn-Bendit, die Ausschreitungen in den Pariser Vororten halten schon die achte Nacht in Folge an und weiten sich nun sogar auf andere Landesteile aus. Was halten Sie von Innenminister Sarkozys Einschätzung, die Krawalle sei inzwischen "perfekt organisiert"?

AP
Daniel Cohn-Bendit: "Ein Ereignis reicht, um einen Flächenbrand auszulösen"
Cohn-Bendit: Quatsch, Unsinn, Blödsinn. Das zeigt, dass er nicht nur als Innenminister versagt hat, sondern jetzt auch noch versucht, sein Versagen zu kaschieren, indem er einer Verschwörungstheorie hinterherläuft.

SPIEGEL ONLINE: Auslöser der Krawalle war der Tod zweier Jungen, sie kamen durch einen Stromschlag an einer Trafostation um. Zeugen sagen, die Polizei habe sie in den Tod gehetzt. Der Bericht der Polizei sagt etwas anderes. Wie muss man sich Polizeieinsätze in diesen Problemvierteln vorstellen?

Cohn-Bendit: In diesen Stadtvierteln finden tagtäglich Polizeirazzien statt. Dabei werden überwiegend junge Nordafrikaner kontrolliert, sie werden schikaniert, sie müssen vier Stunden auf dem Revier bleiben und dann werden sie wieder freigelassen. Auch die Jungen gerieten in eine Kontrolle. An diesem Tag, um 16 Uhr, war Ramadan und sie wollten bei Einbruch der Dunkelheit essen und nicht vier Stunden in Polizeigewahrsam verbringen. Deswegen sind sie geflohen.

SPIEGEL ONLINE: Sie misstrauen dem Bericht der Polizei, dass die Jungen nicht verfolgt wurden?

Cohn-Bendit: Was heißt verfolgen? Es war eine Kontrolle. Die Jungen wollten der Kontrolle ausweichen, deswegen sind sie weggelaufen, und die Polizisten hinterher.

SPIEGEL ONLINE:Sie halten die Polizeieinsätze in diesen Stadtvierteln also für ein grundsätzliches Problem?

Cohn-Bendit: Seit Nicolas Sarkozy die Strategie beendet hat, Polizisten einzusetzen, die im Stadtteil verankert sind. Sarkozy schickt nur noch Spezialeinheiten in diese Gegenden, die jeden kontrollieren. Dadurch gibt es hier schon seit Jahren eine Stimmung des Misstrauens und der Kontrolle. Diese vermischt sich mit der ohnehin in Form von hoher Arbeitslosigkeit oder Rassismus in der Polizei vorhandenen sozialen Sprengkraft.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind eine Symbolfigur der Pariser Mai-Unruhen von 1968. Können sie nachvollziehen, dass sich die Unzufriedenheit der Jugendlichen auf den Straßen in Gewalt entlädt?

Cohn-Bendit: Wir haben es in den Vorstädten jeden Tag mit einer sehr gewalttätigen Situation zu tun. Vor diesem Hintergrund tritt dann der Innenminister auf und sagt: Ich räum' da auf und wer sich mir entgegenstellt, der wird weggepustet. Oder hat jemand Mumm? Natürlich gibt es genügend Jugendliche, die ohnehin in einer gewalttätigen Situation leben und sagen: Ja, natürlich haben wir Mumm und wir werden es dir zeigen, du Schwätzer.

SPIEGEL ONLINE: Sie sprechen Sarkozys Null-Toleranz-Strategie an. Andererseits sagt die Regierung, sie suche auch den Dialog...

Cohn-Bendit: ... danach, danach! Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist es erstmal nass. Dann kann ich zwar Handtücher benutzen, aber erstmal ist das Kind nass. In den Vorstädten herrscht seit Jahren eine sehr aufgeladene Situation. Ein Ereignis reicht, um plötzlich einen Flächenbrand auszulösen. Dann propagieren die Medien die Gewaltausbrüche, andere Jugendliche sehen das und sagen sich: Das machen wir auch. Das gab es in den sechziger Jahren genauso. Wenn in Hamburg und in Berlin eine Demonstration war, wollten sie in Frankfurt auch demonstrieren. Das sind bekannte Phänomene.

SPIEGEL ONLINE: Soziologen befürchten, die Gewalt könne sich noch radikalisieren. Beteiligte Jugendliche werden mit Sätzen zitiert wie: "Das ist erst der Anfang." Glauben Sie, dass sich die Lage noch weiter verschärfen kann?

Cohn-Bendit: So unmittelbar, wie sich solche Dinge sich ereignen, so schnell enden sie auch wieder. Niemand kann voraussehen, wann es dazu kommt, und niemand kann voraussehen, wie und wann es endet.

SPIEGEL ONLINE: Präsident Jacques Chirac und Regierungschef Dominique de Villepin haben für Ende des Monats einen Aktionsplan zur Beschäftigung arbeitsloser Jugendliche angekündigt. Was erwarten Sie sich davon?

Cohn-Bendit: Das ist der 1783. Aktionsplan. Das Problem ist nicht mehr so einfach mit einem Aktionsplan zu lösen. Sie müssen die Frage der Ghettos lösen. Das sind Ghettos, wie man sie in Deutschland gar nicht kennt. Sie müssen die Frage der Jugendarbeitslosigkeit lösen, die viel, viel größer ist als in Deutschland. So etwas wie ein duales Ausbildungssystem gibt es in Frankreich gar nicht. Sie haben in den Migrantenfamilien eine extrem hohe Arbeitslosigkeit. Es gibt Familien, die seit zwei Generationen nichts anderes als Arbeitslosigkeit kennen. Außerdem haben sich in diesen Stadtvierteln über Jahre hinweg Banden und Drogenringe gebildet. Ich finde es ja niedlich, dass Chirac und de Villepin sich jetzt zusammensetzen wollen, aber, was auch immer sie machen, es wird so schnell nicht greifen.

SPIEGEL ONLINE: Was könnte schnell greifen?

Cohn-Bendit: Schnell greifen könnte eine ganz andere Polizeistrategie. Einige Städte haben etwa Mediatoren, die versuchen, die Atmosphäre langsam zu entspannen. Aber das würde eine starke Bereitschaft der Polizei zur Selbstkritik voraussetzen. Wenn man aber glaubt, dass sich der Gewalt nur mit einem härteren Auftreten begegnen lässt, muss ich warnen: Das ist ein Vabanquespiel. Die Polizei kann hart auftreten und die Krawalle unterbinden, aber die Gewalt kann morgen in Montpellier, Lyon oder Marseille ausbrechen.

SPIEGEL ONLINE: Wenn ein Aktionsplan keinen Sinn hat, wie könnte eine langfristige politische Strategie aussehen?

Cohn-Bendit: Die ist natürlich schneller erzählt als umgesetzt. Es braucht eine Strategie, die nicht nur Arbeitslosigkeit abbaut, sondern auch Maßnahmen umfasst, mit denen diese Jugendlichen in eine Situation gebracht werden, die ihnen auch eine materielle Integration in die Gesellschaft ermöglicht.

SPIEGEL ONLINE: Welche Rolle spielen dabei die Schulen?

Cohn-Bendit: Die Schulen in diesen Stadtvierteln sind restlos überfordert. Die Lehrer fliehen, die ganze Strategie der Schulen in den problematischen Stadtteilen ist gescheitert. Diese Schulen konnten nie wirklich auf die Krise der Einwanderung eingehen, weil sie glaubten, man müsste die Einwanderer nur im traditionellen Sinne besser erziehen. Man müsste aber ein System entwickeln, dass den Schulen mehr Autonomie gibt, auch für den Einsatz von Reformpädagogen. Das erfordert natürlich hohe Investitionen, pädagogisch wie finanziell.

SPIEGEL ONLINE: Was kann Europa zur Lösung dieses Problems beitragen, etwa mit einer Weiterentwicklung des Europäischen Sozialmodells?

Cohn-Bendit: Kurzfristig nichts. Langfristig aber muss Europa die verschiedenen Integrationsstrategien der einzelnen Mitgliedstaaten vergleichen. Dann wird man feststellen, dass alle europäischen Bildungssysteme dort gescheitert sind, wo die Einwanderungsquote hoch ist. Ob Sie nach England schauen, in die Niederlande, nach Frankreich, nach Belgien, nach Deutschland - überall dort finden wir Schulsysteme, die Kinder von Einwanderern ausschließen. Hier müsste Europa ansetzen.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland genannt. Auch in Deutschland wird über Ghettoisierung und Parallelgesellschaften geklagt. Wäre ein ähnlicher Gewaltausbruch auch hierzulande möglich?

Cohn-Bendit: Ich glaube, sollte es in Deutschland zu solchen Auseinandersetzungen kommen, fänden sie nicht auf diesem Gewaltniveau statt. Es sähe vermutlich sehr eruptiv und sehr gewalttätig aus, allerdings ist der Sprengsatz in Deutschland geringer. Ich sage immer: Berlin-Kreuzberg ist ein Insel der Glückseligkeit im Vergleich zu dem, was in Frankreich existiert.

Das Interview führte Philipp Wittrock

Die Maschine
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So 6. Nov 2005, 21:34 - Beitrag #4

Also ehrlich gesagt, frage ich mich wie es zu diesen Unruhen gekommen ist.

Prinzipiell kann man sagen, dass so etwas auch bei uns passieren kann, wenn die Bürger die Schnauze voll haben und sich in Gruppen organisieren, obwohl man ja zum "Franzosen an sich" sagen muss, dass er sich ziemlich schnell oportun verhält.

Lykurg
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So 6. Nov 2005, 22:13 - Beitrag #5

opportun? Also 'günstig', 'passend', im übertragenen Sinne 'angepaßt' - meintest du das wirklich? Rabiatere Streiks als in Frankreich sieht man doch eigentlich eher selten (jüngste Beispiele: Fernfahrer und Bauern).

Außerdem ist die Frage der "Organisation" der meist jugendlichen Vandalen doch durchaus umstritten, etwa Cohn-Bendit weist das ja deutlich genug zurück... Und wieweit sie sich als "Bürger" verstehen, weiß ich auch nicht.

tjej
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Mo 7. Nov 2005, 10:54 - Beitrag #6

Ähnliches droht auch in Deutschland(und anderer europäischen Ländern).

Gegenmassnahmen: Bessere Schulbildung(kleinere Klassen, mehr Lehrer, Sozialarbeiter an Schulen, Förderung, Förderung, Förderung von Einwandererkindern)

Bessere Wohnungen fuer Einwanderer und bloss keine "Ghettobildung".

Gratis-Sprachunterricht fuer Einwanderer

Gutbezahlte Jobs fuer Einwanderer

Exzellente Gesundheitsvorsorge fuer Einwanderer

Eine gewisse Toleranz gegenueber straffällig gewordenen Einwanderern, denn man beruecksichtige bitte deren besondere Lebenssituation.

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Mo 7. Nov 2005, 11:24 - Beitrag #7

Angescihts der Gesamtlange sind deartige Massnahmen etwas utopisch, und eine Umsetzung solcher mit priorisiering von Einwanderern angesichts besagter Lage fuerht zu weit unruhigeren Unruhen.

Ipsissimus
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Mo 7. Nov 2005, 14:08 - Beitrag #8

mann hat aber offensichtlich immer das Geld, teure Polizeieinsätze zu finanzieren, aber nie das Geld, solche Einsätze durch langfristig wirkende integrative Bemühungen überflüssig zu machen.

übrigens habe ich gerade in den lokalen Nachrichten gehört, daß 5 Minuten von hier, in meiner französischen Nachbarstadt, letzte Nacht 90 Autos abgefackelt wurden

Feuerkopf
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Mo 7. Nov 2005, 15:23 - Beitrag #9

Wenn ich den Berichten glauben darf, sind die Jugendlichen unpolitisch wie nur was. Sie zerstören die Autos ihrer Mitbewohner, die Schulen in ihrem Quartier. Einen Toten hat es inzwischen gegeben.
Da steckt - noch - kein System hinter, sondern ist schierer Krawall.
Es ist illusorisch zu glauben, man könne einfach ein paar Hundertschaften vor Ort postieren und es passiere schon nichts. Da muss tagsüber schon ein wenig mehr in Richtung De-Eskalation passieren. Da die Jugendlichen unorganisiert sind, gibt es auch keine "Verhandlungsführer". Da muss wirklich jedes einzelne Grüppchen ernst genommen werden.
Himmel, die Molli-Werfer sind teilweise noch Kinder!

Maglor
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Mo 7. Nov 2005, 16:15 - Beitrag #10

Ich denke der Geist der Jakobiner ist niht weniger türkisch als algerisch.
Man kann seine vergleiche ziehen: Der entscheidende Punkt ist, dass das Fass nun einmal übergelaufen ist.
Ähnliches passiert ja auch immer wieder in den USA. Gerüchte tauchen auf, dass Polizisten irgendeinem Schwarzem Übles antaten und schon hat man den Effekt der sogenannten "Rassenunruhen". (Ob die Polizei nun tatsächlich... spielte im Grunde natürlich keine Rolle.)
Wie gesagt ist die Tatsache, dass es sich bei den Randalieren auch um Muslime handelt, relativ bedeutungslos. Entscheidender halte ich, dass es sich um Nachfahren der "Ureinwohner" französischer Ex-Kolonien handelt. Sprich es gibt eine französische Tradition entsprechende ethnische Gruppierungen auszubeuten, zu bevormunden, zu benachteiligen...
Jede Form dieser Ungleichkeit kann daher leicht als neokolonial gedeutet werden und jeder Fehltritt des französischen Staates ebenso einen verlagerten Algerienkrieg auslösen.
MfG Maglor :rolleyes:

tjej
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Mo 7. Nov 2005, 16:25 - Beitrag #11

Es handelt sich nicht nur "auch" um Muslime, sondern zum weit ueberwiegenden Teil um Muslime.

Maglor
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Mo 7. Nov 2005, 16:29 - Beitrag #12

Mit dem "auch Muslime" meinte ich, dass es sicher vor allem um Emigranten nordafrikanischer Abkunft handelt, also auch um Muslime; aber ich halte die Religionszugehörigkeit der Banden für absolut zweit- bis drittrangig.
MfG Maglor

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Mo 7. Nov 2005, 18:59 - Beitrag #13

Zitat von Die Maschine:Also ehrlich gesagt, frage ich mich wie es zu diesen Unruhen gekommen ist.


Dieses Problem existiert, wenn ich meinem Französischlehrer glauben darf, schon seit 20-30 Jahren. Diese Ghettos bestehen einfach aus riesigen Hochhaus-Betonklötzen, die Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit war schon immer da.
Und immer hat die Regierung versäumt, etwas dagegen zu unternehmen. Waffen- und Drogenhandel ist dort an der Tagesordnung, und die Polizeipräsenz ist offenbar fast gleich null, weil sich kleine Polizistengruppen offenbar schon gar nicht mehr dahin trauen, weil die Leute so unglaublich aggressiv gegen sie sind.

Und das Schlimme ist, dass es so lange niemanden interessiert hat! Das Problem wurde einfach weitgehend ignoriert. Eine Eskalation war vorprogrammiert. Mich wundert es ehrlich gesagt nicht.

Elbereth
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Mo 7. Nov 2005, 20:06 - Beitrag #14

Aber es gibt doch sicher auch "richtige" Franzosen, die in Ghettos oder in schlechterne Verhältnissen leben, zwar natürlich nicht so viele, aber trotzdem kann es nicht der einzige Grund für die Ausscheitungen sein. Ich glaube auch kaum, dass diese randalierende Jugendliche irgendwelche politische Ziele oder Ideale haben, die sie verfolgen, sondern wie Feuerkopf das schon gesagt hat, es geht denen wohl nur primär um das Zerstören/Chaos machen oder wie auch immer man das nennen soll. Und nachdem es wohl eher zufällig zu den ersten Eskalation gekommen ist, haben sich die Randalierer (und dazu veranlagte Jugendliche in anderen Städten) gedacht, hey, es klappt doch, die Polizei ist machtlos, wir können es ja ruhig noch mal versuchen :rolleyes:

Übrigens finde ich nicht, dass Frankreichs Regierung jetzt auf Anhieb tolle Gesetze für die Leute aus Maghreb verabschieden soll, denn das würde ja bedeuten, dass Krawalle machen eine erfolgreiche Methode wäre, um die Regierung zu etwas zu zwingen, und das sollte man auf jeden Fall vermeiden.

Lykurg
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Mo 7. Nov 2005, 22:47 - Beitrag #15

Wie der nachfolgende Artikel aus dem heutigen Handelsblatt deutlich zeigt, attackieren die Jugendlichen gezielt Integrationseinrichtungen und Einwanderer, die es "geschafft" haben. Insofern sehe ich doch ganz große Probleme bei den doch schon ziemlich oft gehörten Forderungen, man müsse sich etwa durch "langfristig wirkende integrative Bemühungen" (Ipsissimus) um diese Gruppen bemühen. Wenn sie Integration bewußt ablehnen, haben wir ein massives Problem - und mit Geld und lieben Worten läßt es sich wohl kaum lösen (wenn auch natürlich nicht mit Gegengewalt).

Nun der angekündigte Artikel. Da das Handelsblatt amüsanterweise die Artikel schnellstmöglich ins kostenpflichtige Archiv verschiebt, mußte ich ihn abtippen... was tut man nicht alles für die Gemeinschaft.^^
Zitat von Handelsblatt vom 7.11.2005:Jeder gegen jeden
Warum Frankreichs Vorstädte nicht zur Ruhe kommen
Holger Alich, Aulnay-sous-Bois

"Jungs aus unserem Viertel haben meinen Bulli verbrannt", sagt Gri Belkacem. Der Fleischer wischt sich die Hände am blutverschmierten Kittel ab. Die Schatten unter seinen braunen Augen verraten Müdigkeit. "Ich kenne die Jungs. Hab' auch Anzeige erstattet. Aber was bringt das schon.“ Belkacem packt die nächste Kiste mit Geflügel und wuchtet sie in den Kühlraum seiner Metzgerei. Gegenüber steht das ausgebrannte Skelett eines Ford Fiesta.

Seit dreieinhalb Jahren bietet der gebürtige Marokkaner nach islamischen Riten geschlachtetes Fleisch in Aulnay-sous-Bois am Stadtrand von Paris an. Die Geschäfte laufen gut. Belkacem ist das gelungen, was für die randalierenden Vorstadt-Jugendlichen in Frankreich wie ein Traum erscheint: Er hat sich erfolgreich integriert.

Schon elf Nächte in Folge brennen in Frankreichs „Cités“ Autos, Schulen, Geschäfte Was vor den Toren von Paris als Krawall von Einwanderersprösslingen gegen den verhassten Staat begann, breitet sich aus wie ein Flächenbrand über ganz Frankreich: Marseille, Lille, Cannes, Nantes, Avignon, Straßburg.

In Aulnay hat der Krawall eine neue Dimension angenommen: Es geht nicht mehr allein um das Misstrauen zwischen Franzosen unterschiedlicher Herkunft. Die Randalierer rechnen auch ab mit denen aus den eigenen Reihen, die den Durchbruch in die bürgerliche Gesellschaft geschafft haben. Die Verlierer bestrafen die Sieger.

Vergangene Woche brannte in Aulnay das Renault-Autohaus ab. Die, die dort ihr Brot verdienten, sind nun so arbeitslos wie die Täter selber. Der republikanische Grundsatz der „Egalité“, der Gleichheit, bekommt eine neue Bedeutung.

„Schon vor einem halben Jahr haben einige Typen meinen Laden demoliert“, erzählt Fleischer Belkacem. Dabei krachten sie mit einem geklauten Wagen frontal in das Geschäft. Geklaut wurde nichts. Jüngst drohten ihm Jugendliche: „In der nächsten Nacht ist dein Geschäft dran.“

Die Bewohner von Aulnay beginnen, sich zu wehren. Am Samstag versammeln sich 500 Demonstranten zu einem Schweigemarsch durch die 80 000-Einwohner-Stadt, direkt vorbei an der berüchtigten „Cité de 1000/1000“ mit seinen zehnstöckigen Mietskasernen. Soziale Brennpunkte wie dieser sind es, von denen im ganzen Land die Gewalttätigkeiten ausgehen. Hier in Aulnay brannten Jugendliche vergangene Woche das Begegnungszentrum nieder.

Bürgermeister Gérard Gaudron und die Stadträte tragen ihre blau-weiß-roten Schärpen. „Wir weichen nicht der Gewalt“, ruft Gaudron in die Menge. Applaus. Jemand stimmt die Marseillaise an.

Drumherum bietet sich ein Szenario wie nach einem Bürgerkrieg. An der Straße des 8. Mai, an der auch die Fleischerei von Gri Belkacem liegt, räumen Männer die Trümmer eines ausgebrannten Ladens weg. Alle hundert Meter steht ein ausgebranntes Autowrack. Keine Telefonzelle hat noch eine einzige intakte Glasscheibe. Der Geruch verbrannten Kunststoffs liegt in der Luft.

1,90 Meter, kräftige Oberarme: Ange Andongui sieht nicht so aus, als könnte ihn so leicht etwas umhauen. Andongui ist Sozialarbeiter in Aulnay. Einige Meter von der Fleischerei Gri Belkacems entfernt mustern Polizisten eine Gruppe Jugendliche. Es dämmert. Eine blonde Frau presst ihre Einkaufstüte fest an sich und huscht an den Polizisten vorbei.

„Letztes Jahr haben wir hier einen 15-Jährigen beerdigt, den ein Gleichaltriger erstochen hatte“, erzählt Andongui, „da ist es mir lieber, sie zünden Autos an.“ Seit Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 2002 überraschend in die zweite Runde einzog, hätten die Vorstädte „aus der Politik nur noch repressive Äußerungen“ vernommen. Für die Gewalt habe nur „der Auslöser gefehlt“.

Ein Stück weiter auf der Straße des 8. Mai sitzen Medhi, 29, und Mohammed, 33, auf dem Rand einer Mauer mit ihren Kumpels. Sie tragen Trainingsjacken, Jogginghosen und um den Hals Handys. Sie sind in Frankreich geboren und haben französische Pässe.

Medhi hat sogar in der französischen Armee gedient. Als geachteter Staatsbürger fühlt er sich deshalb nicht. „Wenn die Polizei bei einer Kontrolle meine Papiere sehen will, sagen die Beamten nie 'Guten Tag'. Sie machen immer sofort riesiges Theater und drohen“, erzählt er. Die Stimmung im Viertel sei auf dem Tiefpunkt: „Alle hier haben Angst. Auch die Jugendlichen.“

Medhi und Mohammed fühlen sich schon jetzt als die Verlierer der Gewaltwelle. „Die Leute aus den Vorstädten werden noch mehr geächtet werden, als dies jetzt schon der Fall ist“, sagt Medhi. „Der Einzige, der von dem Chaos hier profitieren wird, ist der Rechtsextremistenanführer Le Pen.“

janw
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Di 8. Nov 2005, 02:15 - Beitrag #16

Ich bin nun noch nicht dazu gekommen, den thread gründlich zu lesen, aber etwas kommt mir dazu schon in den Sinn.

Für mich kommen die Unruhen keineswegs von Ungefähr, sie habe tiefere Ursachen, als Anlass sehe ich aber die Äußerungen des frz. Innenministers Sarkozy.
Wer Menschen als Dreck bezeichnet, als Unrat, den es mit Hochdruckreinigern zu beseitigen gilt, der muss sich nicht wundern, wenn diese Menschen sagen: "Wenn Ihr unser Leben nicht achtet, achten wir Eure Gesetze nicht!"
Ich verstehe das Rebellieren vollauf, halte es für notwendig, gegen eine derart menschenverachtende Politik.

Wobei ich aber entsetzt bin, wie sich der Protest gegen die eigenen Menschen richtet, das darf es so nicht geben. Hoffentlich bekommen die Leute in den Stadtvierteln das selbst in Griff, ohne Polizei.

Ich weiß, es mag für manche etwas verwunderich klingen, das von mir zu lesen, aber ich halte Herr Sarkozy und auch seinen Staatspräsidenten, der nichts gegen den Innenminister tut, für verbrecherisch, sie betreiben Volksverhetzung, und gehören deshalb in meinen Augen vor Gericht.
Vive la Revolucion!

Ipsissimus
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Di 8. Nov 2005, 10:27 - Beitrag #17

Lykurg, ich bin wirklich verwundert, daß das Handelsblatt eine derart konservative Auffassung von den Ereignissen propagiert ...^^
Die Karre in diesen französischen Ghettos wurde dort über Jahrzehnte hinweg gründlichst verbockt (mensch verzeihe mir die Mischung zweier Redewendungen^^). Darauf mit ein paar rührseligen Geschichtchen zu reagieren, erscheint mir aussagekräftig - für die Absicht der Berichterstatter des Handelsblattes, sich keineswegs auf eine inhaltliche Diskussion einzulassen. Daß das Handelsblatt eine Grundtendenz verfolgt, die gutdeutsch darauf hinausläuft "solange ihr euch nur still und brav regieren und alles mit euch machen lasst, ist alles gut" dürfte klar sein. Die gleichen Leute hätten den Aufstand im Warschauer Ghetto genau so mit Geschichten vorbildlich gottergebener Juden kommentiert.

Diese französischen Ghettobewohner sind über Jahrzehnte auf Übelste in ihrer Menschenwürde getreten worden. Nun gut, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Es gibt jene, die sich mit dieser Herabwürdigung arrangiert haben; es gibt jene, die überkochen. Das Verbrechen liegt woanders; und diesbezüglich stimme ich janws letztem Beitrag vollinhaltlich zu.

Fr.Doktor
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Di 8. Nov 2005, 14:26 - Beitrag #18

Brennpunkte

Soziale Brennpunkte, sieht man die Zustände in Frankreich, so erschließt sich das Wort in einem brandheißen Sinne.
Heutzutage werden Stadtteile dieser Art nicht mehr Soziale Brennpunkte genannt, sondern euphemistisch "Stadtteile mit erhöhtem Erneuerungsbedarf, wobei nicht so ganz klar wird ob damit die Häuserschluchten oder die Bewohner gemeint sind.

Die Gründe der Gewalt müssten eigentlich für alle Augen deutlich sichtbar sein.
Wenn ich Menschen, denen ich kaum Chancen einräume, in schlechter Wohnsubstanz kaserniere, wenn ich die Betreuung streiche, wenn Deeskalation und Integration zu Fremdwörtern werden, brauche ich mich nicht wundern, wenn die Menschen irgendwann ausrasten.

Die Lösung dieser Probleme ist tatsächlich so einfach, wie von tjej beschrieben:

Gegenmassnahmen: Bessere Schulbildung(kleinere Klassen, mehr Lehrer, Sozialarbeiter an Schulen, Förderung, Förderung, Förderung von Einwandererkindern)

Bessere Wohnungen fuer Einwanderer und bloss keine "Ghettobildung".

Gratis-Sprachunterricht fuer Einwanderer

Gutbezahlte Jobs fuer Einwanderer

Exzellente Gesundheitsvorsorge fuer Einwanderer

Eine gewisse Toleranz gegenueber straffällig gewordenen Einwanderern, denn man beruecksichtige bitte deren besondere Lebenssituation


Und das bitte nicht nur für Einwanderer, sondern für alle, denen es an Geld, Bildung, Gesundheit und Chancen im Leben mangelt.

Solche Maßnahmen benötigen jedoch Geld, nämlich Geld für Sozialarbeiter und andere Pädagogen, solche Maßnahmen erfordern Geduld, manche Veränderungen vollziehen sich vielleicht erst über Generationen, so wie sie Generationen benötigt haben, um so desolat zu werden, wie sie sich derzeit zeigen, sie erfordern den Willen breiter Gesellschaftsschichten Integration zuzulassen und eine Politik die nicht mit kurzfristigen und martialischen Lösungen in Richtung Mittelschichtswähler blickt.

Im Grunde meines Herzens bin ich jedoch zutiefst davon überzeugt, dass jede Gesellschaft ihren "Abschaum" benötigt, um sich als guten Teil der Gesellschaft konstruieren zu können.
In diesem Sinne wird es immer und immer und immer, egal unter welchem Herrschaftssystem, ausgeschlossene Gruppen geben.

tjej
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Di 8. Nov 2005, 15:46 - Beitrag #19

Der sogenannte "Sozialstaat" herkömmlichen Modells schafft solche gravierenden Probleme.

Er "zuechtet" soziale Problemfälle geradezu heran.

Diese werden uns noch teuer zu stehen kommen, vielleicht unser Leben kosten.

janw
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Di 8. Nov 2005, 15:56 - Beitrag #20

Zitat von Fr.Doktor:Im Grunde meines Herzens bin ich jedoch zutiefst davon überzeugt, dass jede Gesellschaft ihren "Abschaum" benötigt, um sich als guten Teil der Gesellschaft konstruieren zu können.
In diesem Sinne wird es immer und immer und immer, egal unter welchem Herrschaftssystem, ausgeschlossene Gruppen geben.

Das wird wohl so sein, zumindest war es wohl bisher immer so.

Aber was letztlich nötig ist, ist eine Politik, die sich eine weitestmögliche Beseitigung dieser Ausgeschlossenheit von Gruppen, eine weitestmögliche Vermittlung von Chancen auf die Fahnen schreibt und dieses Ziel nachdrücklich verfolgt.
Politiker, die chancenlose Gruppen im Stich lassen, kriminalisieren und für Wahlkampfzwecke instrumentalisieren, begehen Verrat an ihrem Volk.

Frankreich braucht, denke ich, einen Neuanfang. Der mit einer echten Entschuldigung und einem völligen Rückzug des Innenministers beginnen müßte. Wenn nicht einer Anklage wegen Hochverrats.
Danach hieße es, Vertrauen zurück zu gewinnen, und das wird steinig.

tjej, aus meiner Sicht hieße die Alternative Neoliberalismus und führt eher in Richtung von noch mehr Ungleichheit der Chancen.
Oder welches Modell siehst Du als Alternative?

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