Lykurg, der Gedanke mit dem Glaubensbekenntnis kam mir auch, es ist damit keine Einzelmeinung...
Wo wir nun aber mal dabei sind...will ich die Sache trotzdem mal als Satz von Tatsachenbehauptungen und Schlüssen jenseits von Glaubensgewißheiten behandeln.
Angreifbar ist der Text zwangsläufig, es handelt sich bei Doering nicht um einen marxistischen Theoretiker.^^ Zugleich verfolgt er damit nicht die Absicht, in einer allumfassenden Arbeit sämtliche Argumentationen der Gegenseite zu sammeln und zu widerlegen, sondern stellt in einem Drei-Seiten-Aufsatz ein paar wesentliche Punkte zusammen, die er in aller Kürze recht schlüssig begründet - jedenfalls ein erheblicher Teil der bisherigen Gegenbehauptungen hat sich nicht mit seinen Begründungen beschäftigt, sondern Aussagen aus ihrem Zusammenhang gepflückt und mit einer erheblich weniger elaborierten Argumentationsstruktur zu widerlegen versucht.
Er hat eine vorgefasste Meinung, für die er passende Belege heranzieht, dem Widersprechendes weglässt, dabei zwangsläufig die Wahrheit verdrehend und verkürzend und in für sein Erkenntnisinteresse passender Weise interpretiert.
Das Ergebnis hat damit keine Relevanz in Bezug darauf, daß es irgendwie objektiv richtige Aussagen träfe.
Propaganda eben, wie es sie in beiden Lagern gibt.
Nur, und das ist für mich der springende Punkt, verspielt Doering damit einen Grad an Seriositätszuerkennung, die er
ex positione in den Augen vieler Rezipienten hat - "wenn der Doering das so sagt, dann muss da wohl was dran sein...", würden sicher viele weniger in der Materie steckende Menschen sagen.
Daß mein Beitrag weniger elaboriert war als Doerings Text, liegt darin begründet, daß es mir nicht darum ging, das Gegenteil zu beweisen im Sinne von "der Sozialismus ist allgütig, der Kapitalismus das Grundübel", sondern am Text entlang die Fehler aufzuzeigen, die ich in Doerings Text sehe. Gewiss, nicht ohne verve^^
Wobei das Textformat leider sehr zitierunfreundlich ist und ich nicht so viel Zeit auf passagenlanges Abschreiben verwenden wollte.
Für die angeführten "vom Westen ausgelösten Hungerkatastrophen" würde mich das eine oder andere Beispiel interessieren; wenn du jedenfalls anfängst zu bilanzieren, sollten die jeweils ca. 30 Mio. Hungertoten in China zur Zeit des "Großen Sprunges" oder in der Ukraine in den 30ern nicht völlig vernachlässigt werden - und ich bezweifle sehr, daß das auch nur ansatzweise "ausgeglichen" werden kann. Darüber hinaus sehe ich auch die "Täterschaft" des 'Westens' nicht so ganz - letztlich sind ein erheblicher Anteil der Probleme hausgemacht, und in den tatsächlich freien Gesellschaften ist auch der Hunger kein wesentliches Problem mehr.
1. Das Aufrechnen von Toten ist meine Sache eigentlich nicht, aber da Doering die fraglos gegebenen Zahlen von Todesopfern als Argumentationsgrundlage verwendet, muss ich wohl oder übel mit anderen Zahlen dagegen halten - so sehr mir das aus humanitärer Sicht widerstrebt.
2. Man kann den Kolonialismus nicht aus der Kapitalismusdebatte ausblenden, er wurde in England und Deutschland so betrieben, daß das Militär die Kolonien so weit erschloss, daß sie danach für die Ausbeutung durch Kapitalgesellschaften der Mutterländer bereit waren. Carl Peters, in damals Deutsch-Südwestafrika verantwortlich für Massaker und Vertreibungen (Verhungernlassen Zehntausender!) an den Buschleuten und den Nama agierte als Vertreter Deutscher Kapitalinteressen, ebenso war die Eastindian Tea Company eine britische Privatunternehmung, die unter dem Schutz der Krone in Indien schalten und walten durfte, ebenso eine niederländische Gesellschaft in den niederländischen Kolonien auf Java usw.
3. Wirken die Folgen des Kolonialismus in den Ländern fort - in Form von kultureller Entwurzelung, Verlust traditioneller Fertigkeiten (es gibt Hinweise darauf, daß Teile des Amazonasbeckens von den Indios landwirtschaftlich genutzt wurden und eine recht große Bevölkerung davon leben konnte. Die Techniken, mit denen dort auf den armen und empfindlichen Böden gewirtschaftet wurde, sind mit den ausgerotteten Indios verschwunden. Mittlerweile hat man da aber Hinweise, die sehr interessant sind), Grenzziehungen, die quer durch Stammesgebiete schneiden, Großgrundbesitz in Händen der Nachfahren der Kolonisatoren, uvm
Die Unterstützung korrupter, aber willfähriger Regime (s. Abacha, Mobuto,...) und nachfolgende rücksichtslose Ausbeutung der Länder durch westliche Konzerne (schau Dir mal an, was Shell im Nigerdelta angerichtet hat!) kann als Neokolonialismus bezeichnet werden.
Von "hausgemachten Problemen" zu sprechen, trifft es also nicht ganz^^
4. Der Rückgang von Hungerkatastrophen in Mitteleuropa, den es im 19.JH tatsächlich gab, lag wesentlich in der Einführung des Kunstdüngers, verbesserter Ackerbau- und Haltungsmethoden und den Gemeinheitsteilungen begründet.
Der freie Bauer auf eigenem Land ist sicher eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte.
Der Kolonialismus ist in vielfacher Hinsicht eine dunkle Epoche (übrigens nicht in jeder, aber das führt uns vom Thema weg), seine schlimmsten Erscheinungen gingen allerdings nicht auf freies Unternehmertum zurück, sondern auf die Entscheidungen von Monarchen oder ihrer Machtstrukturen. Ich würde etwa Wilhelm II. nicht gerade als einen Vorzeigeliberalen darstellen wollen, auch wenn er zugegebenermaßen kein Sozialist war.^^
Der Sklavenhandel war privatwirtschaftlich organisiert
Die East Indian Tea Company war eine privatwirtschaftliche Unternehmung, ebenso war Carl Peters in dem Sinne tätig.
Dies sind nur 2 Beispiele...
Die von dir genannten sozialen Verbesserungen durch Arbeitgeber und Regierungen sind zum Teil ein Ergebnis des "Drucks der Straße", zum Teil auch aus eigener sozialer Geisteshaltung entsprungen - aber auch im ersten Fall nicht als bloße Machtpolitik abzutun, sondern letztlich Anzeichen für funktionierenden Ausgleich eines Interessenkonflikts, wie so viele bestehen. Für deren dauerhaft funktionierende Abwägung sind liberale Strukturen aufgrund ihrer weit höheren Flexibilität gegenüber individuellen Bedürfnissen erheblich besser geeignet als eine wie auch immer funktionierende zentralistische Regierungsmacht. Liberalismus endet nicht auf der Ebene der Unternehmen, es handelt sich auch nicht um ein rein wirtschaftliches Konzept.^^
Liberalismus und Kapitalismus sind zweierlei und prinzipiell von einander unabhängig aus meiner jetzigen Sicht.
Daß ein individualunternehmerisch organisierter Kapitalismus flexibler ist als ein statswirtschaftlich organisierter Sozialismus, ist sicher so, liegt aber nicht am -ismus, sondern an der Organisationsstruktur. Die microsoftdominierte Softwarebranche ist alles, nur nicht flexibel und kundenfreundlich.
Die sozial engagierten Unternehmer handelten sicher nicht_nur aus unternehmerischer Vernunft, einigen kann man eine humanistische Gesinnung nicht absprechen. Allerdings gab es auch bei den Kolchoschefs solche und solche...
Aber in Teiten des
shareholder value zeigt sich, wie schwankend der Boden der humanistischen Gesinnungen ist, wie gut es denn doch ist, gesetzlich fixierte Standards zu haben.
Die US-Staatsverschuldung ist nicht Folge des Handelns amerikanischer Unternehmen; und ich glaube nicht, daß du allen Ernstes Bush und seine Regierung als liberal geprägte Menschen darstellen möchtest. "Neoliberalismus" mag zwar ein stylishes Schimpfwort geworden sein, das bedeutet aber noch nicht, daß es auf jeden Menschen anwendbar ist, der einem nicht ins Konzept paßt. Die derzeitige US-Regierung ist erzreaktionär; ein zentraler Konflikt bereits der ersten Hälfte des 18. Jh. war der zwischen liberalem und konservativen Bürgertum, noch bevor Marx und Engels aktiv wurden - und die von dir angeführte bittere Not der Zeit war nicht gerade die Folge liberalen Denkens.
Wenn man das Fehlen eines Sozialsystems, die Gestaltung des Steuersystems, Umweltauflagen und anderer wirtschaftsrelevanter Gegebenheiten auf Pressionen seitens wirtschaftlicher Lobbygruppen zurückführt - wodurch letztlich der Staat für alle Folgekosten der wirtschaftlichen Betätigungen aufkommt, wo er sich nicht selbst aus der Verantwortung ziehen kann und die Verursacher fein raus sind, dann ist die Verschuldung zumindest in diesen Bereichen durch die Wirtschaft und ihre Lobbies mit verursacht.
Letztlich dient auch die amerikanische Außenpolitik samt Militäreinsätzen wesentlich wirtschaftlichen Interessen.
Bush als liberal zu bezeichnen, würde mir nie einfallen, "neoliberal" ist IMHO nicht gleichbedeutend mit "wirtschaftsliberal".
Es geht aber nicht um eine Rechtfertigung des Liberalismus oder Kritik an diesem, sondern um Kapitalismus und Sozialismus. Die Not, die Marx und Engels zu ihren Ideen veranlassten, war eine Folge sicher nicht des Liberalismus, sondern des (Früh)kapitalismus, ist aber nicht vom "Früh" abhängig.
Zitat:
mangelnde Reaktionsbereitschaft der Politik auf die schon lange absehbaren Probleme
ist ein ganz zentrales Merkmal auch sozialistischer Gesellschaften, gerade hier finde ich Doerings Vergleich sehr angebracht. Ob nun die sozialen oder die freien Elemente einer Wirtschaft die stabilisierenderen Elemente sind, scheint mir mit deiner Feststellung noch nicht besiegelt - kurzfristig sind Sozialleistungen sehr wirksam zur Bekämpfung von Unruhen; wenn sie dann aber dazu führen, daß der ganze Laden irgendwann zusammenstürzt, erscheint mir das nicht als ein solides Fundament der Gesellschaft. Ludwig Erhard meinte nicht zu Unrecht, man solle den Kuchen erst groß machen, bevor man ihn verteilt. Daß dann Kluncker und andere sich sattfressen wollten und mehr Kuchen verschlangen, als je gebacken wurde^^, ist eines der Grundübel, mit denen wir jetzt umzugehen haben.[/QUOTE]
Auch Amerika ist nicht vorbereitet auf die schon länger absehbaren Probleme - die Energiekrise war absehbar, wenn man die Entwicklung in China verfolgte. Alle Systeme mit festgelegten Verteilungsschlüsseln für Gewinne, Verluste und Verantwortung neigen zur Verschleppung notwendiger Reaktionen - das trifft auf den Staatssozialismus des Ostblocks genauso zu wie auf kapitalistische Konzerne und Staaten jeden Grades an sozialer Verfasstheit.
Ich wage die Behauptung, daß ohne die sozialen Elemente der europäischen Marktwirtschaften diese nicht so erfolgreich wären, wie sie in wirtschaftlicher Hinsicht sind. Das Maß an dadurch erreichter sozialer Ruhe hat aus wirtschaftlicher Sicht IMHO positiv gewirkt.
Die aktuelle Krise der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland hört IMHO auf den Namen Kohl. Wären die notwendigen Reformschritte 1985 eingeleitet worden, stünden sie besser da heute. Daß die dann heute durchgeführten Reformen dafür schmerzhafter sind, ist nicht anders zu erwarten (daß sie z.B. bei HartzIV sogar unnütz und sozial nicht besser als die alten sind, sei noch am Rande erwähnt)
Deine Überlegungen zur Öko-Diktatur erscheinen mir treffend, ich sehe allerdings den Zusammenhang gerade nicht. Jedenfalls stünde es mir (und vermutlich auch Doering) fern, Umweltaktivisten generell sozialistischer Umtriebe zu verdächtigen, schon weil die Umweltbewegung dafür zu langlebig und zu erfolgreich ist.^^
Nun, Doering führt auch die Idee von der Öko-Diktatur als Beleg für seine Thesen über die Schädlichkeit des Sozialismus an, implizit klingt dabei für mich der Vorwurf von den Umweltbewegten als 5.Kolonne heraus - wenn Doering das auch nicht explizit so sagt.
Die Überlegungen zur Kultur - offenbar scheint Schostakowitsch für dich immer noch im Wesentlichen ein Geförderter zu sein - teile ich so nicht, der Zuckerbäckerstil und die vergleichbare Prachtentfaltung der Moskauer (und anderer) Metro-Stationen sind für mich absolut keine kreativere oder erstrebenswertere Entwicklung als moderne Stahlbeton-Glas-Bauten, Doering allerdings zielte wohl eher auf die Tristesse der Plattenbausiedlungen ab - ich konnte vor drei Wochen das Musterbeispiel Bratislava besichtigen, die dichtestbewohnte Stadt Europas. Vom Burgberg aus sieht man eine in den 1990ern wundervoll restaurierte Altstadt (die vorher laut Fotos total verrottet war), jenseits der Donau aber eine Trabantenstadt mit gigantischen Reihen von unglaublich häßlichen Plattenbauten, die bis zum Horizont reichen.
Der Wiederaufbau der Altstädte von Warschau und Danzig war ein spezifisch polnisches Prestigeprojekt, das durchaus nicht vollständig dem einhelligen Willen der sozialistischen Machthaber entsprach, zugleich waren die polnischen Verhältnisse immer etwas anders (wie ein Radieschen: außen rot, innen weiß, wie die Polen selbst sagten). Die Sprengungen der Leipziger Universitätskirche, des Berliner Stadtschlosses und diverser anderer Bauten sowie die 'Rekonstruktion'

der Berliner Innenstadt jedenfalls sprechen da eine etwas andere Sprache.
Ich hätte auch Solschenizyn nehmen können als kulturelle Hervorbringung.
Es ging mir nicht darum zu zeigen, daß der Sozialismus frei von Hässlichkeit, der Kapitalismus aber voll davon sei - davon bin ich weit entfernt.
Die Plattenbauten sind hässlich, aber keine zwangsläufige Folge des Sozialismus. Eher schon des Ressourcenmangels und des dennoch gegebenen Bedarfes an Wohnraum, der geschaffen werden musste.
Was Berlin betrifft oder Leipzig, das waren barbarische Akte, von Kulturbanausen. Ob Marx das gefallen hätte? Ich weiß es nicht...
Übrigens war Frankfurt/Main auch mal schön, bevor die Jugendstilhäuser durch Bankhochhäuser ersetzt wurden

Ist übrigens einer der Keimpunkte der westdeutschen linken Bewegung, der Häuserkampf zielte eben gegen diesen Akt der städtebaulichen Barbarei.