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Große Staaten, kleine Staaten

BeitragVerfasst: Mo 22. Mai 2006, 21:36
von Lykurg
Anläßlich des Referendums zur Unabhängigkeit Montenegros von Serbien stellte sich mir die Frage, inwieweit der notwendigen Flexibilisierung und regionalen Besonderheiten durch Loslösungen dieser Art besser Rechnung getragen werden kann. Immerhin hat Slowenien den Sprung in die EU geschafft, und Kroatien ist Beitrittskandidat - beachtenswerte Einzelleistungen. Könnte es vor diesem Hintergrund etwa sinnvoll sein, Korsika, das Baskenland, die Normandie und einige weitere Regionen in die Selbständigkeit zu entlassen?
(Nordirland lasse ich lieber raus, das verdient wohl lieber ab und zu einen eigenen Thread.)

BeitragVerfasst: Di 23. Mai 2006, 00:11
von janw
Die Korsen, Basken und Normannen würden das glatt bejahen^^
Ich wäre dann gleich noch dafür, Bayern aus Deutschland auszugliedern, was machen wir mit Neonazifünfland?

Nein, ich denke, bei einer Abspaltung von Regionen sind mehrere Gesichtspunkte zu betrachten: Wie und wann kam es zu der Zusammenfassung unterschiedlicher Regionen zu einem Staat, wie stark sind die internen Verflechtungen mittlerweile, welche Konsequenzen hätte die Abspaltung für beide Teile - auch für die wirtschaftliche Lebensfähigkeit?

Die meisten nach Autonomie strebenden Regionen in Europa sind wirtschaftlich, teils auch geographisch randständig und haben ein Erlebnis der Unterdrückung (wirtschaftlich wäre Katalonien mal eine Ausnahme), das für das Streben konstituierend ist, die Einbindung ist aber schon recht lange erfolgt.
Auf dem Balkan hat sich hingegen aus geographischen Gründen unter der langandauernden Herrschaft des osmanischen Reiches eine sehr unterschiedlich gemischte Bevölkerung entwickelt, deren Unterschiede in Jugoslawien zugunsten einer kollektiven "jugoslawischen" Identität negiert wurden - mit dem Ergebnis, daß die dennoch bestehenden Unterschiede gut nutzbar waren, um separatistische Tendenzen zu entwickeln und zu fördern (letztlich die Summe der Kriege der 90er Jahre).

Korsika als Insel ist kulturell sehr eigenständig, hat recht gut entwickelten Tourismus, wäre von daher vielleit lebensfähig und damit ein möglicher Kandidat. Katalonien ist wirtschaftlich sehr stark, seine Autonomie würde Spanien empfindlich treffen. Das Baskenland, wäre es wirtschaftlich lebensfähig? Ich bin mir nicht sicher...gleiches gilt für die Normandie.

Baskenland und Normandie wären dabei aufgrund ihrer kulturellen Eigenständigkeit - letztlich die letzten festlandkeltischen Relikte - sicher Gebiete, die man nicht unbedingt den Mehrheitsgesellschaften Spaniens und Frankreichs neu anschließen würde, wenn es heute um eine Anbindung gehen würde.

Letztlich rührt die Frage aber an einer Grundtatsache, die in Europa im Zuge der Nationalstaatenbildung gehörig unter die Räder geraten ist: Daß Europa nämlich immer ein Flickenteppich von recht eigenständigen Regionen mit gewissen übergreifenden Merkmalen gewesen ist.
Regionale Vielfalt an Kultur, auch an Sprachen, die heute in Gefahr ist, wo regionale Dialekte nur noch von den Alten gesprochen werden usw.

Diese Eigenheiten zu bewahren, die Herausforderung hätten die Basken auch als selbständiger Staat zu bewältigen, und sie wäre wenig kleiner als heute, wo der Autonomiestatus bereits eine staatliche Förderung von Sprache und Kultur vorsieht und garantiert.

BeitragVerfasst: Sa 27. Mai 2006, 11:44
von Ipsissimus
derartige Themen fallen mir immer ein bißchen schwer, weil sich zwei Seelen in meiner Brust streiten.

Da ist einerseits die Seele, die sich machtpolitischer Konstellationen, deren Relevanz und der Bedeutung von Kanonen überaus bewußt ist. Montenegro hätte niemals Unabhängigkeit von irgendetwas erlangt, wenn es
- bedeutend wäre (im Sinne von bedeutende Bodenschätze, bedeutende Handelsansiedlungen, bedeutende militärische Einflusspunkte udgl.)
- nicht für jemanden bedeutend wäre (haut die Serben)

Da ist andererseits die Seele, die wider jedes Wissen immer noch ihren Wahn träumt, menschliches Gemeinwesen könne zum Besten aller Menschen (als entgegengesetzt zu: zum Besten der Machteliten) strukturiert werden. Diese Seele träumt vom Ende der Globalisierung, vom Ende der Erpressung der Nationalstaaten durch Global Player, vom friedlichen Miteinander der Nationalstaaten in gegenseitigem Respekt und Wertschätzung; in diesem Zusammenhang wäre auch die Nationalstaatlichkeit der angesprochenen Bevölkerungsgruppen eine Selbstverständlichkeit

träum weiter, traumselige Seele von ipsi, mit der Wirklichkeit hast du nichts zu tun

BeitragVerfasst: Sa 27. Mai 2006, 12:48
von Traitor
Eingangsrandbemerkung: Ich vermute, ihr meint nicht die Normandie, sondern die Bretagne, Lykurg und Jan? PS: Und die Basken sind auch keine Kelten.

Ich denke, dass die gerne gebrauchte Floskel vom "Europa der Regionen" tatsächlich eine Zukunftsperspektive ist. Wenn (falls) der europäische Einigungsprozess endlich so ernsthaft weiterbetrieben wird, dass der Kontinent eine politische, wirtschaftliche und juristische Einheit wird, sind die derzeitigen Nationalstaaten viel zu unhandlich, um als zentrale Untergliederungsebene entsprechend unserer deutschen Bundesländer zu taugen. Hier halte ich es für geschickter, ein zweistufiges System aufzubauen: zum einen "Kulturunionen" aus Gebieten mit wesentlicher sprachlicher, geschichtlicher und ethnischer Identität, etwa Deutschland plus Österreich, der deutschen Schweiz und Bruchstücken von Belgien. Diese sollten keine allzugroße faktische Relevanz haben, nur stärkere gemeinsame Koordiniation, sondern primär der Identitätsstiftung gelten. Die entscheidende Einheit mit Teilkompetenzen in Wirtschaft, Infrastruktur, Kulturförderung etc wären die Regionen, die etwa in Deutschland aus reformierten 8er-Bundesländern oder in Spanien aus den autonomen Regionen bestehen könnten, jenachdem auch grenzübergreifend neu gebildet, wo es kulturell passt.

Von Loslösungen der Konfliktregionen, solange die Nationalstaaten in ihrer jetzigen Form bestehen, halte ich allerdings wenig. In einem Fall wie Montenegro, wo es keinen gefestigten Gesamtstaat gab, ist es in Ordnung, aber Abspaltungen von Teilen Frankreichs oder Spaniens würden viel größeren Wirtschafs- und Verwaltungsschaden anrichten, als sie kulturell mehr denn eine gute interne Autonomieregelung nutzen könnten.

BeitragVerfasst: Do 1. Jun 2006, 09:45
von Maglor
In einem Fall wie Montenegro, wo es keinen gefestigten Gesamtstaat gab, ist es in Ordnung, aber Abspaltungen von Teilen Frankreichs oder Spaniens würden viel größeren Wirtschafs- und Verwaltungsschaden anrichten, als sie kulturell mehr denn eine gute interne Autonomieregelung nutzen könnten.

Und ich dachte Jugoslawien wäre vor ein paar Jahren noch eine ordentliche Diktatur gewesen. Naja, wenn in Staat sowieso kaputt ist, kann er sich auch gleich in seine Bestandteile auslösen und solch winzige Enklaven wie Montenegro und besser noch das Kosovo ins Leben rufen.
Solche Gebiete sind in der Regel nicht wirtschaftlich verwaltbar, es sei denn sie heißen Monaco, Luxenburg usw. Jene Staaten haben allerdings einen großen Teil ihrer Kompetenzen an Organisationen und Zollunionen abgegeben. Montenegro wird es ohne versuchen.
Auch von der Erfüllung eines nationalen Wunsches kann nicht die Rede sein. An sich gibt es keinen Volk der Montenegriner, sondern nur Serben, Kroaten, Muslime, Albaner und Zigeuner. Die Verteilung der Minderheiten auf ganz Jugoslawien verhindert die Bildung ethnisch homogener Nationalstaaten ohne ethnische Säuberung.
Pulverfass Balkan, wo mag das alles enden?
MfG Maglor

BeitragVerfasst: Mo 5. Jun 2006, 16:26
von Traitor
Im letztwöchigen Spiegel wurde nun erwähnt, dass Moskau eine offizielle Abspaltung der Separatistengebiete Transnistrien (von Moldawien / Moldau), Süd-Ossetien und Abchasien (beide von Georgien) anstrebt, um in der internationalen Gemeinschaft willige Satellitenstaaten zur Seite zu haben. In Transnistrien soll sogar bereits ein Referendum in Arbeit sein.

Es stellt sich also die Frage, wie seitens der UNO darauf reagiert wird. Werden Referenden durch internationale Beobachter gesichert und die Staaten dann auch anerkannt? Oder versucht man, sie einfach weiter zu ignorieren, da ihre Unabhängigkeit weniger opportun ist als die Montenegros?

BeitragVerfasst: Mo 5. Jun 2006, 16:34
von teut
Maglor :Pulverfass Balkan, wo mag das alles enden????
Meine Meinung:
Am kleinen Teil des europäischen Kontinents, der für sich selbst in der ganzen Geschichte ein eigener Kontinent war und ist,wird die Generalprobe für Europa und damit der nörlichen Halbkugel abgehalten( Manes Sperber).
Ich bin der tiefsten Überzeugung so wie Yugoslawien zerfallen ist-ein Kunstprodukt von 1919 u 1945-wird die EU zerfallen.Europa ist nicht USA und alle Versuche in dieselbe Richtung sich zu entwickeln wird scheitern.Multikulti ist als Idee ein Bürgerkriegsprogramm.Diese Einsicht wird jeder entwickeln ,der sich die Geschichte des Balkans- incl der Geschichte Bulgariens, Rumäniens ,Griechenlands nicht zu vergessen Albanien und die Türkei u. auch Ungarn-näher angesehen hat. Seit Jahrhunderten versucht ein Volk auf Kosten aller anderen Nachbarn sich ein Großreich zusammen zu zimmern mit all den Folgen ,die ein solcher Wunsch mit sich bringt.Die Lebensfähigkeit solcher Klein und Kleinststaaten war immer umstritten das ist halt Europa.Ein Zentralistisches Europa hat aber ohnehin keine Überlebenschance da stehen schon England Frankreich u. Polen etc. dagegen nur Deutschland träumt noch immer den Traum eines übernationalen Gebildes, wie das alte "Römisch Deutsche Kaiserreiches" nur das wird es nicht spielen und am Balkan findet bereits die Generalprobe statt.

BeitragVerfasst: Mo 5. Jun 2006, 16:55
von Lykurg
teut, Sperber hat den Zerfall Jugoslawiens nicht mehr miterleben können, insofern ist er als Zeuge dieser 'Generalprobe' wohl eher bedingt geeignet. Die Frage, ob und wie die EU zerfällt, scheint mir ähnlich der neulich abstrakt betrachteten Diskussion "Wird der Westen untergehen?" - zwangsläufig, die Frage ist nur, wann. Allerdings ist, wie du auch selbst anführst, die Lage auf dem Balkan traditionell deutlich explosiver als in Resteuropa, jedenfalls sehe ich das nicht als 'Generalprobe', allenfalls als ein Zerrbild - ohne direkte Möglichkeiten zu Rückschlüssen, die darüber hinausgehen, daß Vielvölkerstaaten eine gewisse Eigendynamik entwickeln können. ;)

@Traitor: Die Abspaltung der Provinzen war ja irgendwie schon länger im Schwange, jedenfalls die Altkommunisten in Transnistrien lieferten sich doch schon seit Jahren kleinere Gefechte mit den Moldawiern, wenn ich mich nicht irre? Keine Beobachter hinzuschicken, sehe ich jedenfalls nicht wirklich als Alternative.

BeitragVerfasst: Mi 7. Jun 2006, 12:32
von Maglor
Der "Westen" setzt sich seit Jahren für den Niedergang der Bundesrepublik Jugoslawien bzw Serbiens ein. Die Anerkennung Montenegros ist nur der erste Schritt zur Zerschlagung.
Auf der anderen Seite ist man tunlichst um die Einheit Bosnien-Herzegowinas bemüht. Dort sollen Serben, Kroaten und Muslime um jeden Preis zusammenleben, notfalls eben unter UN-Bevormundung.
Was Transnistrien und Co betrifft: Hierbei handelt es sich um de facto unabhängige Staaten, die ihren Status mittels Gewalt und russischer Patenschaft erreicht haben. Sie sind im Gegensatz zu Montenegro eben keine Zöglinge Westeuropa und der USA. Gleiches gilt auch für Nordzypern.
MfG Maglor