Madrid-Urteile

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
Dämmerung
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Mi 31. Okt 2007, 15:04 - Beitrag #1

Madrid-Urteile

die Urteile gegen die mutmaßlichen Attentäter der Anschläge auf vier Pendlerzüge in Madrid am 11. März 2003 sind gesprochen.

21 der 28 Angeklagten wurden verurteilt, 7 freigesprochen.

Unter den Freigesprochenen ist auch der ursprünglich als einer der Hauptbeteiligten angeprangerte Agypter Rabei Osman Sajed Ahmed.

4 Angeklagte, darunter der Spanier Emilio Suarez Trashorras, wurden zur Höchststrafe, jeweils knapp 40000 Jahre Gefängnis verurteilt^^ (von denen sie nach spanischem Recht 40 Jahre absitzen müssen).

14 Angeklagte wurden aufgrund geringerer Vergehen zu relativ geringfügigen Gefängnisstrafen verurteilt

henryN
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Do 1. Nov 2007, 05:01 - Beitrag #2

mit Schuld und Sühne verschwindet nicht die Tat. auch die Zeit die folgt lässt sich nicht aus ihr herausschneiden. Was sie nie tilgen könnten sind Grund und Wille.

Lykurg
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Fr 2. Nov 2007, 01:03 - Beitrag #3

Ob man nach spanischem Recht grundsätzlich ein Tausendstel der Haftstrafe absitzen muß? Und ob es deshalb eine Inflation der Strafmaße gibt? Bild

Ich sehe das Urteil als beruhigendes Zeichen dafür, daß offenbar nicht überall der außergesetzliche Notstand herscht.

keles
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Fr 2. Nov 2007, 02:26 - Beitrag #4

Hi.

Lykurg, könntes Du mir bitte eklern, wie du das meinst.

Zitat von Lykurg:Ich sehe das Urteil als beruhigendes Zeichen dafür, daß offenbar nicht überall der außergesetzliche Notstand herscht.


Ob mit einnem Urteil, gerechtigkeit herscht oder auch gerechtigkeit "ausgesprochen" wird, bezeifle ich grundsätzlich, egal bei was für einer tat.
Aber mir ist das deutlich liber als z. B. Selbstjustiz.

Leider dauern Verfahren im algemeinen undenlich lange, wobei ich in diesm Fall sagen mus, das es bei so vielen Verdächtigen sher schnel ging.
Warscheinlich lag es an dem großen algemeinen Interesse.


Liebe Grüße

Keles

Ipsissimus
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Fr 2. Nov 2007, 13:19 - Beitrag #5

Lykurg, das Strafmaß entstand dadurch, dass für jeden der Hauptangeklagten jeder einzelne der knapp 200 Toten als Mord und jeder der knapp 2000 Verletzten als Mordversuch gewertet wurde. Die 40 Jahre, die abgesessesn werden müssen, stellen nur die spanische Variante des allgemeinen Rechtsgrundsatzes europäischer Staaten dar, wonach außer bei bestimmten Situationen und Fällen jedem Menschen die Chance gegeben werden kann, sein Leben in Freiheit zu beenden.

Keles, an Gerechtigkeit glauben wahrscheinlich nur noch 5jährige Kinder. Wenn wir das GESAMTE Ursachengeflecht von Imperialismus und Terrorismus historisch und aktuell entflochten hätten, könnten wir vielleicht zu einem gerechten Urteil kommen. So brechen wir nach ein, zwei Stufen Erhellung der Kausalzusammenhänge ab und begnügen uns mit Regelkonformität. Selbstverständlich mit dem bitteren Beigeschmack, dass es immer die Regeln der Gewinner sind. Womit ich nicht bezweifeln will, dass besagte Verurteilte höchstwahrscheinlich Scheisskerle sind. Dass aber das Geschehene in einen Kontext eingebettet ist, dessen Struktur die wenigsten sich wirklich klarzumachen wünschen, weil dadurch der Dreck am Stecken auf allen Seiten offenbar würde. Die historische Schuld der ehemaligen Kolonialstaaten ist unermesslich. Was Taten wie die von Madrid nicht entschuldigt, aber vielleicht einen Hinweis darauf liefern könnte, dass die Wirklichkeit vielleicht nicht ganz so einseitig ist wie ein Gerichtsurteil. Den Opfern beider Seiten hat es freilich noch nie etwas genützt, unschuldig zu sein.

Lykurg
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Fr 2. Nov 2007, 22:32 - Beitrag #6

Ipsissimus, meine beiden Fragen waren eigentlich (^^) - ich sehe aber ein, daß es mißverständlich war.
Den Opfern beider Seiten hat es freilich noch nie etwas genützt, unschuldig zu sein.
Wer könnte denn von sich behaupten, unschuldig zu sein, also (wenn das denn dafür reichen sollte) sein menschenmöglichstes getan zu haben, derartiges und seine Ursachen zu verhindern, vergangenes zu sühnen, allein schon: zu verstehen?


keles, ich habe nicht von Gerechtigkeit gesprochen, nur von Gesetzmäßigkeit. Das große allgemeine Interesse darf in diesem Sinne auf die Prozeßdauer keinen Einfluß haben. Eher dürfte die Beweislage für ein schnelles Verfahren ausgereicht haben - bzw. im Fall einiger Freisprüche das Gericht schnell entschieden haben, unter illegalen Umständen zustandegekommene 'Geständnisse' nicht zu verwenden. Und eben dieser Punkt ist es, den ich positiv werte.

janw
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Sa 3. Nov 2007, 03:07 - Beitrag #7

Da gibts aber noch was...
Das Urteil hat nicht nur einen sehr grausamen Anschlag zum guten Teil aufgeklärt, sondern auch einen schlimmen Skandal aufgedeckt und damit erheblich zur Stärkung des Rechtsstaats beigetragen, der auch in Spanien immer wieder unter den Druck andere Interessen verfolgender staatlicher Institutionen gerät.

Schon vor dem Anschlag gab es von Polizeispitzeln Berichte, daß der Anschlag geplant wurde. Diese wurden nicht beachtet oder wurden gezielt ignoriert, die Anschläge fanden also statt, obwohl sie hätten verhindert werden können. Danach wurden die Spitzel zu den Tatverdächtigen gezählt - möglicherweise umd damit von dem vorherigen Versagen oder gezielten Nichtstun abzulenken.
Danach wurde gezielt versucht, eine Verbindung zur ETA zu konstruieren, wesentliche anderslautende Hinweise wurden ignoriert und damit relevante Beweise vernichtet.
Erst als diese Ermittlungen sich als unhaltbar erwiesen, wohl auch im Zusammenhang mit dem Regierungswechsel, wurde ernsthaft in die Richtung ermittelt, die sich nun als richtig erwiesen hat. Dabei wurden jedoch "Beweise" konstruiert und Menschen beschuldigt, die nichts mit den Anschlägen zu tun haben konnten, wie die Polizeispitzel.
Außerdem stellte sich im Laufer des Verfahrens heraus, daß die Tat nur möglich war, weil Sprengstoff in Bergwerken kaum gesichert war. Einer der Täter arbeitete in einem der betreffenden Bergwerke.

Insgesamt ist das Urteil damit eine massive Rüge an die Ermittlungsbehörden und an die Regierung Aznar.
Es ist IMHO der Schuld der rechtlich zweifelsfrei überführten Täter so angemessen, wie bei gleichzeitiger Wahrung des Gebotes zur nicht lebenslangen Bestrafung möglich, hinsichtlich der Freigesprochenen bleibt der Verdacht, einige hätten sich doch stärker schuldig gemacht, die Beweise seien aber durch die schlampigen Ermittlungen vernichtet worden.
Für die Opfer bleibt damit nur die bittere Erkenntnis, daß ihr Staat sie ein gutes Stück weit verraten hat, schlimm vor allem insofern, als viele wirklich ihr Leben mit den Folgen leben müssen.
Immerhin aber werden auch die 4 Haupttäter mit ihren jetzt 31 bis 42 Jahren nicht mehr sehr viele Jahre in Freiheit verbringen.

Hinsichtlich des tieferen Kontextes d'accord zu Ipsi, aber ich denke, daß solch ein Anschlag auf einfache Bürger aufgeklärt werden sollte, unabhängig, wieviel Dreck der Staat am Stecken hat.
Daß die tieferen Motivationen nicht herausgearbeitet wurden, zu denen gerade Spanien auch heute noch ständig beiträgt, keine Frage ein Mangel...

Ipsissimus
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Sa 3. Nov 2007, 12:20 - Beitrag #8

janw, ich habe nichts dagegen, wenn derartige Taten aufgeklärt werden, auch wenn dabei bestenfalls die Oberfläche gestreift wird. Ich habe nur etwas dagegen, wenn es so dargestellt wird, als sei dadurch das Problem in irgendeiner Weise einer Lösung näher gekommen. Das Problem ist dadurch tatsächlich noch nicht einmal tangiert.

Lykurg
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Sa 3. Nov 2007, 13:13 - Beitrag #9

Das Problem ist dadurch tatsächlich noch nicht einmal tangiert.
Ipsissimus, ich zumindest sehe auch in diesem spezifischen Zusammenhang nicht nur ein Problem, das aufgrund seiner Komplexität die Hoffnung auf jegliche 'Lösung' durch nationale Gerichte absurd erscheinen läßt.

Die Richter in Madrid haben meines Erachtens ihren Job gut gemacht; was darüber hinaus erwartest du von ihnen? Eine Entscheidung, die im Sinne eines dies nicht vorsehenden Völkerrechts "den Westen" für schuldig (oder wenigstens mitschuldig) erklärt an dem, was geschehen ist und geschehen wird? Das entzieht sich in jeder Hinsicht seinen Möglichkeiten.

Ipsissimus
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Sa 3. Nov 2007, 13:28 - Beitrag #10

Lykurg, ich teile deine (und janws) Auffassung, dass die Richter einen guten Job abgeliefert haben und wahrscheinlich gar nicht mehr, jedenfalls nicht viel mehr, tun konnten. Das grundlegende Problem ist ein politisches, und auf dieser Ebene sehe ich sowohl Handlungsbedarf als auch Versagen als auch bösartige Verweigerung im Übermaß, und das auf alles Seiten, nicht nur auf Seiten "der Terroristen"

janw
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Sa 3. Nov 2007, 13:30 - Beitrag #11

Das Problem ist dadurch tatsächlich noch nicht einmal tangiert.

Ipsi, da stimme ich Dir gerne zu, wenn es bei mir anders rüberkommen sollte - mea culpa^^
Das Problem ist, es sind zwei Probleme - das eine die Situation, daß mittlerweile(?) Gerichte zur alleinigen Verteidigungsinstanz des Grundrechtsstaats geworden sind und sich mit den politisch gewollten Schlampereien von einäugigen Ermittlern rumschlagen müssen. Siehe hierzulande auch den Fall des Berliner Soziologen.
Das andere, daß Geschichte fortwirkt, ihre realen und bewusstseinsmäßigen Folgen Handlungsimpulse für Menschen darstellen, die daraufhin Dinge tun, die möglicherweise von Gerichten zu beurteilen sind. Diese aber haben nach der gängigen Konzeption immer nur diese Taten zu beurteilen, öfters unter Würdigung direkter Einflussgrößen auf den Täter, aber nie Geschichte einzubeziehen, um gar nicht erst von aufarbeiten zu reden. Ebensowenig übergreifende aktuelle politische Gegebenheiten.

Letztlich, würde man dies einbeziehen, müsste man nicht den Opfern sagen: "Dumm gelaufen, aber Euer Leid, so bitter es ist, ist Folge des Handelns Eures Staates von Isabella und Philipp an, Ihr seid ihre Geiseln und müsst es erleiden"?
Gut, ein Weiser würde vielleicht anfügen:"Vielleicht würde es aber Euer Leiden mindern, wenn Ihr versuchtet zu verstehen, was die trieb...vielleicht findet Ihr irgendwann die Kraft und lernt sie kennen, die das Leiden zu dieser Tat trieb..."

e-noon
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Sa 3. Nov 2007, 14:03 - Beitrag #12

Vielleicht muss man auch nicht alle mit der Erbsünde behaften, die zufällig in einem Staat leben, dessen ehemalige Regierungen in der Vergangenheit irgendwem geschadet haben... vielleicht haben wir genug damit zu tun, aktuelle Missstände so gut es geht aus der Welt zu schaffen, ohne uns noch mit den Befindlichkeiten von Leuten zu befassen, die sich für vor Generationen begangenes Unrecht unbedingt an Unschuldigen (=Menschen, die niemandem absichtlich ein Verbrechen zufügen) rächen wollen...

Was auch immer man für ein Problem hat, mal eben eine U-Bahn zu sprengen, löst es nicht, und wer das anders sieht und eine U-Bahn mit Insassen sprengt, gehört dafür bestraft.

janw
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Sa 3. Nov 2007, 15:59 - Beitrag #13

Gut, dann erweitere Vergangenheit um gegenwärtig fortdauernde Politik, ist bei mir etwas zu kurz gekommen vielleicht.
Die Regierung Aznar hat sich am terroristischen Überfall auf Irak beteiligt, der ein Vielfaches an Menschen dort das Leben gekostet hat als das despotische Regime, das proklamiertermaßen dort beseitgt werden sollte.
Spanien ist eines der europäischen Länder, wenn nicht das, die illegal in fremden Hoheitsgewässern vor Westafrika fischen und damit den dort seit langer Zeit vom Fischfang lebenden Menschen die Lebensgrundlage rauben. Die Spanische Regierung duldet das Treiben ihrer Fischereifirmen nicht nur, sondern verstößt damit auch gegen europäisches Recht - und blockiert andererseits immer wieder dringend benötigte Fangrestriktionen für zahlreiche Fischarten, benötigt, um überhaupt noch eine Fischerei in 10 Jahren zu ermöglichen, von den ökologischen Belangen mal nicht zu reden.
Spanien sorgt dadurch dafür, daß verzweifelte Menschen aus Westafrika in brüchigen Holzbooten auf die kanarischen Inseln zusteuern, wobei Ungezählte ertrinken, die Aufgegriffenen wieder wie Abfall in ihre Heimatländer "entsorgt" werden.
Kein Grund, Menschen umzubringen, erst recht nicht viele "kleine" Leute in Atocha. Andererseits, wo können die Leute denn ansetzen, wo Macht selbst sich immer weiter einigelt?

Ketzerisch gefragt, sollte man nicht die Staaten Westafrikas aufrüsten mit Torpedos, um die illegalen Trawler...?

Ipsissimus
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Sa 3. Nov 2007, 16:33 - Beitrag #14

Vielleicht muss man auch nicht alle mit der Erbsünde behaften, die zufällig in einem Staat leben, dessen ehemalige Regierungen in der Vergangenheit irgendwem geschadet haben... vielleicht haben wir genug damit zu tun, aktuelle Missstände so gut es geht aus der Welt zu schaffen, ohne uns noch mit den Befindlichkeiten von Leuten zu befassen, die sich für vor Generationen begangenes Unrecht unbedingt an Unschuldigen (=Menschen, die niemandem absichtlich ein Verbrechen zufügen) rächen wollen...


eine Auffassung, die die Sieger fortwährend freispricht, d.h. solange relevant ist, wie die militärische Macht da ist, sie durchzusetzen. Ich höre schon, im Falle, "die Terroristen" würden wie auch immer gewinnen, dein zukünftiges Pendant auf der anderen Seite in ein paar Jahren sprechen, e-noon, ob man nicht endlich aufhören könne, die Taten vom 11. September oder vielen anderen Orten und Zeiten zu berücksichtigen, weil die Erinnerung daran doch eh nur stört.

Es ist vielleicht nicht notwendig, bis zur Erbsünde zurückszugehen, aber es ist notwendig, alle Zusammenhänge zu berücksichtigen, solange noch Menschen leben, die durch die vergangenen Verbrechen zu ungeheurem Leiden verurteilt wurden, bzw. solange es noch Menschen gibt, die aus der militärischen und bündnisbasierten Verlängerung der damals initiierten Weltverhältnisse bis in die Gegenwart ihren ökonomischen Nutzen ziehen und wie die Made im Speck leben, während sie dreiviertel der Erde zu Elend verurteilen

e-noon
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Sa 3. Nov 2007, 17:14 - Beitrag #15

Natürlich sollte man versuchen, Machtverhältnisse, die irgendwen zum Elend verdammen, nach Möglichkeit zu ändern, aber das unabhängig davon, wem wann wo in der Vergangenheit was angetan wurde - ein hilfsbedürftiger Amerikanischer Ureinwohner hat imo nicht mehr Anspruch auf Hilfe, weil einem seiner Vorfahren vor langer Zeit die Büffel weggeschossen wurden, klar könnte sein Leben anders aussehen, wenn das nicht passiert wäre, aber was kann selbst ein Präsident für George Bush für das, was vor seiner Zeit passiert ist?

Mein Opa war zum Beispiel in russischer Kriegsgefangenschaft (nachdem er, ich glaube 44, als Jugendlicher zwangseingezogen wurde). Sprenge ich irgendwelche Russen in die Luft, weil sie mir keine Entschädigung zahlen für das, was ihre Großeltern meinen angetan haben? Was wiederum auf das zurückzuführen war, was die deutschen den Russen angetan haben? Was man wiederum auf etwas zurückführen könnte? Warum sollte man das nicht einfach lassen und die Probleme angehen, die jetzt da sind, ohne sich noch für das schuldig zu fühlen, was Menschen gemacht haben, mit denen man zufällig ein paar Gene mehr oder nur ein gemeinsames Heimatland teilt?

@Jan: Und inwiefern bringt es die verzweifelten Westafrikaner weiter, Spanier in die Luft zu sprengen? Je weniger Spanier in Spanien, desto mehr Platz für Westafrikaner, oder was? Und jemand, der Fähigkeit und Muße hat, sich Sprengstoff zu besorgen, kann so verhungert nicht sein... Ich verstehe, wenn jemand andere schädigt, um sein unmittelbares Leben zu retten, aber diese Situation lag hier nicht vor.

janw
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Sa 3. Nov 2007, 19:01 - Beitrag #16

e-noon, wie gesagt, ich befürworte das ganz und gar nicht, aber ich weiß auch nicht, ob ich es verdammen könnte...wenn die westafrikanischen Staaten die Trawler (=Fischereifabrikschiffe), die illegal ihre Gewässer räubern, auf den Meeresgrund schicken würden.
Ich weiß, daß das extrem kurzsichtig wäre, denn bald würden die Trawler von Zerstörern begleitet...

Die Sache ist letztlich ein gutes Beispiel, um das seit al Quaida im Westen ausgebrochene Lamento über die "asymmetrische Kriegsführung" zu hinterfragen.
"Symmetrisch" nach Unserer Doktrin war immer, daß Wir die Herrscher und Sie die Beherrschten waren, und daß Wir die "erlaubten" Mittel definiert haben, Unsere Machtansprüchen durchzusetzen, die wir dann gnädigerweise Ihnen teilweise gegeben haben, Ihre Zwistigkeiten untereinander auszutragen - die Wir teilweise kräftig geschürt haben, divide et impera.
"Symmetrisch" war nach Unserer Doktrin, daß Ihnen auch Uns gegenüber nur diese Mittel "erlaubt" waren, pardon, gewesen wären, wenn sie sich dummerweise gegen Uns gewandt hätten.
"Symmetrisch" nach Unserer Doktrin war immer, daß Wir nach Belieben andere als die von Uns "erlaubten" Mittel eingesetzt haben, Unsere Machtansprüche durchzusetzen.

Nun setzen Sie andere als die von Uns "erlaubten Mittel ein, und Wir lamentieren über "Asymmetrie"...

Eigentlich, so scheint mir gerade, gibt es nur ein Problem, daß nämlich Al Quaida das nicht durchschaut. Das stärkste Mittel gegen Guantanamo wäre, daß Al Quaida seine Geiseln nach den Regeln der arabischen Gastfreundschaft behandelte, nur als Gäste auf unbestimmte Zeit.

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Ein anderes Problem ist, daß gerade die spanische Gesellschaft extrem "empfindlich" ist gegenüber allem Arabischen, gleich allem von südlich Gibraltars. Die Reconquista lebt im Bewusstsein fort, und damit die Sicht, nach der die Araber Ungläubige sind, gleichzusetzen mit "Weniger-Menschen", unbeachtlich ihres kulturellen Erbes, das heute als "spanisch" verkauft wird.

e-noon
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Sa 3. Nov 2007, 22:56 - Beitrag #17

Kannst du mal aufhören, mich zu vereinnahmen? Ich habe niemanden in den Krieg gezwungen, also sprich bitte nicht von "wir". Mir geht's gut, ich will nichts wesentlich ändern, aber solange ich mich nicht aktiv an einem Krieg beteilige (oder an Raubfischerei etc.) fühle ich mich dafür nicht verantwortlich, und Punkt.

Lykurg
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So 4. Nov 2007, 12:02 - Beitrag #18

janw, der Terminus "asymmetrische Kriegsführung" bezeichnet ganz einfach den Sachverhalt, daß ein Staat einem Nicht-Staat in einer kriegerischen Auseinandersetzung gegenübersteht, eben etwa in einem Guerillakrieg oder im Fall terroristischer Anschläge gegen eine Staatsmacht. Es geht dabei nicht um die Ungleichartigkeit der Kräfte, sondern der eingesetzten Mittel. Ein symmetrischer Krieg ist dagegen der Konflikt zweier oder mehrerer Staaten, egal wie stark sie sind. Es findet insofern kein "Lamento" über Asymmetrie statt, sie wird einfach konstatiert.
Zitat von janw:daß Geschichte fortwirkt, ihre realen und bewusstseinsmäßigen Folgen Handlungsimpulse für Menschen darstellen, die daraufhin Dinge tun, die möglicherweise von Gerichten zu beurteilen sind. Diese aber haben nach der gängigen Konzeption immer nur diese Taten zu beurteilen, öfters unter Würdigung direkter Einflussgrößen auf den Täter, aber nie Geschichte einzubeziehen, um gar nicht erst von aufarbeiten zu reden. Ebensowenig übergreifende aktuelle politische Gegebenheiten.
Soweit kulturelle oder geistige Befindlichkeiten des angeklagten Individuums nachweislich Einflüsse auf die Tat hatten, werden diese im Normalfall vor Gericht in irgendeiner Weise berücksichtigt werden. Alles darüber hinausgehende, was in Richtung "Geschichte aufarbeiten" geht, kann nicht Aufgabe eines normalen Gerichts sein, janw! Ebensowenig die Tagespolitik, wenn sie nicht direkt gesetzwidrig und direkt für den verhandelten Fall relevant ist. Wenn jeder kleine Fall direkt und ausschließlich auf das große Ganze bezogen erklärbar sein soll, hebelst du damit unser Rechtssystem völlig aus. Dann kann sich jeder als ausschließliches Opfer der Umstände bezeichnen, sowieso des Westens, aber auch, e-noon sprach es treffend an, des Sündenfalls. Und es geht hier noch nicht einmal nur um vergangene Schuld]unserer[/i] Verantwortung; hier gibt es allenfalls mildernde Umstände, aber sicherlich allein deswegen keinen Freispruch.
Kein Geschehen der Vergangenheit oder Zukunft kann jemals das gezielte Placieren einer Bombe in einem vollbesetzten Nahverkehrszug rechtfertigen.

Deine Einwände zu Spaniens "Missetaten" sind einfach nur schlimm. Ich glaube nicht, daß etwa der Trawlerkonflikt die geringste Rolle in diesem Zusammenhang gespielt hat. Abgesehen davon - du als Pazifist und Linker! - was käme denn dabei heraus, wenn die Fischkutter torpediert würden? Wessen Lebensgrundlage würde vernichtet? Wer käme dabei ums Leben? Etwa die Verantwortlichen? Und selbst wenn, wäre das eine Lösung?
Heinrich, mir graut's vor dir...

***

Ipsissimus, e-noon sprach nicht davon, die wechselseitigen Verbrechen und ihr Gedenken aus dem gesellschaftlichen Gesamtdiskurs auszublenden, sondern Rache nicht zu legitimieren. In einer so komplexen Welt wie der, über die wir hier diskutieren, wenn wir wirklich, wie du es zu fordern scheinst, jegliche Schuld noch lebender Verantwortlicher, also die gesamte Weltgeschichte seit ca. den 1930ern, Teil der Erklärung sein kann und somit muß, liegt ein so irrationales Element wie individuelle Rache für ein soziales Phänomen völlig außerhalb des Vertretbaren. Je nach Berücksichtigung und Gewichtung der kausalen Einzelereignisse kann man mit dem Verfahren auf Dutzende verschiedener "Schuldzuweisungen" kommen, ohne daß eine schlüssig Vorrang vor irgendeiner anderen haben muß. Jeder könnte sich also gleichermaßen begründet an jedem "rächen". Das ist jedenfalls kein Weg zur Konfliktreduzierung.

Ipsissimus
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So 4. Nov 2007, 18:06 - Beitrag #19

Ich habe niemanden in den Krieg gezwungen, also sprich bitte nicht von "wir". Mir geht's gut, ich will nichts wesentlich ändern,


e-noon, du weigerst dich also nicht, an den Privilegien zu partizipieren, die durch das ungerechte Tun früherer Deutscher und Europäer zugunsten der Deutschen und Europäer den Verlierern gewaltsam abgezwungen wurden und mittels eines ungerechten Weltwirtschaftssystems bis in die Gegenwart auch werden. Von daher ist das "wir" durchaus nicht vereinnahmend, sondern rein deskriptiv.


e-noon, Lykurg, nachdem ich also nun eure Söhne und Töchter in die Sklaverei gesteckt habe - natürlich nur die, welche die vorhergehende unmenschliche Behandlung überlebt haben - nachdem ich eure Gärten und Felder ausgeraubt habe auf dass ihr Hunger leidet und ich mit den Meinen dem Wohlstand fröne, nachdem ich mir die in euren Böden liegenden Bodenschätze erst gewaltsam und später mit Knebelverträgen angeeignet habe, nachdem es mit gelungen war, euch dahingehend auszutricksen, das 95 Prozent eures Einkommens sofort auf meine Konten überwiesen wird und in der von mir kontrollierten Presse meine Großmut besungen wird, weil es nicht 100 Prozent sind, so dass euch noch ein bisschen Geld bleibt, eure Lebensmittel völlig überteuert von mir kaufen zu dürfen - nachdem alles also BESTENS eingerichtet ist, sage ich euch: haltet Maß, verzichtet auf Rache, seid still, lebt behaglich und friedlich und vor allem eines: KOMMT MIR NICHT IN DIE QUERE.

e-noon
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So 4. Nov 2007, 18:17 - Beitrag #20

Für mich besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen "ich tue jemandem etwas an" und "ich profitiere über 1000 Ecken davon, dass es jemand anderem schlecht geht". Vielleicht bekomme ich ein größeres Zimmer, wenn mein Bruder für längere Zeit ins Krankenhaus muss; bringt es ihm irgendwas, wenn ich das Zimmer ausschlage, was meine Eltern mir zu übergeben belieben, weil er es momentan weniger braucht als ich? Bin ich jetzt schuld daran, dass er im Krankenhaus liegt? Bringt es irgendwem irgendwas, wenn ich mich schlecht fühle, weil ich sein Zimmer habe? Was bringt es den Afrikanern, wenn ich mich neben sie stelle und mitverhungere? Vielleicht könnten ja auch die Verlierer der Weltwirtschaftsordnung sich fragen, was sie selbst tun können (da gibt es einige Möglichkeiten, ein Anfang wäre, das wenige nicht durch massive Fortpflanzung noch zu verringern)...
Ich bin der Meinung, dass man für seine eigenen Handlungen die Verantwortung übernehmen sollte, nicht für die anderer. Wenn also ein Afrikaner Kinder bekommt, die er nicht ernähren kann, warum sollte ich mich daran schuldiger fühlen als er, nur weil Vorfahren mit ähnlicher Hautfarbe wie ich seine Vorfahren ausgebeutet haben und ich die Fische esse, die jemand in seinem Gebiet fischt?

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