Vertrag von Lissabon

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
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Di 10. Jun 2008, 14:51 - Beitrag #1

Vertrag von Lissabon

Hallo,

schonmal jemand was davon gehört? Sollte das Bundesverfassungsgerecht dem ganzen stattgeben, dann dürfte das das wichtigste historische Ereignis seit dem Mauerfall sein, leider weiß kaum jemand was da gerade vor sich geht.


http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/846/176315/

Eigentlich. Peter Gauweiler, CSU-Abgeordneter im Bundestag, einst der politische Ziehsohn von Franz Josef Strauß, ist nämlich eigentlich ein Nichts neben dem Heer von EU-Beamten, die diesen Vertrag ausgearbeitet, neben der Phalanx von Regierungschefs, die diesen Vertrag besiegelt hat und neben den geballten Interessen, die hinter diesem Vertrag stehen. Aber dieser streitbare politische Außenseiter Peter Gauweiler ruft eine Instanz zu Hilfe, die ein letztes, ein allerletztes Mal die Kompetenz hat, in die europäischen Dinge einzugreifen - das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Der Vertrag von Lissabon, der Vertrag also, gegen den Gauweiler klagt, nimmt nämlich dem Gericht diese Kompetenz. Die Klage, die seit Freitagmittag in Karlsruhe liegt, ist für dieses Gericht also die letzte Chance, seine eigene Entmachtung zu verhindern. Vorderhand wird das höchste Gericht darüber entscheiden müssen, ob sich die Bundesrepublik, ohne das Volk zu fragen, in einem europäischen Bundesstaat auflösen darf wie ein Stück Zucker im Kaffee.

Das, so behauptet Gauweiler, sei nämlich die Folge des Lissabonner Vertrages. Gleichzeitig wird das Gericht jedoch quasi auch in eigener Sache entscheiden - darüber nämlich, ob die Herrlichkeit des Karlsruher Gerichts samt dem finalen Grundrechtsschutz, der ihm bisher anvertraut ist, weitgehend nach Luxemburg übergeht, zum Europäischen Gerichtshof. Das ist der Grund, warum die Klage Gauweilers Sprengkraft hat.


...


Es handelt sich um schwergewichtige juristische Argumentation. Schachtschneiders Gedankengang kennt man partiell schon aus seiner Klageschrift gegen die EU-Verfassung: Er beklagt die Entstaatlichung Deutschlands, die Reduzierung des Grundrechtsschutzes und eklatante Demokratiedefizite. Murswiek stützt das alles mit furiosen Ausführungen, die das Klagerecht Gauweilers unter anderem auf Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes stützen.

In diesem Artikel ist das sogenannte Widerstandsrecht formuliert: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist". Dieses Recht "auf andere Abhilfe" fordert der Wissenschaftler beim höchsten deutschen Gericht ein.

Murswiek beruft sich dabei nicht auf das Widerstandsrecht als solches, sondern auf das diesem "vorgelagerte Recht auf Unterlassung von Handlungen, die eine Widerstandslage herbeiführen". Der Beschwerdeführer Gauweiler habe ein Recht auf "Verteidigung der objektiven Verfassungsordnung mittels Verfassungsbeschwerde".


Da man sich darunter noch nicht soviel vorstellen kann, werde ich einen Teil der Zusammenfassung des Rechtsgutachtens von Murswiek hier abtippen, das Gauweiler angefordert hat. Das gibt einen recht guten EIndruck davon, was der Vertrag von Lissabon eigentlich bewirkt.

http://www.peter-gauweiler.de/pdf/Vertr%20Lissabon%20Gutachten%20Zusammenfassung.pdf


17. Für die Rechtssetzung hat die EU jetzt flächendeckende, praktisch alle Bereiche der Politik abdeckende Kompetenzen. Soweit diese Grenzen aufgrund restriktiv formulierter Kompetenztitel im einzelnen nicht ausreichen, um Ziele der Union zu verwirklichen, kann die Union selbst ihre Kompetenzen mit Hilfe der Flexibilitätsklausel erweitern. Im Hinblick auf ihre nicht mehr auf die WIrtschaft beschränkten, sondern sich über vielfältige Politikbereiche erstreckenden Tätigkeitsfelder und im Hinblick auf ihre unbeschränkbar weit formulierten Ziele, besitzt die EU mit der jetzt sozusagen universell anwendbaren Flexibilitätsklausel eine Umfassende Kompetenz-Kompetenz. Auf diese Weise kann sie den mitgliedsstaatlichen Gesetzgeber praktisch überall dort verdrängen, wo er im Augenblick noch etwas zu sagen hat.

19. Das Recht der Union besitzt uneingeschränkten Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten, auch vor deren Verfassungsrecht...

23. Die EU hat sich mit dem Vertrag von Lissabon zu einer quasistaatlichen Organisation entwickelt, der alle Merkmale zukommen, die völkerrechtlich oder staatstheoretisch einen Staat auszeichnen - abgesehen davon, dass die Mitgliedsstaaten sie nicht als Stast verstehen wollen und sie sich selbst nicht als Staat versteht...

26. Dises Verlagerung von Rechtssetzungkompetenzen nach Brüssel verschafft zugleich der Bundesregierung gegenüber dem Parlament eine übermächtige Stellung. Der Bundetag ist weithin nur noch für den Vollzug von höherrangigem europäischem Recht zuständig, welches die Bundesregierung im Rat der europäischen Union mit erlassen hat. So kann die Regierung - im Verbund mit andere europäischen Regierungen - dem BUndestag Vorschriften machen, die dieser gehorsam erfüllen muss. Dies ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.

29. Die EU leidet unter einem strukturellen Demokratiedefizit. Dies wird durch den Vertrag von Lissabon nicht verringert, sondern tendenziell verstärkt.

33. Das Demokratiedefizit der EU lässt sich nicht dadurch beseitigen, dass man dem europäischen Parlament größere Kompetenzen gibt, solange das europäische Parlament selbst nicht demokratisch legitimiert ist. Dies ist solange nicht der Fall, wie es nicht auf der Basis demokratischer Gleichheit gewählt wird.

Schlussbemerkung

45. Der Prozess der europäischen INtegration hat die Grenze erreicht, die ihr unter dem Aspekt der souveränen Staatlichkeit sowie unter dem Aspekt des Demokratieprinzips vom Grundgesetz gesetzt wird. Das hießt nicht, dass die weitere Verdichtung der europäischen Integration für immer ausgeschlossen ist. Die vom Grundgesetz gesetzte Grenze darf aber nur überschritten werden, wenn zuvor das Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt mit einer verfassunggebenden Entscheidung den Weg dazu frei macht.




Auch folgendes beinhaltet der Vertrag von Lissabon!
http://www.ngo-online.de/ganze_nachricht.php?Nr=17850

Gauweiler: Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung gehören nach dem neuen Vertrag zu den Aufgaben der EU

Der EU-Vertrag von Maastricht habe die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Zusammenarbeit in den Bereichen Innere Sicherheit und Justizpolitik noch als "zweite und dritte Säule" zwar unter das Dach der Europäischen Union gestellt, aber nicht "vergemeinschaftet", so Gauweiler in seiner Erklärung gegenüber dem Deutschen Bundestag. Diese Politikbereiche seien mit dem EU-Vertrag von 1992 noch auf der Ebene der "intergouvernementalen" Kooperation belassen wurden.

Der neue Grundlagenvertrag von Lissabon erhebe hingegen die Europäische Union zur Rechtspersönlichkeit auf der Ebene des Völkerrechts und vergemeinschafte die bisherige "dritte Säule". "Die Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der Verteidigungspolitik und der Durchführung militärischer Missionen, insbesondere 'Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung' und militärische Terrorismusbekämpfung in Drittstaaten, gehören nach dem neuen Vertrag ebenso zu den Aufgaben der Europäischen Union wie Terrorismusbekämpfung im Innern, Asyl- und Einwanderungspolitik, Angleichung von Rechtsvorschriften im Zivilrecht und Erlass von 'Mindestvorschriften' im Strafrecht oder Strafverfolgung durch Staatsanwaltschaft und Polizei", kritisiert Gauweiler. Durch diese "vorbehaltslose Konzentration von Macht" werde der europäische Staatenbund in einen kontinentalen Zentralstaat verwandelt.


Und das auch!
Leider sind die Quellen schwer zu finden bzw. nicht immer das oberste Maß an Objektivität, einfach deshalb weil die etablierten Medien darüber kaum berichten. Was das angeht ist das Anliegen der Politiker aufgegangen, möglichst keine öffentliche Debatte anzustoßen.
http://politblog.net/nachrichten/2007/12/13/1898-der-verrat-am-volk-wird-paraphiert/

Der Schießbefehl gegen Aufständische, die Wiedereinführung der Todesstrafe im Kriegsfall (Deutschland ist de facto im Krieg) - diese Wahrheiten aus dem Vertag sind nicht in den Festreden enthalten. Die Legitimation zum endgültigen Abbau jeglicher Sozialstaatlichkeit - auch im Vertrag festgeschrieben - wird leider nie in den brav berichtenden Medien erwähnt.



Und zuletzt noch einen Auszug aus einem Text von Pro. Schachtschneider, der auch die Verfassungsklage führt. Der Text ist in Gänze lesenswert, allerdings kann ich hier schlecht alles abtippen.

Der Unionsstaat verfügt spätestens mit dem Vertrag von Lissabon auch über weitreichende bundesstaatstypische Kompetenz-Kompetenzen. Er kann nicht nur seine Befugnisse im Interesse der Zielverwirklichung ohne Mitwirkung der nationalen Parlamente erweitern und wird nicht nur ermächtigt, Unionssteuern zu erheben, sondern maßt sich im "vereinfachten Änderungsverfahren" des Art. Abs. 6 EUV die Ermächtigung an, so gut wie das gesamte Vertragswerk ganz oder zum Teil (außer der Außen- und Sicherheitspolitik) durch Beschluss der europäischen Rates zu ändern. Dem müssen die nationalen Parlamente nur zustimmen, wenn das in ihren Verfassungsgesetzen steht. In Deutschland ist das nicht der Fall. Bundestag und Bundesrat können nur Stellungnahmen abgeben, die berücksichtigt werden sollen, aber nicht beachtet zu werden pflegen. Die Ermächtigung zum vereinfachten Änderungsverfahren ist nichts anderes als eine Diktaturverfassung.

Die Verfassung der EU muss neu geschrieben werden - aber ganz anders, nämlich so, dass wir in einem europäischen Europa leben können, in einem Europa der Freiheit und des Rechtes, der Demokratien und der Sozialstaaten, in Republiken, nicht in einer Diktatur der Industrien, Banken und ihrer Bürokratien.




Kleine Schlussbemerkung von mir:
Ich bin wütend und enttäuscht. Und warum? Das Souverän in diesem Land, der Bürger, wählt ein Parlament das ihn und seine Interessen vertreten soll, so zumindest war es mal gedacht. Und ganz unbemerkt aller Öffentlichkeit hatte der Bundestag und der Bundesrat nichts besseres zu tun, als für seine eigene Entmachtung zu stimmen und den Weg für einen europäischen Zentralstaat zu ebnen. Dieser Schleichweg wurde bewusst gewählt, denn nach dem Scheitern der EU-Verfassung 2005 war klar, dass eine Mehrheit der Bevölkerung gegen eine solche Omnipotenz der EU ist. Das ist Verarschung des Bürgers, wenn man bewusst gegen dessen Interessen klammheimlich stimmt. Soviel wurde selten gelogen und getäuscht und ich weiß nicht, wie man sowas in Zukunft verhindern sollte. Denn sie werden es wieder und wieder versuchen und irgendwann könnte es funktionnieren.
Als großer Vorteil der EU wird immer wieder angeführt, dass sie einen Krieg innerhalb Europas verhindert, aber genau dieses Ziel sehe ich durch solche Bemühungen in Gefahr. Nehmen wir an, der Vertrag von Lissabon würde durch alle Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. Irgendwann wird die Mehrheit der Bürger es merken und eine Politik fodern, die die Rechte der EU wieder auf die Mitgliedsländer übertragen soll und dies wird nur noch durch einen Austritt aus der EU möglich sein. Und das wäre die größte Krise in Europa seit langem, die vielleicht in einen Krieg führen wird? Ich mags mir nicht ausmalen.


mfg

Ipsissimus
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Di 10. Jun 2008, 15:42 - Beitrag #2

zwar wünschte ich mir, nicht der Gauweiler hätte diese Klage ausgesprochen, aber zugeben muss ich doch, dass ich der Klage von Herzen Gelingen wünsche. Ich stehe der europäischen Vereinheitlichung in einem USA-artigen Bundesstaatenverband schon lange skeptisch bis ablehnend gegenüber, da ich bisher keinerlei Vorteile dieser Vereinigung für den demokratischen Status der Noch-Nationalstaaten wahrnehme. Alle bisher wahrnehmbaren Vorteile des "Zusammenwachsens" der EU-Staaten liegen auf Seiten der Großkonzerne, und alle wurden mit der Schwächung der lokalen Märkte und damit der Bürger der Nationalstaaten erkauft. Alles in allem halte ich den Vertrag von Lissabon für eine politische Schweinerei ersten Grades, der dringend Einhalt geboten werden muss.

janw
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Di 10. Jun 2008, 19:16 - Beitrag #3

Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, daß ausgerechnet Gauweiler antritt, die Freiheit zu verteidigen, der in seiner Zeit als bayerischer Innenminister das Zusammenschlagen von Männern, Frauen und Kindern durch seine Polizisten als "bayerische Art des Zulangens" gerechtfertigt hat.

Ich denke auch, daß der Vertrag von Lissabon in seiner jetzigen Form alles andere ist als eine "Verfassung der Europäer", als die er vom Ansatz her gedacht war und angepriesen wird, er ist ganz eindeutig ein Interessenvertretungsmanifest der führenden europäischen Industrielobbies.

Was den europäischen Einigungsprozess an sich betrifft, teile ich Ipsis Skepsis, wobei allerdings zu erwähnen ist, daß die EU z.B. im Umweltbereich sehr viel erreicht hat, auch gegen Widerstände in den Mitgliedsstaaten, wenn ich nur mal an Natura 2000 denke. Ein europäisches Schutzgebietssystem für alle repräsentativen Lebensräume und zahlreiche einzelne Arten hätte es im ausschließlichern klein-klein der Einzelstaaten und der dortigen Kirchturmspolitik nie gegeben.
Ebenso die Einführung europaweiter Mindeststandards für die Abfallentsorgung - man kann darüber streiten, ob die Inertisierung wirklich nötig ist oder nicht nur eine riesiges Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Müllverbrenner, aber damit sind endlich die wilden Verkippungen in Täler und Gruben beendet, die noch bis vor kurzem in vielen Ländern Standard waren.
Oder Unfallverhütungsstandards, die Chemikalienrichtlinie REACH, die Wasserrahmenrichtlinie,... - im Detail kann man über die Ausführung streiten, aber daß in diesen Bereichen Handlungsbedarf gegeben war, denke ich doch.
Im Bildungsbereich brauchen wir, denke ich, eine gegenseitige Anerkennung von Ausbildungsleistungen. Ob Bologna der richtige Weg ist, ich weiß es nicht, aber wäre nicht loszugehen besser?

Gut, jetzt kommt eine europäische Außen- und Innenpolitik hinzu, Kernbereiche staatlichen Handelns - nur, die hat es bereits gegeben, in Form der entsprechenden Direktiven des Landes, das gerade die Ratspräsidentschaft inne hatte - mithin ein ständiger Wechsel alle halbe Jahre.
Allerdings ist gerade dieser Bereich jener, in dem auf zentrale Bereiche der individuellen Lebensgestaltung unmittelbar Macht ausgeübt wird. Vielleicht ein Grund, gerade diesen Bereich kategorisch von jeder Zentralisierung auszunehmen.

Möge Gauweiler obsiegen, venceremos!

henryN
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Mi 11. Jun 2008, 00:04 - Beitrag #4

interessante Konfliktlage, ohne werten zu müssen.......

jedoch, wo Polemik und Angst wirken, mache ich mir eher Sorgen über dessen Urheber und seine Gründe.......

Wer hat eigentlich den Vertrag geschrieben? Wer hat eigentlich nicht mitgewirkt?

Dass er eine notwendige Konsequenz ist, finde ich eigentlich unbestreitbar.
Wird darin die Grenze einer grossen Koalition sichtbar?

Lykurg
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Mi 11. Jun 2008, 00:20 - Beitrag #5

Ich sehe die ganze Sache sehr gemischt. Natürlich sehe ich auch, daß es mit der EU nicht zum Besten steht, daß es sich um ein extrem bürokratisches Gebilde handelt, dessen Teile sich vor allem um den Ausbau der eigenen Privilegien und Machtmittel zu bemühen scheinen. Die europäische Idee dahinter ist nicht immer zu erahnen. Das liegt allerdings zu einem guten Teil auch darin begründet, daß die EU (in historischen Dimensionen gedacht) sehr schnell sehr groß geworden ist und nun plötzlich vor einem Haufen von Problemen steht, die in der unterschiedlichen Interessenlage ihrer Mitglieder begründet liegen (ungünstigenfalls auch noch zu unterscheiden zwischen verschiedenen Volksgruppen von Mitgliedsstaaten und der jeweiligen Regierung... gerade das Land der EU-Hauptstadt ist dafür ein kompliziertes Beispiel). Die Größe führt auch dazu, daß die europäischen Institutionen "sehr weit weg" sind, woraus ein Gefühl der Machtlosigkeit resultiert, aber auch in Desinteresse. Nachrichten über die EU werden von vielen kaum wahrgenommen (diese Diskussion hier ist auch ein Beispiel dafür - wie lange lief die Diskussion über die Planungen einer EU-Verfassung, die dann nach deren Scheitern zum Vertrag von Lissabon führte? Ich kann mich nur wundern, wenn hier plötzlich von Heimlichtuerei gesprochen wird). Zugleich gehen viele Länder sehr unterschiedlich mit der EU um. Deutschland etwa sieht europäische Posten als hervorragende Möglichkeit, allzu unbeliebte, völlig unfähige oder gerade durch Skandale unbrauchbar gewordene Politiker vorübergehend oder dauerhaft auf ein vermeintliches Abstellgleis zu schieben. Viele Iren dagegen bekennen offen, daß sie mit diesem bevorstehenden Referendum ihrer nationalen politischen Kaste einen Denkzettel ausstellen wollen für Dinge, die dort schieflaufen. Mit Europa hat das wenig zu tun, eigentlich ist es eine Provinzposse, die jetzt für mehrere hundert Millionen Menschen große Bedeutung bekommt.

Denn selbst wenn die EU "nur" "der Wirtschaft" (!) nutzen würde und "nur" sie sich darum bemühte, wäre das noch kein rationaler Grund, das Unterfangen abzulehnen. Tatsächlich leistet sie aber viel mehr, darunter auch vieles, was "der Wirtschaft", "den Heuschrecken" oder "dem Internationalen Großkapital" oder was für eine Ausdrucksweise gewünscht sein mag, recht bitter schmecken wird. janw hat einiges davon angesprochen; gerade im Bereich der Umweltpolitik nimmt die EU eine weltweite Vorreiterrolle ein. Könnten die derzeitigen Emissionsziele international in diesem Maße vorangetrieben werden, wenn die europäischen Staaten sich nicht im Voraus darüber verständigt hätten? Wer setzt sich mit so gewichtiger Stimme für Menschenrechte, Artenschutz, Entwicklungshilfe uvm. ein wie die EU? Ihre wirtschaftlichen Aktivitäten (die Zollunion, die gemeinsame Währung, der gemeinsame Arbeitsmarkt, Wohnungsfreiheit, Ausbau und Harmonisierung des Transportwesens, Förderung strukturschwacher Regionen uvm.) kommen massiv den Bürgern zugute.

Hier (und andernorts, auch durch Gauweiler) wurden europäische Institutionen als strukturell undemokratisch und nicht legitimiert kritisiert. Beides bedingt einander. Die Schwierigkeiten liegen wesentlich darin begründet, daß ein großer Teil der Tätigkeitsbereiche der EU nur nach langem Ringen der Mitgliedsstaaten um Bestimmungsbereichchen, nationale Sonderwünsche und Ausnahmen, Postengeschacher und Rücksichtnahme auf gerade anstehende Kommunalwahlen in irgendeiner Provinz irgendeines einflußreicheren Mitgliedslands als ein einziges großes Geflecht aus Kompromissen zustandekommen konnte. Unter diesen Bedingungen gab es nichts, worüber man hätte wählen können. Der letzte unvollkommene Flickenteppich, der Verfassungsvertrag, wurde von den Bürgern Frankreichs und später auch der Niederlande abgelehnt. Dabei hätte gerade dieser Vertrag eine Basis für mehr Demokratie geboten. Durch sein Scheitern blieb uns das Dickicht an Vorgängerverträgen erhalten. Civis le volt...

Meines Erachtens hätte man das Scheitern als Ausgangspunkt für einen Neuanfang nehmen sollen, ein übersichtliches Dokument von so wenig Seiten wie möglich, das man auswendig lernen kann, das Begeisterung weckt und die Werte enthält, die Europa ausmachen und unter deren Banner man sich zusammenfinden kann. Ein solcher Weg erschien aber offenbar den Verantwortlichen nicht gangbar. Schade...

henryN
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Mi 11. Jun 2008, 02:04 - Beitrag #6

...volle Zustimmung......

Wurde der Verfassungsvertrag eigentlich von den 'Bürgern' Frankreichs abgelehnt? (Ich meine als freie Entscheidung und so.... ;) ) oder von einem 'Meinungsbildungsprozess'?

(Meinungsbildung und Prognostizierungsproblematik.....)

janw
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Sa 14. Jun 2008, 11:13 - Beitrag #7

Nun haben die Iren den Vertrag abgelehnt, und Verwirrung bis Bestürzung sind groß. Die Vorschläge für das weitere Vorgehen reichen von einer zeitweisen Ausgliederung Irlands aus dem weiteren Vereinigungsprozess, der dann im Rest, in dem die Regierungen das von ihnen selbst zu ihrer Gefälligkeit ausgehandelte nach Plan weitergehen solle, bis zur Ergründung der Ablehnungsgründe und ihrer Behandlung.
Für mich bestürzend, daß keiner auf den Gedanken kommt, daß die Ablehnungsgründe nicht auch für viele andere Bürger in Europa gelten könnten, und nichts mit Problemen mit der jeweils eigenen Regierung zu tun haben - das Argument der Abstrafung der irischen Regierung halte ich für eine Nebelkerze - die aber ihrer Skepsis nicht Ausdruck geben dürfen, weil ihre Regierungen meinen, befugt zu sein, mit zwei Händen zu unterschreiben und ernst gemeinte Bedenken unter den Tisch zu kehren.

Aber gut, welche Gründe sprechen denn dafür, Innenpolitik und Außenpolitik nach Brüssel zu delegieren?
Was spräche eigentlich dagegen, nur die Regelungen für mehr Demokratie und Transparenz - Stärkung des Europäischen Parlamentes, Verkleinerung der Kommission, usw. erstmal vorzusehen und europaweit zur Abstimmung zu stellen? Die Verlagerung der Kompetenzen der Einzelstaaten kann dann irgendwann kommen, wenn dann immer noch sinnvoll, oder auch nicht.

Im übrigen wäre ich unbedingt dafür, eine Regelung von usa zu übernehmen: Wer auf europäischem Boden geboren wird, der sollte in meinen Augen einen europäischen Pass bekommen, bzw. den des Landes, in dem er geboren wurde.

Maglor
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Sa 14. Jun 2008, 14:05 - Beitrag #8

Ich sehe es ähnlich wie Lykurg. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist aus zahlreichen Einzelverträgen jenes Ding namens EU geworden. Die Entscheidungsprozesse dort sind äußerst verwirrend. Die EU steht vor einem großen Dilemma. Nach etlichen Jahrzehnten heiterer Integration, möchte man nun so etwas wie eine europäische Idee festlegen. Besser spät als nie. ;)
Allerdings scheint eine grundsätzlichen Ablehnung der EU in weiten Teilen Westeuropas leider vorzuherrschen, welche eine solche Vereinfachung verhindert.
So bleibt es eben bei jener undurchschaubaren Schimäre. Das dumme ist nur, dass die Politik daraus keine Konsequenzen zieht. Die Ablehnung der EU-Verfassung-Vertrags durch die französische und niederländische Bevölkerung hätte ja eigentlich den Austritt beider Staaten aus der EU bedeuten müssen. Norwegen ist einen ähnlichen Weg gegangen; eine Volksabstimmung sprach sich gegen einen EU-Beitritt, nun gehört Norwegen zum Schengen-Raum ohne jedoch an irgendwelchen Entscheidungen beteiligt zu sein.
MfG Maglor :rolleyes:

Lykurg
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Sa 14. Jun 2008, 16:45 - Beitrag #9

Mit einem Austritt Frankreichs wäre die EU ziemlich witzlos. (Nicht, weil die französiche Fußballmannschaft einer wäre, es geht mir eher um esprit.) Norwegen war eher verzichtbar; für die Norweger war die Entscheidung gegen Maastricht recht vernünftig; so profitieren sie in erheblichem Maße von EU-Politik und Regelungen (Schengen z.B.), ohne ihre Ölreichtümer nach Portugal, Griechenland und Irland (seit den 70ern; wohl kaum ein Land hat so geschickt und vernünftig EU-Gelder eingesetzt, das muß man ihnen lassen) abgeben zu müssen. - Allerdings ist klar, daß es längerfristig ohne eine Verfassung oder ähnliches Gebilde nicht geht; mit dem Einstimmigkeitsprinzip ist eine EU der 27 auf Dauer unregierbar. Ich weiß auch nicht, was Gauweiler sich da eigentlich einbildet; wenn er uneingeschränkte nationale Souveränität will, dann soll er gefälligst auch so ehrlich sein, den Austritt zu fordern.

Zitat von janw:Aber gut, welche Gründe sprechen denn dafür, Innenpolitik und Außenpolitik nach Brüssel zu delegieren?
Innenpolitik: Weil in einem zusammenwachsenden Europa Gleichbehandlung etwa in sozialen Fragen, in Steuer- und Abgaben, im Strafrecht, Verkehrs- und Infrastrukturpolitik und vielem mehr sinnvoll ist, damit sich die Maßnahmen der Länder nicht gegenseitig torpedieren, damit der Wohnortwechsel zwischen den Ländern problemlos möglich ist; damit gemeinsam getroffene supranationale Regelungen mit den nationalen Ausführungsbestimmungen harmonieren usw.
Für Wünsche wie den Europäischen Paß - was ich gern unterstütze, vorausgesetzt, er ist nicht nur ein Blatt Papier, sondern hat auch eine Bedeutung - ist eine gemeinsame Innenpolitik notwendig, die festlegt, was für (Grund-)Rechte und Pflichten mit dieser europäischen Staatsangehörigkeit zusammenhängen.

Außenpolitik: Weil ein Europa, das "mit einer Stimme spricht" und eine Telefonnummer hat^^ sehr viel mehr auf der internationalen Bühne bewirken kann. Menschenrechte, Umweltschutz u.a. hatte ich ja schon angesprochen; aber durch die größere wirtschaftliche und strategische Macht eines geeinten Europas könnten Kriege verhindert werden (sowohl wegen wirksamerer Drohgebärden als auch, weil sich nicht so leicht 'willings' finden lassen ;) ).

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In meinen Augen sollte dem ein Minimalkonsens (Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat, bürgerliche Freiheiten, gemeinsame Werte) vorausgehen, der allen Bürgern verständlich ist und auf ein großes Blatt Papier paßt. Über den läßt man abstimmen (wer nicht will, kann gehen), alles Weitere arbeiten legitimierte parlamentarische Gremien aus, selbstverständlich öffentlich zugänglich.

janw
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Sa 14. Jun 2008, 20:53 - Beitrag #10

Zitat von Lykurg:Mit einem Austritt Frankreichs wäre die EU ziemlich witzlos. (Nicht, weil die französiche Fußballmannschaft einer wäre, es geht mir eher um esprit.) Norwegen war eher verzichtbar]
Im Grunde spiegelt dies das Dilemma wider, vor dem eine EU steht, die sich als "Gruppe von Gleichen" zu einem "Bund der Gleichen" zusammenschließen will: es gibt diese Gleichheit nicht, zumindest überwiegt sie nicht die Unterschiede, denn nur ein Teil der Staaten verkörpert den als Basis Europas postulierten historisch-kulturellen Hintergrund von römischer Besetzung, Christianisierung mit Dauerbezug zu Rom und Gewinn von Freiheitsrechten durch die Auseinandersetzung damit in der Aufklärung. Für die skandinavischen Länder waren andere Entwicklungen prägender, die Länder des ehem. Ostblocks gehörten zwar teils auch zum Schauplatz mitteleuropäischer Geschichte, aber die Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg trennen sie doch ziemlich vom Kern der EU. Irland ist eigentlich Nicht-Europa - keine Römer, keine Aufklärung, koloniale Ausbeutung durch England, Armut und Auswanderung, ein Kommentator im Deutschlandfunk wagte neulich gar die Vision, die Iren könnten sich nach Westen orientieren.

Insofern drängt sich in mir die Frage auf, ob der jetzt angestrebte Zusammenschluss in dieser Intensität nicht zu früh kommt, ob nicht erst eine auch "generationelle" Entwicklung greifen muss, welche die Unterschiede zugunsten größerer Gemeinsamkeiten verringert, zumindest jene, die in der jüngeren Geschichte begründet sind.
Ob nicht bis dahin nur die absoluten Essentialien zu bewältigen wären, die dringend notwendige Demokratisierung der EU. Stärkung des Parlamentes, Verkleinerung der Kommission, Verankerung von Parlamentsdependancen in den Mitgliedsstaaten, verbindliche Bürgerabstimmung in allen EU-Staaten bei Fragen von gemeinschaftlichem Interesse, so auch bei der Abstimmung über die nächsten Verfassungsentwürfe, Regulierung des Einflusses von Lobbyisten auf das Handeln der EU.

aber durch die größere wirtschaftliche und strategische Macht eines geeinten Europas könnten Kriege verhindert werden (sowohl wegen wirksamerer Drohgebärden als auch, weil sich nicht so leicht 'willings' finden lassen ;) ).

Nun, wenn der dann amtierende europäische Präsident ein Aznaroid, der Innenminister ein Schäublianer ist und der Außenminister willig ist, dann hätten wir den Großen Lauschangriff europaweit, und deutsche Soldaten wären in Kampfeinsätzen über all in der Welt - ohne daß ein Verfassungsgericht mehr davor schützen könnte;)
Momentan sehe ich die wirtschaftliche Macht Europas eher als Probleme verschärfend an, wenn ich an Afrika denke, mittlerweile scheint das einigen ja auch zu dämmern - mal sehen, was sie draus machen.

Das Problem ist, daß vieles von dem, was Du an Zielen genannt hast, auch jetzt schon zu schaffen wäre oder bereits geschafft ist, vielleicht dauert es etwas länger, aber dann wäre z.B. der Wohnortwechsel und die Anerkennung von Zeugnissen aller Art auch jetzt schon zu regeln, selbst eine europäische Sozialversicherungsvereinbarung setzt mehr Willen als zentrale Entscheidungsstelle voraus.
Da, wo es auf Zentralität ankommt, wird es in meinen Augen kritisch, da dies Bereiche sind, die in die Freiheitsrechte der Bürger eingreifen, etwa wenn es um die Regulierung von Innerer Sicherheit geht. Da möchte ich gerne die Zuständigkeiten nahe bei behalten, um notfalls leicht demonstrieren zu können.

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Sa 14. Jun 2008, 22:40 - Beitrag #11

nur ein Teil der Staaten verkörpert den als Basis Europas postulierten historisch-kulturellen Hintergrund von römischer Besetzung, Christianisierung mit Dauerbezug zu Rom und Gewinn von Freiheitsrechten durch die Auseinandersetzung damit in der Aufklärung.[...] Irland ist eigentlich Nicht-Europa

Deswegen meine ich ja auch, daß die zugrundeliegende Basis klein genug gefaßt sein sollte, um diejenigen zu erfassen, die nach derzeitigem Stand dazugehören sollen und wollen. Irland ohne Römer, ja - aber von erheblicher Bedeutung für die Christianisierung Großbritanniens und Nordfrankreichs... Die Verbindung besteht schon. Den Einfluß der Römer auf Griechenland kann man auch von verschiedenen Seiten sehen^^, für die Skandinavier und (Nord-)Osteuropäer gelten auch andere Bedingungen. Trotzdem stimmen die in späterer Zeit gewachsenen Werte einigermaßen überein - bzw. sollten darauf überprüft werden.
Daß zu einem wirklichen Zusammenwachsen mehr Zeit benötigt wird, ist klar - niemand wird binnen 5 Jahren einen europäischen Zentralstaat fordern, um die in einem Jahrtausend gewachsenen Staaten abzulösen - aber wir sind in den zweieinhalb Generationen seit Adenauer/de Gaulle doch deutlich weitergekommen. Schritte, die wir heute tun, verstärken die Dynamik des Prozesses und helfen so den nachfolgenden Generationen, ein solches Ziel zu erreichen.
Ob nicht bis dahin nur die absoluten Essentialien zu bewältigen wären, die dringend notwendige Demokratisierung der EU. Stärkung des Parlamentes, Verkleinerung der Kommission, Verankerung von Parlamentsdependancen in den Mitgliedsstaaten, verbindliche Bürgerabstimmung in allen EU-Staaten bei Fragen von gemeinschaftlichem Interesse, so auch bei der Abstimmung über die nächsten Verfassungsentwürfe, Regulierung des Einflusses von Lobbyisten auf das Handeln der EU.
Ja. Wobei ich im Einzelfall nicht entscheiden kann, was davon wie wichtig ist und welche Gründe vorhanden sind, es nicht zu tun (z.B. bin ich für eine teilweise Machtreduzierung des Parlaments, was sein eigenes Budget angeht^^). Lobbyisten nehmen jederzeit erheblichen Einfluß - in jeder Richtung; und mit demokratischen Mitteln läßt sich das schwer verhindern, nur offenlegen. Du weißt doch, daß in Irland neben diesem Declan Ganley auch John Bolton intensiv gegen den Vertrag von Lissabon geworben hat, mit Vorträgen durch das ganze Land getourt ist, um vor Europa zu warnen? Nachtigall, ...
Nun, wenn der dann amtierende europäische Präsident ein Aznaroid, der Innenminister ein Schäublianer ist [...]
Wenn das Volk diese Leute wählt; bzw. ein Parlament wählt, das diese Regierung trägt... Sinnvollerweise sollte ein entsprechend zusammenwachsendes Gebilde sich von den besten Entwicklungen der jeweiligen Länder etwas herauspicken. Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im deutschen System findet internationale Anerkennung, ich kann mir gut vorstellen, daß etwas derartiges übernommen würde. Entsprechend könnte man etwa aus Finnland das Bildungssystem importieren oder aus England die Krankenversorgung.^^
Das Problem ist, daß vieles von dem, was Du an Zielen genannt hast, auch jetzt schon zu schaffen wäre oder bereits geschafft ist, vielleicht dauert es etwas länger, aber dann wäre z.B. der Wohnortwechsel und die Anerkennung von Zeugnissen aller Art auch jetzt schon zu regeln, selbst eine europäische Sozialversicherungsvereinbarung setzt mehr Willen als zentrale Entscheidungsstelle voraus.
Da, wo es auf Zentralität ankommt, wird es in meinen Augen kritisch, da dies Bereiche sind, die in die Freiheitsrechte der Bürger eingreifen, etwa wenn es um die Regulierung von Innerer Sicherheit geht. Da möchte ich gerne die Zuständigkeiten nahe bei behalten, um notfalls leicht demonstrieren zu können.
Ich sehe das nicht als Problem: Ich habe mich bemüht, Erfolge und Aufgaben nebeneinanderzustellen, eben um zu zeigen, daß die Ziele erreichbar sind und es sich lohnt, etwas dafür zu tun. Ein europäisches Sozialwesen setzt erhebliche Systemdiskussionen voraus; ich denke, daß die Einigung in weiter Ferne liegt, weil die verholzten Wucherungen schwer gleichzubiegen sind, die Säge aber nicht infrage kommt... Da ist ein einheitliches Steuersystem noch wahrscheinlicher, auch wenn die Staaten damit die Möglichkeiten ihrer Mißwirtschaft einschränken. Allein schon die Vergleichbarkeit von Steuereffizienz wäre ein faszinierendes Ergebnis einer solchen Aufgabenverlagerung. Aber kleine Schritte, immer Erreichbares vornehmen, auch wenn man weitere Ziele hat.

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So 15. Jun 2008, 11:39 - Beitrag #12

bei der ganzen Sache ist vor allem eines interessant: überall dort, wo wirklich die Bürger gefragt wurden, ob sie Europa wollen, sagten sie nein. Europa ist ein unter Einfluss der Industrielobby ins Laufen gebrachtes Politikerprojekt, und das sagt einiges aus über die demokratische Basis dieses Konstrukts. Es sagt auch einiges über seine demokratishe legitimierung, und über das Demokratieverständnis der es Betreibenden, dass sie nach erfolgten Ablehnungen hingehen und diese Ablehnungen mit verwaltungstechnischen Maßnamen hintertreiben.

janw
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So 15. Jun 2008, 12:22 - Beitrag #13

Zitat von Lykurg:oder aus England die Krankenversorgung.

:fear:
Ich sehe das nicht als Problem: Ich habe mich bemüht, Erfolge und Aufgaben nebeneinanderzustellen, eben um zu zeigen, daß die Ziele erreichbar sind und es sich lohnt, etwas dafür zu tun. Ein europäisches Sozialwesen setzt erhebliche Systemdiskussionen voraus]
Sicher, wobei man allerdings zur Frage der Mißwirtschaft sagen könnte, daß die eben nur auf eine Stufe höher verlagert würde, wobei manche in der EU-Verwaltung eh schon das Maximum an Mißwirtschaft sehen und zugleich die geringste Einflussmöglichkeit darauf, trotz OLAF, und bei der Frage der Steuereffizienz gerne übersehen wird, daß Steuern in den europäischen Staaten für sehr unterschiedliche Aufgaben verwendet werden, bei denen sich Effizienz teils aus sachimmanenten Gründen nur schwer messen lässt (nur mal nebenbei...die Wirkung von schulischer Bildung im Erwachsenenvollzug auf die Rückfallquote ist schwer zu messen bis gering, trotzdem bietet man die Maßnahmen an - weil sie als Teil der geforderten Resozialisierung bzw. Vermeidung von Haftschäden geboten sind und auf der Basis des Einzelnen durchaus eine kritische Lücke füllen können). In meinen Augen fehlt hier eher eine Effizienz der konsequenten Umsetzung der einkommensbezogenen Veranlagung gerade bei den höheren Einkommmensklassen - aber das nur nebenbei.

Worum es mir ging, ist, daß all dies, die vielen sinnvollen Entwicklungen, die derzeitige stukturelle Zentralisierung von staatlichen Kernbereichen nicht brauchen.
Mir drängt sich dabei sogar auf, daß alle diese sinnvollen Entwicklungen, die das Leben für den normalen Bürger in Europa vereinfachen, gar nicht wirklich Ziel sind, der wirklichen Akteure aus miteinander verflochtenen Konzernen und Spitzenbürokratie, sondern neudeutsch give-aways, die Zentralisierung an sich, die Verstärkung zentraler Kontrolle und Erleichterung des Durchregierens, ist das wirkliche Ziel, fürchte ich.

Zitat von Ipsissimus:bei der ganzen Sache ist vor allem eines interessant: überall dort, wo wirklich die Bürger gefragt wurden, ob sie Europa wollen, sagten sie nein. Europa ist ein unter Einfluss der Industrielobby ins Laufen gebrachtes Politikerprojekt, und das sagt einiges aus über die demokratische Basis dieses Konstrukts. Es sagt auch einiges über seine demokratishe legitimierung, und über das Demokratieverständnis der es Betreibenden, dass sie nach erfolgten Ablehnungen hingehen und diese Ablehnungen mit verwaltungstechnischen Maßnamen hintertreiben.

Ja, und daß sie die Ablehnung als Ausdruck paralleler innenpolitischer Unzufriedenheit hinstellen.

Der Bürger gilt als politisches Kind und dummer Konsument.

janw
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Mo 16. Jun 2008, 20:14 - Beitrag #14

Mit der dargestellten tiefgehenden Skepsis hinsichtlich der demokratischen Motivation hinter den EU-Reformen mag die Diskussion etwas "abgewürgt" erscheinen, wobei die Skepsis eigentlich eher Ausgangspunkt für weitere Fragen sein könnte und sollte.

Die Frage, die sich mir hinter dieser Skepsis, sich aus ihr ergebend, stellt, ist die, warum seitens der Politik und Verwaltung nichts dagegen unternommen wird, schlimmer noch, warum nicht einmal erwogen wird, daß die Skepsis Gründe haben könnte, denen nachgegangen werden könnte - wenn ich die Interviews zum Thema im Deutschlandfunk und anderen Medien in den letzten Monaten rekapituliere, zog sich leitmotivisch durch, daß die Entwicklung an Irland scheitern könne, weil dort ja das Volk gefragt werden müsse, und ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, daß einer der Journalisten mal gefragt hätte, ob nicht auch in anderen Staaten, möglichst allen, das Volk gefragt werden sollte. Die Notwendigkeit der Volksabstimmung wurde als Problem angesehen, nicht aber erwogen, ob es nicht ein Problem ist, daß im Volk eine derartige Skepsis verbreitet ist - und aus welchen Gründen sie so verbreitet ist - daß eine Volksabstimmung über eine wirklich gute Sache so eine unsichere Sache ist.
Das ist für mich der Kern des Problemes, daß das Volk nicht (mehr?) als selbstverständliche Entscheidungsinstanz begriffen wird, mit spezifischen befragungstechnischen Problemen, sondern höchstens als störender bzw. Unsicherheit in den Ablauf bringender Faktor.

Oder, ketzerisch gefragt, ist andererseits der Zustand des Mißtrauens des Volkes gegenüber der Regierung nicht vielleicht ein notwendiger, Ausdruck von Reife?

Ipsissimus
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Do 19. Jun 2008, 13:58 - Beitrag #15

Interview mit Gauweiler bei stern.de

http://www.stern.de/politik/deutschland/:EU-Reform-%0A%09%09Ein-Politiker--490-Millionen-B%FCrger%0A%09%09%09/624426.html

ich muss vor dem Mann, zumindest in dieser Geschichte, den Hut ziehen

und einer der Kommentatoren im Forum bringt es auch auf den Punkt

Gewaltsamer Widerstand...
...wäre im Falle des besagten EU-Vertrags, wenn er denn umgesetzt werden sollte, laut unserer bundesdeutschen Verfassung das legale und legitime Recht eines jeden Bürgers. In dem Zusammenhang wird auch klar, warum in dieser Windeseile noch schnell der Überwachungsstaat eingeführt wurde. Adolf hätte es nicht besser planen können.


User flashback in http://www.stern.de/politik/deutschland/:EU-Reform-%0A%09%09Ein-Politiker--490-Millionen-B%FCrger%0A%09%09%09/624426.html?id=624426&rendermode=comment

janw
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Do 19. Jun 2008, 14:39 - Beitrag #16

Warum nur berichtet keine "tagesschau" und kein "heute journal" über Gauweilers und anderer Probleme mit dem Vertrag - praktisch überhaupt nichts inhaltliches ist zu hören, nur das Gezerre über das Prozedere ist Thema.

Ipsissimus
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Do 19. Jun 2008, 16:15 - Beitrag #17

das ist wegen der politischen Ausgewogenheit^^ außerdem haben die Redakteure ihren Zuschauern gegenüber eine Fürsorglichkeitspflicht und dürfen ihnen daher nicht alles zumuten^^

für mich ist das schon ein Akt innerer Gewalttätigkeit der Regierungen gegen ihre Nationen ... und so elegant ... so en passant ... alles ganz nebensächlich, wie da demokratische Strukturen ad acta gelegt werden ... niemand braucht sich aufzuregen, das machen eh nur Teroristen und Krawallmacher

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Do 19. Jun 2008, 16:49 - Beitrag #18

Zitat von Zitat bei Ipsissimus: Adolf hätte es nicht besser planen können.
Wie war das noch mit Goodwin's Law?

(und seinen diversen Zusätzen^^)
[size=84]
Übrigens habe ich mich mit weiteren Antworten zurückgehalten, weil die inhaltliche Auseinandersetzung mit meiner "wirtschaftlichen" Argumentation ausblieb, stattdessen bereits zuvor gehörte Generalverdächtigungen wiederkehrten.
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Do 19. Jun 2008, 17:52 - Beitrag #19

das sind keine Generalverdächtigungen, Lykurg, das sind handfeste verfassungsrechtliche Bedenken und mehr als Bedenken, die von ausgewiesenen Verfassungsrechtlern erhoben werden.

Hinsichtlich der wirtschaftlichen Argumentation: dass ich die Globalisierung als Versuch, die lokalen Märkte zugunsten einiger Großschmarotzer ... pardon, Global Player ... zu vernichten, empfinde, dürfte bekannt sein. Da diese Ansicht bisher auch noch durch keinerlei Fakten oder wenigstens stichhaltige Argumente, die nicht von den angeblichen tollen Chancen sondern den hässlichen Faktizitäten ausgehen, widerlegt wurde, erlaube ich mir, diese Ansicht weiter beizubehalten. Was ich in der EU sehe, ist Globalisation im Taschenformat. Auch in dieser Form wird sie nur den Großen nützen, was auch ihr Sinn ist. Hinzu kommt die eigentlich überhaupt nicht fragliche, sondern schlicht nicht vorhandene demokratische Legitimierung. Von daher bin ich über jeden Stein froh, der diesen "Europa-Demokraten" und ihren medialen und politischen Handlangern ins Getriebe geworfen wird.

Jeder Volkswirt kann dir übrigens sagen, was du tun musst, um die Märkte zu zerstören: schaffe Schutzbestimmungen ab. Anscheinend haben das aber nur die Haie udn ihre Fachleute verstanden.

janw
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Do 19. Jun 2008, 18:34 - Beitrag #20

Lykurg, vielleicht war unbemerkt geblieben, daß IMHO
[...]die vielen sinnvollen Entwicklungen, die derzeitige stukturelle Zentralisierung von staatlichen Kernbereichen nicht brauchen.

Sie sind also unnötig, wenn man nur gemeinschaftlichen Umweltschutz, Mindeststandards für die Versorgung von Flüchtlingen, gemeinschaftliche Anerkennung von Bildungszertifikaten oder einheitliche Erstattungsregeln bei Zugverspätungen (heutiges Thema im Bundestag) will.
Es muß also etwas anderes dahinterstecken, und rechtfertigt das kein Mißtrauen?
Zitat von Lykurg:Du weißt doch, daß in Irland neben diesem Declan Ganley auch John Bolton intensiv gegen den Vertrag von Lissabon geworben hat, mit Vorträgen durch das ganze Land getourt ist, um vor Europa zu warnen? Nachtigall, ...

Ja, ich weiß, aber erstens halte ich Lobbies für durchaus beherrschbar, es gäbe die Mittel, wenn man nur wollte, und zweitens würde, hätten die Iren brav zugestimmt, keiner von den Euronutznießern gesprochen, die fleißig Propaganda gemacht haben...das Ergebnis jetzt auf Leute wie Bolton zu schieben, tut IMHO jenen vielen Unrecht, die aus ernstzunehmenden Gründen vo dem Vertrag gewarnt haben.
Wenn das Volk diese Leute wählt]
Das Bundesverfassungsgericht findet europaweit derartige Anerkennung, daß es jetzt quasi "unschädlich" gemacht wird.
Gegen das finnische Bildungssystem sind etliche aus der C-Partei, und bewahre uns vor dem National Health System, gleich nach dem Baggage Retrieval Sytem in Heathrow^^
Daß zu einem wirklichen Zusammenwachsen mehr Zeit benötigt wird, ist klar - niemand wird binnen 5 Jahren einen europäischen Zentralstaat fordern, um die in einem Jahrtausend gewachsenen Staaten abzulösen - aber wir sind in den zweieinhalb Generationen seit Adenauer/de Gaulle doch deutlich weitergekommen. Schritte, die wir heute tun, verstärken die Dynamik des Prozesses und helfen so den nachfolgenden Generationen, ein solches Ziel zu erreichen.

"Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten" ;)
Ja, sicher wird es die Dynamik verstärken - nur eben IMHO am falschen Ende, nicht da, wo es mehr Freiheit, mehr Grundstandards und damit Verlässlichkeit und mehr Chancengleichheit bringt, sondern da, wo mehr Überwachung, Kontrolle und Machtkonzentration erreicht wird.
Wenn ich mir die neue Flüchtlingsrichtlinie ansehe, bringt sie gewiss in Griechenland immensen Gewinn für die Menschen - aber Haft ohne Rechtsbeistand, mehrjähriges Einreiseverbot, das geht schon an den Grundbestand der Menschenrechte, ich sag nur habeas corpus und nulla poene sine lege...ist es ein Verbrechen, vor Gewalt und Armut zu fliehen? Höchstens bitter ironisch, daß sie ausgerechnet zu jenen fliehen, die für einen guten Teil der Gewalt und Armut verantwortlich sind....

Das mit Adolf lässt leider den ersten Teil des Zitats etwas untergehen - aber wat solls, heute machen wir die Portugiesen platt, was interessiert da ein Vertrag von Lissabon^^

Ipsi, ja, nicht auszudenken, zu welchen Produktionsausfällen die Alpträume der Zuschauer sonst führen würden^^

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