dtv klittert Literaturgeschichte

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janw
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So 17. Mai 2009, 12:12 - Beitrag #1

dtv klittert Literaturgeschichte

Neulich hörte ich im Deutschlandfunk einen Bericht über ein im dtv-Verlag erschienenes Handbuch zur Literaturgeschichte mit tendenziösen Lücken.
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/963750/

Danach hat der Verlag nach massiver Kritik aus der Presse die "Daten deutscher Dichtung" aus dem Programm genommen.

dtv reagiert auf Kritik an tendenziösen Lücken des Nachschlagewerks
Moderation: Doris Schäfer-Noske

Der Deutsche Taschenbuchverlag (dtv) nimmt das umstrittene Handbuch "Daten deutscher Dichtung" aus dem Programm. Das sagte dtv-Chef Wolfgang Balk im Deutschlandfunk. Er reagierte damit auf die erneute Kritik an der antisemitischen Gesinnung der Verfasser Elisabeth und Herbert Frenzel, die wichtige Autoren wie Kurt Tucholsky, Irmgard Keun oder Oskar Maria Graf in dem Handbuch nicht berücksichtigt haben.


Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" habe danach den Vorwurf erhoben, dass das Nachschlagewerk entschieden dazu beigetragen habe, dass die Namen dieser Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten und geblieben seien.

Balk betonte gegenüber dem Sender, dem Verlag seien Defizite des Handbuchs bekannt gewesen. Man habe sie nicht beheben können, weil das ein Eingriff in Autorenrechte gewesen wäre. Deshalb habe man den Zustand "aufgrund des Gesamtwerks mit schlechtem Gewissen in Kauf genommen.

Aber wenn ein Artikel so massiv dagegen vorgeht, können wir uns auch nicht taub stellen und haben uns jetzt entschieden, es aus dem Programm zu nehmen".


Man liest und staunt, daß also jahrzehntelang ein maßgebliches Nachschlagewerk aus einem nicht unwesentlichen Verlag gezielt nichtumfassend gewesen ist, gezielt einen wesentlichen Teil des Literaturschaffens ausgeblendet hat - und keinen hats gestört - oder wurden die, die sich daran störten als Störwillige abgetan?
Eine Literaturwissenschaftlerin, die in den 30er Jahren über "Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700 Jahre Rollengeschichte" promoviert und damit auf kulturellem Gebiet den Weg für die nationalsozialistische Ausrottungspolitik geebnet hat, die auch später sich nie von diesem Teil ihrer Geschichte distanziert hat, wie konnte solch eine Person überhaupt mit derart grundsätzlicher Literatur, wie es Nachschlagewerke sind, beaufgabt werden?
Nicht zuletzt, was sagt es über den Literaturbetrieb der BRD aus, daß dies mehr als 60 Jahre möglich war, einen Literaturbetrieb, in dem und über den immer wieder im Sinne der Linkslastigkeit debattiert wurde - ist m,an hier einfach auf dem anderen Auge blind gewesen?
Und was ist zu dem Verlag zu sagen, der Bücher "mit schlechtem Gewissen herausgibt", deren Inhalt nicht im Sinne von Meinungspluralismus diskutierbar ist, sondern die schlicht falsch sind, und das noch in gesellschaftlich gefährlicher Weise?
Welche "Überraschungen" stehen uns da noch bevor?

Lykurg
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So 17. Mai 2009, 12:48 - Beitrag #2

Ich habe es ebenfalls mit Staunen zur Kenntnis genommen. Die "Daten deutscher Dichtung" sind ein absolutes Standardwerk; um so folgenschwerer, daß es nicht mehr ergänzt und berichtigt, sondern aus dem Handel genommen wird. Die Verfasserin hatte zwar bis weit in die 70er eine Reihe von Nachträgen vorgenommen, bis zuletzt aber schwerwiegendes versäumt, etwa Tucholsky praktisch unberücksichtigt gelassen und den NS-Enthusiasten Kolbenheyer unkritisch gewürdigt.

In meinen Augen wäre es wichtig gewesen, das Werk frühzeitig massiv zu überarbeiten, es dafür aus ihren Händen zu nehmen oder zumindest entsprechend sensibilisierte Mitarbeiter zu beteiligen. Daß das trotz großer kritischer Windmacherei in der Germanistik der 68er nie in Angriff genommen wurde, deutet tatsächlich darauf hin, daß man die grundlegenden Werke des Fachs nicht zur Hand nahm und sich stattdessen in Theoriestreitigkeiten verrannte. Manch einer im literarischen Betrieb der Zeit hatte dagegen möglicherweise unter der Haut zu viel Dreck, um gegen entsprechendes aufzutreten (Jens, Grass etc.)...

Wenn es aber nun nicht ersetzt wird, behalten die Fehlurteile und Lücken möglicherweise noch lange Gültigkeit.

Traitor
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So 17. Mai 2009, 13:09 - Beitrag #3

Den Fehler sehe ich weniger darin, dass dieses Buch aufgelegt und dann weiter im Angebot gehalten wurde. Eher darin, dass anscheinend niemand den Misstand groß genug fand, um ein Alternativprodukt aufzulegen und dieses als Standard zu etablieren. (Anmerkung: Das Werk sagt mir überhaupt nichts, daher kann ich nicht beurteilen, wie dominierend seine Stellung tatsächlich ist.)

Dem hehren Enzyklopädisten-Ideal nach soll ein Nachschlagewerk natürlich allumfassend und perfekt neutral sein. De facto war dies aber nie so, und so ist es gerade in subjektiven Bereichen wie der Literatur doch eigentlich selbstverständlich, dass jedes Werk in gewissem Umfang durch Geschmack und Ansichten der Autoren geprägt ist. Zumal, wenn es anscheinend nur zwei Autoren (oder Editoren?) hat und keine größere Redaktion. Die vorliegende Schlagseite ist sicher eine recht starke, aber prinzipiell im Rahmen des zu Erwartenden. Und damit auch dessen, wofür sich ein Verlag nicht schämen muss. Und sofern die Verträge nicht explizit anderes vorsahen, dürfte er auch kaum die Möglichkeit gehabt haben, die Herausgeberin zu enteignen und unter dem etablierten Markennamen ein überarbeitetes Werk herauszugeben.

Aber wie gesagt hätte, wenn das Problem bekannt war, sich auf einem vernünftigen Markt doch längst ein Konkurrenzwerk, zur Ehrenrettung vielleicht sogar aus demselben Verlag, durchsetzen können und sollen.

janw
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So 17. Mai 2009, 14:35 - Beitrag #4

Dem hehren Enzyklopädisten-Ideal nach soll ein Nachschlagewerk natürlich allumfassend und perfekt neutral sein. De facto war dies aber nie so, und so ist es gerade in subjektiven Bereichen wie der Literatur doch eigentlich selbstverständlich, dass jedes Werk in gewissem Umfang durch Geschmack und Ansichten der Autoren geprägt ist. Zumal, wenn es anscheinend nur zwei Autoren (oder Editoren?) hat und keine größere Redaktion. Die vorliegende Schlagseite ist sicher eine recht starke, aber prinzipiell im Rahmen des zu Erwartenden. Und damit auch dessen, wofür sich ein Verlag nicht schämen muss.

Traitor, es handelt sich nicht um eine Auslassung im kopfwiegend zu diskutierenden Bereich, übertragen auf die Physik könnte man es mit der Auslassung z.B. Schrödingers und aller seiner Erkenntnisse in einem grundlegenden Lehrbuch der Physik vergleichen, oder in Biologie mit einem Lehrbuch auf kreationistischer Basis.

Das hingenommen zu haben, wirft nicht nur ein sehr schräges Licht auf den Verlag, sondern auf die literarische community als Ganzes, und wie Lykurg andeutet auch auf die bundesdeutsche Linke.
Vielleicht ist es der Vorwurf, welcher der Linken zu machen ist, daß sie sich der Grundlagenforschung, dem ad fontes als der dem traditionellen bürgerlich-konservativen zugesprochenenen Arbeitsweise abgewandt und sich in der Diskussion der Erscheinungen und ewigen Richtungsstreits erschöpft hat.
Eine derartige Schlagseite mag mancher gewiss erwarten - der Zweifel an der Überwindung des nationalsozialistischen Ungeists hegt, ein Verlag, der dergleichen duldet, stellt sich IMHO in ein sehr dämmeriges Licht.

Und sofern die Verträge nicht explizit anderes vorsahen, dürfte er auch kaum die Möglichkeit gehabt haben, die Herausgeberin zu enteignen und unter dem etablierten Markennamen ein überarbeitetes Werk herauszugeben.

Nun, ein Verlag ist, jenseits des Gewinnerzielungsaspekts, eine Institution, die Autoren und ihren Inhalten den Weg zum Leser ebnet und umgekehrt den Lesern Zugang zu den Inhalten der Autoren verschafft. Jeder Verlag betreibt zu diesem Zweck ein Lektorat, das den Autor berät, dabei natürlich immer den Spagat betreiben müssend zwischen dem Veröffentlichen von möglichst vielem und dem Zwang, dabei mindestens keine Verluste zu erwirtschaften.
Natürlich kann das Lektorat auf den Autor einwirken, bis zum Abbruch der Zusammenarbeit, wenn dieser nicht einfach nur kontroverses, sondern grob falsches und gefährliches veröffentlichen möchte, in diesem Sinne einzuwirken, ist gar die Pflicht des Lektors. Daß der Verlag mit Bauchgrimmen jahrelang das Buch, ein Standardwerk, das die literaturwissenschaftliche Entwicklung geprägt hat, getragen hat, muss verunsichern.

Anaeyon
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So 17. Mai 2009, 14:59 - Beitrag #5

Sofern der Verlag davon wusste, ist das natürlich nicht ok, aber wenn sich bisher niemand richtig darüber beschwert hat, kann man nicht die ganze Schuld dem Verlag geben.

janw
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So 17. Mai 2009, 15:58 - Beitrag #6

Ana, set is le point :-)

Dabei hat doch die FAZ ihren Literaturteil jahrelang unter den Fittichen eines brauner Umtriebe wirklich Unverdächtigen gehabt, der allerdings in seinen Kritiken auch nicht immer freundlich mit den Autoren umgegangen ist - warum ist da aber früher nicht massiv auf die Mißstände hingewiesen worden?
Hat die literaturwissenschaftliche community sich nicht gerührt, weil sie selbst zu viel Dreck unter den Nägeln hatte - oder ist das Schweigen gar Ausdruck dessen, daß die Verschwiegenen vielleicht bereits aus dem Bewusstsein geraten, zumindest desavouiert waren, hatte das Frenzelsche Treiben hier schon üble Folgen gezeitigt?

Lykurg
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So 17. Mai 2009, 17:32 - Beitrag #7

Genau das ist zu befürchten bzw. ist tatsächlich erfolgt. Die Nazis waren in der Kulturpolitik wie auch auf anderen Gebieten ziemlich erfolgreich darin, alles andere zu zerstören oder schwer zu beschädigen, ohne in der Lage zu sein, etwas eigenes aufzubauen. Was ähnlich auch für Musik, Bildende Kunst und Architektur, sowie in diversen Wissenschaften gilt, äußert sich in Literatur eben darin, daß viele der Autoren, die sie verboten und ins Ausland trieben, nie wieder Anschluß an den deutschen Markt fanden und kaum rezipiert wurden. Das gilt natürlich nicht für die ganz großen, aber viele der zweiten und dritten Reihe sind so dauerhaft ausgeschlossen worden. Und daran hat sich in der Nachkriegszeit eben nicht mehr viel geändert; die nachdrängenden Jüngeren etwa der "Gruppe 47" verhinderten lautstark auch die Wiederkehr von Emigranten auf dem Literaturmarkt.

Im Ergebnis bedeutet das, daß Autoren, die gegen Ende des Dritten Reichs vielleicht noch eine Chance gehabt hätten, durch entsprechenden Behandlung in der Nachkriegszeit vollständig verdrängt und vergessen wurden. Und daran hat eben auch DdD mitgewirkt, das gewissermaßen einen erweiterten Kanon deutscher Literatur bildet, mit seinen Nennungen und Nichtnennungen enthält, wovon man wenigstens dem Namen nach schonmal gehört haben sollte. Wer darin nicht genannt ist, nun ja - 'sicher ein weniger bedeutender Autor, lohnt die Beschäftigung nicht'...

Traitor
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So 17. Mai 2009, 17:43 - Beitrag #8

Traitor, es handelt sich nicht um eine Auslassung im kopfwiegend zu diskutierenden Bereich, übertragen auf die Physik könnte man es mit der Auslassung z.B. Schrödingers und aller seiner Erkenntnisse in einem grundlegenden Lehrbuch der Physik vergleichen, oder in Biologie mit einem Lehrbuch auf kreationistischer Basis.
Bei beidem wäre es selbstverständlich völlig in Ordnung, es zu veröffentlichen. Völlig legitime Äußerungen der Autoren, wenn auch von desaströser Qualität bzw. äußerst fragwürdiger Wissenschaftlichkeit. Das Problem entstünde erst dann, wenn eine Schule diese Lehrbücher als Standard anschafft, oder sich selbst Wissenschaftler schimpfende daraus zitierten.

Nun, ein Verlag ist, jenseits des Gewinnerzielungsaspekts, eine Institution, die Autoren und ihren Inhalten den Weg zum Leser ebnet und umgekehrt den Lesern Zugang zu den Inhalten der Autoren verschafft. Jeder Verlag betreibt zu diesem Zweck ein Lektorat, das den Autor berät, dabei natürlich immer den Spagat betreiben müssend zwischen dem Veröffentlichen von möglichst vielem und dem Zwang, dabei mindestens keine Verluste zu erwirtschaften.
Natürlich kann das Lektorat auf den Autor einwirken, bis zum Abbruch der Zusammenarbeit, wenn dieser nicht einfach nur kontroverses, sondern grob falsches und gefährliches veröffentlichen möchte, in diesem Sinne einzuwirken, ist gar die Pflicht des Lektors. Daß der Verlag mit Bauchgrimmen jahrelang das Buch, ein Standardwerk, das die literaturwissenschaftliche Entwicklung geprägt hat, getragen hat, muss verunsichern.
Beim Erstlektorat in den 50ern mögen die Lücken schlicht und ergreifend nicht aufgefallen sein. Wer sagt denn, dass der Lektor selbst ein vollständiges Wissen der Literaturlandschaft haben musste. Und selbst wenn zu diesem Zeitpunkt aktiv wissendes Einvernehmen bestand, ist das zwar bedauerlich und bedenklich, aber nur auf der Ebene der persönlichen Qualitäten der Verlagsleute, nicht im Bereich politischer Verpflichtungen, derartige Auslassungen sind nun doch noch einige Größenordnungen entfernt von echter Volksverhetzung, bei denen sie gezwungen gewesen wären, einzugreifen. Und was nun die Jahrzehnte seitdem angeht - welche bessere Rechtfertigung könnte ein Verlag haben, ein Werk weiter zu verlegen, als dass es von der Zielgruppe als Standardwerk anerkannt ist?

Also, nochmal zusammenfassend: einem Verlag kann kein Vorwurf gemacht werden, wenn er Material veröffentlicht, dass vom Autor subjektiv gefärbt ist, solange es sich in den gesetzlich erlaubten Bahnen bewegt. So er nicht selbst explizit bestimmten Ideologien verpflichtet ist oder das Werk kommerziell unlohnend erscheint, kann man sogar eigentlich von ihm erwarten, dass er dies tut - Meinungsfreiheit, Belebung des Diskurses, und so. Wenn die Inhalte so subtil sind, dass sie vom Verlag nicht bemerkt werden, erst Recht.
Der Fehler entsteht dann, wenn die dafür zuständigen Personen, die Kritiker und Wissenschaftler, die Probleme des Werkes nicht bemerken und es sich sogar zu eigen machen, was die Erklärung zum Standardwerk mit Sicherheit bedeutet. Hätte es im Gegenteil breite Kritik und das Aufstellen von Gegenwerken gegeben, wäre es durchaus vom Verlag zu erwarten gewesen, dass er das Werk zurückzieht, revidiert oder, idealerweise, mit einem kritischen Vorwort versieht. Aber nach den (Vierte-Hand-)Informationen, die ich über diesen "Fall" habe, sehe ich hier ein Fehlverhalten lediglich der Autoren und Rezeptoren, nicht der Vermittler.

Ach ja, zum Verdrängungserfolg: Tucholsky dürfte jeder kennen, wenn auch eher als politischen Publizisten und Satiriker denn als Dichter/Literat. Keun haben wir im Deutsch-LK behandelt. Graf sagt mir allerdings tatsächlich gar nichts, und bei weiteren Betroffenen dürfte ebenfalls das Vergessen weit verbreitet sein. Auch von vielen anderen Autoren und Wissenschaftlern weiß ich, dass ihr Nachwirken nie wieder den Vor-Hitler-Stand erreicht hat, seien es Juden oder Linke. Hier ist tatsächlich die Aufarbeitung nie so gelungen, wie es zu wünschen gewesen wäre.

janw
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Mo 18. Mai 2009, 01:26 - Beitrag #9

Eine sehr aufschlussreiche Quelle zu der Angelegenheit findet sich hier

Die gefährliche Wirkung des Frenzelschen Buches wird hiermit recht transparent beschrieben:
Wer weiß, wie große Schriftsteller wie Armin T. Wegner (nicht erwähnt in diesem Buch), wie Irmgard Keun (nicht erwähnt in diesem Buch) nach dem Krieg wie lebendig begraben, unerkannt und unerwünscht weiterlebten; wer weiß, wie Klaus Mann starb (in diesem Buch nur als Herausgeber der Exil-Zeitschrift „Die Sammlung“ erwähnt), wie Kurt Tucholsky starb (in diesem Buch wird kein Werk von ihm genannt) und wer die Bücher dieser Autoren kennt, die Bücher von Wegner, von Keun, von Klaus Mann und von Tucholsky, der wird erkennen, dass mit den „Daten deutscher Dichtung“ die Lücke, die vor sechsundsiebzig Jahren gerissen wurde, dauerhaft gemacht wird.

Sie hat damit das Ziel der Bücherverbrennungen zur Vollendung getrieben und dafür im Gegenzug Vordenker und Verfechter des Nationalsozialismus weiter mit Aufmerksamkeit bedacht.

Bedenklich stimmt mich auch die äußerst zögerliche Reaktion der Lektorin.
Ob man daran rühren müsse, die Frau sei doch so alt...
Fruchtbar ist er noch, der Schoß...

Ipsissimus
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Mo 18. Mai 2009, 14:51 - Beitrag #10

ich bin mir nicht schlüssig^^ wer Mann und Tucholsky vorsätzlich draußen lässt und hofft, damit durchzukommen, leidet an erwiesener mangelnder Intelligenz, nicht notwendigerweise an Bösartigkeit. "Schlecht lektoriert" wird man wohl allemal feststellen müssen, "bösartig lektoriert" bliebe noch festzustellen - nicht alles, was sich Dichter schimpft, ist schon Kunst oder Literaturgeschichte, selbst aus dem 3ten Reich nicht.

Was viel wichtiger wäre: Die Leute erst mal wieder auflegen, damit man sehen kann, wie gut die sind. Ging doch sowohl bei Mann als auch bei Tucholski. Vielleicht weil die gut genug sind?

Danach, wenn sie gut genug sind, werden sie auch sehr sehr schnell wieder in allen Standardübersichten enthalten sein. Aber einfach mal in die Übersichten gepackt, nur damit ein paar weitere verfolgte Dichter drin stehen, egal wie gut sie sind, das törnt auch nicht sonderlich^^

Dass dies natürlich nicht die Entscheidung der Frenzels zu sein hat, denen zukünftig sehr genau auf die Finger geschaut werden muss, versteht sich von selbst

janw
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Di 19. Mai 2009, 11:11 - Beitrag #11

Naja, aber Du weißt doch, wie die Lektoren gestrickt sind..."was wollen Sie? Eine Neuausgabe von Irmgard-Keun? Keun...irgendwas dämmert mir da...ach ja, dieser Aufstz bei dieser Deutschlehrerin, die ich nie mochte, aber schaun wir doch mal bei Frenzel nach. *Rotes Buch rausholt...Keun...nicht drin! Also wirds auch nicht so wichtig sein. Ich fürchte, das passt nicht in unser derzeitiges Verlagsprofil hinein, aber kommen Sie vielleicht in 5 Jahren mal wieder!"

Ipsissimus
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Di 19. Mai 2009, 11:44 - Beitrag #12

sind Lektoren so gestrickt? in guten Verlagen sicher nicht^^ die würden sagen: "lassen Sie mir mal was zukommen von der Keun, meine Übersichten kennen die nicht." Das Problem hat im Übrigen jeder Autor, ob vergessener Alter oder Neuling, der ins Geschäft will. Erst kommt die Überzeugungsarbeit anhand der Qualität der Werke, dann die Heiligsprechung durch Aufnahme in die Listen^^ Und es ist kein automatisches Qualitätsmerkmal, im dritten Reich verfolgt worden zu sein. Wenn den Leuten diese Autoren am Herzen liegen, lasst sie uns Material geben, das wir lesen können. Ich und niemand, den ich kenne, hat sich je Bücher danach ausgesucht, ob sie deren Autoren in irgendwelchen Referenzlisten fanden. Überflutet die Buchhandlungen und Versandhändler mit den Neuauflagen, dann habt ihr viel mehr für diese Leute getan, als wenn ihr Grabenkämpfe im Elfenbeinturm der Literaturgeschichte führt

janw
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Di 19. Mai 2009, 12:08 - Beitrag #13

Das Dumme ist nur, daß Keun und andere ihre Hauptschaffensphase in den 20ern und 30ern hatten, dann wurden sie zum auswandern gezwungen, ihre Wahrnehmung in Deutschland abgerissen. Nach 1949 konnten sie nicht wieder an ihr Werk anknüpfen, da sie mittlerweile gestorben waren wie Tucholsky, krank wie Heinrich Mann oder der Markt sich ihnen schlicht verweigerte. Die Germanisten, welche ihre Bücher verbrannt hatten, saßen nun als Lektoren in den Verlagen oder lehrten an den Universitäten, die neuen Studenten efuhren nichts von den Schriftstellern, da eben diese Germanisten die Verfemten weiter totschwiegen und das Handbuch, das hätte Auskunft geben können, von einem eingefleischten Nazi-Ideologenpaar stammte.

Ich geb Dir aber recht, daß der dtv-Verlag nicht unbedingt ein Hort bester Lektoren sein muss, und im konkreten Falle muss auch ein Doktorgrad hier nichts bedeuten.

Ipsissimus
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Di 19. Mai 2009, 12:28 - Beitrag #14

das ist aber ein allgemeineres Problem, nämlich das der Aufarbeitung des NS-Erbes im Nachkriegsdeutschland, oder sehe ich das falsch?

für Keun und Co wäre z.B. Suhrkamp zuständig, dtv sehe ich eher als mediocren Verlag an, zumindest bezüglich des Literaturbetriebs.

Versteh mich nicht falsch, ich begrüße die Kaltstellung der Frenzels durchaus. Aber es gibt jede Menge nach dem Krieg wiederaufgelegter, ehemals verfemter Autoren, solche, die das aufgrund der Qualität ihrer Werke auch verdient haben. Aber um das beurteilen zu können, muss man erst mal die Werke kennen. Und daran ermangelt es bei den hier genannten Autoren. Das kann auch nicht durch die Aufnahme in die Listen ersetzt werden.

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Di 19. Mai 2009, 12:44 - Beitrag #15

Das gehört natürlich zu dem größeren Komplex Aufarbeitung des NS-Erbes.
Kontinuitäten an allen Orten, Richter des Volksgerichtshofes an hohen bundesdeutschen Gerichten, bis zu ihrem Regelruhestand, ein Ex-Nazi als Bundeskanzler, und nun wird dies auch in der geistigen Domäne offenbar.

Etwas provokant würde ich sagen, daß eigentlich gar keine wirkliche Befreiung des Geistes stattgefunden hat, sondern einfach die eine gegen die andere, nämlich die von der Berechtigtheit des amerikanischen Weltmachtanspruchs, ausgetauscht wurde.
Aber das nur nebenbei^^

Wir haben mal Keuns Kunstseidenes Mädchen in Deutsch gelesen, war damals irgendwie nicht mein Fall, ob heute?
Welche Autoren meinst Du, die berechtigterweise ein gutes nachleben hatten?

Ipsissimus
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Di 19. Mai 2009, 13:13 - Beitrag #16

nun, von den hier aufgeführten schon mal Kurt Tucholsky und Klaus Mann. Franz Werfel fiele mir da noch auf Anhieb ein, Stefan Zweig, Erich Maria Remarque, Thomas Mann, Berthold Brecht, Ödön von Horváth, Arthur Schnitzler (der zwar gerade "rechtzeitig" starb, aber trotzdem nicht aufgeführt wurde), Erich Kästner, Anna Seghers, Ernst Bresslau, Theodor Wiesengrund Adorno, Herbert und Ludwig Marcuse, Hannah Arendt; und wenn ich anfange, richtig nachzudenken oder meine Bücherregale durchzugehen, wird das mit Sicherheit ne nette Liste^^


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