janwModerator


Beiträge: 8488Registriert: 11.10.2003
|
Tja, ich bin auch froh, und doch auch wieder nicht so ganz.
Ich sehe seit Jahren das Problem, daß in Deutschland von jeweils interessierter Seite alles und jedes mit dem Rest der westlichen Welt verglichen und diesbezüglich Anpassung an den jeweils externen Zustand zumindest als unausweichlich erklärt wird. Flächen- und Betriebsgrößen in der Landwirtschaft - "wir kommen an den Amerikanern nicht vorbei", wahlweise auch an den Niederländern, vergleichbares in allen Bereichen von Bildung bis wirtschaftlicher Freiheit; insofern erschien es mir wünschenswert, ein europäisches Bündnis dagegen zu setzen, das gemeinsam eigene Standards vertritt und verteidigt.
Das Debakel im Irak-Krieg, mit der "Koalition der Willigen", hat für mich bedeutet, daß hier tatsächlich mehr Besinnung auf eigene Standards und deren gemeinschaftliche Vertretung, unbelastet von nationalen Egoismen, nötig wäre. (Wobei die militärische Zurückhaltung in Deutschland für mich nicht unter "nationalem Egoismus" zu subsummieren ist)
Auch in steuerlicher Hinsicht finde ich den bisherigen Zustand unbefriedigend, wo ein Land dem anderen das Wasser abgräbt, gerade Frankreich wieder mit der Mehrwertsteuer, und einzelne Länder als Steuerschlupflöcher dienen.
Andererseits sehe ich auch, daß die gemeinschaftliche Lösung immer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus laufen und damit z.B. bisher höhere Standards bei uns unterlaufen wird.
Insbesondere war die Organisationsform der EU bisher alles andere als demokratisch, ein Punkt, der mit dem Vertrag von Lissabon verbessert werden sollte - sicher nicht zum Optimum, aber dennoch substantiell.
So wichtig der Vertrag in vielerlei Hinsischt ist - auch wenn ich einige Regeln gravierend daneben finde, zu viel Lobby-Einfluss, seine Umsetzung ist miserabel durchgeführt worden. IMHO hätte die EU, deren "Verfassung" dieser Vertrag nun sein soll, diesen selbst in einem Referendum den Bürgern vorlegen sollen, anstatt es den Ländern zu überlassen, die Bürger mehr oder weniger nicht zu befragen.
Der Eu-GH hat sich in zahlreichen Urteilen gegen die schleppende Umsetzung von EU-Recht in Deutschland gewandt, nach meiner Wahrnehmung fast immer in Bereichen, wo dies der Umwelt, gesellschaftlichen Randgruppen oder vergleichbaren Rechtsgütern zu Gute kam. Gut, das Urteil zum Verbot befristeter Arbeitsverträge nach 52 war eigenartig, einige andere gefallen mir auch nicht so, aber insgesamt hege ich gegenüber dem Eu-GH keinen Groll, habe auch insgesamt nicht den Eindruck, daß er besonders lobbygesteuert wäre.
Ich denke also, daß es darum gehen müsste, in den sensiblen Bereichen - Verwaltungstransparenz, Datenschutz, Diskriminierung/gleichrangige Teilhabe, Soziale Absicherung, Verbraucherschutz, Umwelt- und Naturschutz, Menschenrechte,... eu-weit anspruchsvolle Mindeststandards enzuführen, die von einzelnen Ländern zum Besseren übertroffen werden dürfen.
In einer solchen Konstellation käme dem Eu-GH die Rolle zu, die Umsetzung der Standards nach unten hin abzusichern und in Bereichen zu überwachen, die genuin auf EU-Ebene geregelt werden - das wäre IMHO für einige Steuerarten wie die Mehrwertsteuer zu erwägen, die Förderung periphärer Regionen, Subventionen, Förderung von Wirtschaftsstandorten, usw.
Das BVG würde dann die Einhaltung der eigenen Standards der BRD überwachen, so diese strenger sind als seitens der EU geregelt.
Was nun das Urteil betrifft, finde ich es sehr erfreulich, daß das BVG auf das erhebliche Demokratiedefizit auf der EU-Ebene hinweist, das auch mit dem Vertrag nur abgeschwächt wird.
Ich finde es jedoch sehr schade, daß keiner der Klageführer und wohl auch sonst keiner z.B. vor dem Eu-GH - oder habe ich da etwas übersehen? - die ungleichmäßige Annahmepraxis des Vertrages zum Gegenstand der Klage gemacht hat. In meinen Augen ist es ein Unding, den Vertrag im einen Land dem Volk vorzulegen, im anderen von der Regierung abzunicken.
Hinsichtlich des Führungsanspruchs des BVG habe ich sonst nur einen Vorbehalt, den des immanenten Vollzugsdefizits. Es wird seitens des Gerichtes nur beurteilt, was vor ihm beklagt wird.
Ich würde mir hier eine Art "Verfassungs/Grundrechteanwalt" wünschen, der von sich aus tätig wird, wenn er Verstöße gegen Regeln des GG wahrnimmt.
Mit einer solchen Instanz wäre Kurnaz und Al Masri vielleicht einiges erspart geblieben.
|