forsan quomodocumque, mi care Ipsissime, stark differenziert sicherlich, im Moment ist jedenfalls mein Vertrauen in die langfristige Einsichtsfähigkeit sowohl des Volkes als auch der Politik nachhaltig erschüttert, eine Ansicht, die etwa in den letzten fünfzehn Jahren, also entsprechend dem Prozeß meiner Meinungsbildung, herangereift ist. Ich halte beide für fähig, in gewissem (oft auch übersteigertem) Maße auf aktuelle Zustände zu reagieren und auf Zeiträume von etwa zwei oder drei Jahren zu planen, wenn nichts Unerwartetes eintritt (und zuletzt trat regelmäßig Unerwartetes ein) - es ist dementsprechend folgerichtig und angemessen, auch in ungefähr einem solchen Zeitrahmen dem Volk das Wort zu erteilen und die Karten neu zu mischen.
Ansätze zur Bewältigung längerfristiger Veränderungen und die dafür erforderliche Reflektionstiefe sehe ich allerdings nur in sehr geringem Maße und habe nicht den Eindruck, daß sie bei Wahlentscheidungen und in der Tagespolitik eine wirkliche Rolle spielen. Überlegungen, wie sie auch von dir kommen, etwa zur Notwendigkeit einer entsprechend großen gesamtweltgesellschaftlichen Aufgabe, wie sie etwa ein Raumkolonisierungsprogramm böte; Ressourcenfragen, aber auch nur eine nichtemotionale Abwägung unserer gegenwärtigen Lebensumstände auf der Erde, z.B. Priorisierung von Wasserversorgung statt Klimawandel; Eintreten für freie Forschung in Energie- und Gentechnologie etc. statt Desinformation und Panikmache finden nicht oder eben nur im Kreis einiger weniger Experten statt. Daraus folgere ich keineswegs, daß man eben den Experten auch die Macht einräumen sollte, ich will keine Neuauflage der
Politeia, halte auch Salazar nicht gerade für das beste denkbare Vorbild.
Die Kleinigkeiten an sozialem Umverteilungsgezerre, mit denen wir uns im Moment noch beschäftigen, sind - angesichts der geopolitischen und demographischen Entwicklungen ebenso wie angesichts der ökonomischen Kipplage und der heraufziehenden Ressourcenknappheit bzw. des drohenden hausgemachten energiepolitischen Kollapses - vernachlässigbar, anzunehmen ist aber in jedem Fall, daß, egal ob aus deiner (meiner Meinung nach Über-)bewertung der gegenwärtigen Nöte des Volkes oder aus einem von außen kommenden Umbruch heraus, eine massive Veränderung auch der politischen Verhältnisse noch innerhalb meiner Lebenszeit bevorsteht, in welcher Gestalt auch immer diese sich äußern mag. Das kann zu einer Denationalisierung in einem europäischen Bundesstaat führen, der supranationale Kompetenzen an sich zieht und durchsetzt, ohne die Bevölkerung der einzelnen Mitgliedsländer groß zu fragen; das kann auch, etwa nach einem ökonomischen Zusammenbruch, in einer Wiederaufbauwirtschaft mit entsprechend streng gestrickten Wirtschaftsplänen münden. Ich halte aber - zu meinem großen Bedauern - die Tage unserer Demokratie in ihrer gegenwärtigen Form für gezählt, wenn sich nicht innerhalb eines sehr engen Zeitfensters von höchstens einem Jahrzehnt maßgebliches ändert, etwa durch Heranreifung einer neuen Generation von verantwortungsvollen Machtträgern, die es schaffen, notwendige Veränderungen so allgemein zu vermitteln, daß sich dafür auch im Volk klare Mehrheiten finden. Ob allerdings eine solche Entwicklung wirklich das Fortbestehen unserer Demokratie in derzeitiger Form implizieren würde, hängt von der individuellen Bewertung des gegenwärtigen Zustands und seiner konstitutiven Komponenten ab.
