Ausnahmezustand

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
Dämmerung
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Mi 26. Mai 2010, 14:53 - Beitrag #1

Ausnahmezustand

http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,696216,00.html

Walter H. gilt als gefährlich und sollte deshalb den Rest seines Lebens im Gefängnis bleiben. Nun ist er freigelassen worden, weil die deutsche Praxis der Sicherungsverwahrung gegen Menschenrechte verstößt. Eine Entscheidung, die alle überfordert. Auch Walter H.

Ausgerechnet jetzt. Der Schließer steht in der Zellentür. "Gehen Sie schnell mal hoch zum Sozialarbeiter", sagt er, "ist wichtig." Na klar, denkt Walter H., das ist doch mal wieder typisch. Gerade wenn "Sturm der Liebe" läuft, im Ersten, von 15.10 bis 16 Uhr, von Montag bis Freitag, und er vorm Fernseher sitzt, wie immer. "Sturm der Liebe", eine Liebesserie, seine Lieblingsserie. Irgendwie genauso endlos wie die Tage, die Jahre, sein Leben im Knast.

"Der kann mich doch auch noch ein anderes Mal sehen", mault Walter H., aber nein: jetzt sofort, hopp, hopp! Und deshalb ist Walter H. ziemlich genervt, als er beim Sozialarbeiter steht und der ihn fragt, was er wohl glaube, warum er ihn gerufen habe. Ja warum? Bestimmt weil er neulich den Schließer angeraunzt hat. Und dafür jetzt so eine Eile, wo doch im Ersten immer noch "Sturm der Liebe" läuft, Folge 1071, und der André gerade den Curd übers Ohr hauen will, und die Katja, also die Tochter vom Curd Der Sozialarbeiter sagt: "Nein, gehen Sie runter und packen Ihre Sachen. Sie werden sofort entlassen."

Es ist der Mittwoch der vergangenen Woche, 15.30 Uhr, in der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken, es ist der Moment, in dem sich bei Walter H. alles zusammenzieht, in dem er zu flennen beginnt wie ein Kind. Es ist der Moment, auf den er 22 Jahre gewartet hat und der nun ohne jede Ankündigung gekommen ist. Und es ist dieser Moment, in dem die Republik ein massives Problem mehr hat: Walter H., 61, auf freiem Fuß. Ein verurteilter Mörder, notorischer Gewalttäter, ein Mann, von dem die Gutachter sagen, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder ein schweres Verbrechen begehen wird. "Unerträglich" findet das Saarlands Innenminister Stephan Toscani. Auch ihm zieht sich alles zusammen.

Der erste von vielleicht 200 Hochrisiko-Häftlingen


der Bericht geht über 3 Seiten und versucht wohltuend, das Problem von allen Seiten her zu beleuchten, ohne in Polemik der einen oder anderen Art zu verfallen.

Was haltet ihr von der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, die ja die bisherige Praxis Deutschlands der lebenslangen Sicherheitsverwahrung als menschenrechtswidrig verurteilt hat? Und da - offenbar - diese Entscheidung zu massiven Konsequenzen führen wird, wie kann das Problem so gelöst werden, dass der Menschenrechtsfrage genauso Rechnung getragen wird wie dem Sicherheitsbedürfnis der BürgerInnen?

Lykurg
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Mi 26. Mai 2010, 16:29 - Beitrag #2

Eindrucksvoller und sehr zurückhaltender Artikel. In dieser Frage bin ich mehr als bestürzt über die Brüsseler Entscheidung - habe mich allerdings nicht genügend damit auseinandergesetzt, um die genaueren Beweggründe zu kennen. Falls es tatsächlich nur formaljuristisch um die Vermeidung einer poena sine lege ginge, wäre das eine Sache, aber der Eindruck, den ich hieraus gewann, das Menschenrecht auf einen Lebensabend in Freiheit, ist in meinen Augen erschreckend realitätsfern angesichts von Serientätern mit geringer Therapiefähigkeit und hoher Rückfallquote.

Die Folge weiterer Straftaten (und bei den 200 nun spontan entlassenen Tätern ist es einfach nur eine Frage der Zeit, bis mindestens einer von ihnen rückfällig wird) ist hier sehr direkt den Richtern zuzuweisen; vielleicht wäre es angemessen, ihnen auch die Verhandlung eben dieser zu erwartenden Fälle persönlich zu übertragen.

Schlimm ist natürlich auch die schlechte Umsetzung. Wenn man aufgrund einer 'überraschenden' Entscheidung überfordert damit ist und auch der Freigelassene so hilflos in eine Welt gesetzt wird, in der er kaum eine Chance hat, 'draußen' zu bleiben, wäre es doch allemal besser, zumindest ein paar Tage zu warten und eine Lösung zu organisieren, statt ihn vor die Tür zu setzen. Damit ist doch wirklich niemandem gedient.

Traitor
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Sa 29. Mai 2010, 13:55 - Beitrag #3

Insofern, wie ich das Thema als Laie zu überblicken vermag, geht es ja vor allem darum, dass die Sicherheitsverwahrung nach eigentlich begrenzter Freiheitsstrafe kein rechtsstaatliches Urteil, sondern Willkür ist. Dass das gegen Rechtsgrundsätze und Menschenrechte verstößt, sehe ich genauso.
Allerdings war mir schon immer schleierhaft, warum oft von vornherein auf eine begrenzte Haftstrafe "mit anschließender Sicherheitsverwahrung" gesetzt wird anstatt auf eine echte lebenslange Haftstrafe - meinetwegen mit späterer Freilassungschance, aber auf jeden Fall vom erstverurteilenden Gericht von vornherein auf potentiell lebenslange Laufzeit ausgelegt, sodass der Willkür-Einwand wegfällt.
Dafür wird es natürlich irgendwelche juristischen Gründe geben, aber der offenkundige Misstand und nun das europäische Urteil sollten hier dazu führen, die Grundlagen des Strafrechts gründlich zu überarbeiten und zu klaren Regelungen zu finden.

Ipsissimus
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Sa 29. Mai 2010, 14:56 - Beitrag #4

es gibt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, wonach jeder Straftäter unabhängig von der Schwere seiner Schuld die Chance erhalten muss, sein Leben in Freiheit beenden zu können. Wenn ein Gericht "lebenslänglich" urteilt und dieses Lebenslänglich auch tatsächlich "bis zum Tode" bedeuten würde, wäre das ein Verstoß gegen dieses Urteil des BVG. Sicherheitsverwahrung ist demgegenüber formal begrenzt; sobald die Gefahr nicht mehr gegeben ist, kann sie jederzeit aufgehoben werden; der "echte" Lebenslängliche hätte da nur noch die Möglichkeit eines Gnadenersuchs, und das scheint formal nicht zu genügen.

So oder so keine leichte Situation, dass vieles daran formales Gehacke ist, macht es nicht leichter, eine fundierte Meinung dazu zu entwickeln

Traitor
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Sa 29. Mai 2010, 15:07 - Beitrag #5

Daher auch "meinetwegen mit späterer Freilassungschance". Ein Gnadenersuch ist dafür keine sehr gute Implementierung, ja, denn es hängt wieder von Willkür und tatfremden Aspekten ab. Aber ein von vornherein fest eingeplantes Reevaluierungsverfahren alle 10, 25 oder wieviel auch immer Jahren sollte die Anforderungen des BVG erfüllen, ohne gegen die Kriterien des Europagerichtes zu verstoßen, denn es handelt sich dann ja um eine nachträgliche Strafminderung im positiven Beurteilungsfall, nicht um eine nachträgliche Verlängerung im negativen Fall.
Meines Wissens gibt es diese Praxis auch durchaus schon. Wann diese oder die kurze Strafe plus Sicherheitsverwahrung zum Einsatz kommen, und was die Kriterien zur Unterscheidung sind, müsste man recherchieren.

Ipsissimus
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Sa 29. Mai 2010, 16:06 - Beitrag #6

ich nehme an, dazu werden sich mittlerweile eine Menge Juristen ihren Kopf zerbrechen; wir werden sehen, welche Lösung sie finden werden. Im Urteil des Europäischen Gerichtshofes ging es ja - wie Lykurg schon herausstellte - nur um die Fälle, bei denen Verurteilte auf Basis einer poena sine lege sicherheitsverwahrt wurden, im Grunde ein rechtsphilosophisches Problem. Ob dies jetzt dazu führt, dass die gesamte Praxis der Sicherheitsverwahrung revidiert wird, bleibt abzuwarten; ich glaube aber eher nicht daran.

Maglor
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Mi 10. Nov 2010, 20:47 - Beitrag #7

Bei der Sicherungsverwahrung handelt es sich um ein durchaus interessantes Phänomen des deutschen Rechtes. Wie so viele zweifelhafte Merkwürdigkeiten des deutschen Rechtes, handelt es sich um das Werk der Nazis; sie wurde mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz im Deutschen Reiche eingeführt.

Bei nachträglicher Sicherungsverwahrung, der von europäischen Gerichtshof wegen des Menschenrechts verworfenen Praxis, wurden Straftäter, die bereits für ihre Tat rechtskräftig verurteilt waren, diese Strafe abgesessen haben, erneut für immer inhaftiert. Sie werden also für die gleiche Tat zweimal bestraft, was den üblichen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit widerspricht.

Aber halt, man vergisst natürlich den deutschen Widersinn!
Das widersinnige an ihr ist, dass sie praktisch den Verurteilten für immer hinter Schloß und Riegel bringen kann, aber keine Strafe ist. Die Sicherungsverwahrung ist keine Strafe im rechtlichen Sinne, sondern eine Maßregel der Besserung und Sicherung, genau wie die Unterstellung unter einem Bewährunghelfer oder der Führerscheinentzug. Tatsächlich ist es aber die Höchststrafe, da es ja Gefängnis für immer bedeutet.
Ein einmalig absurde Vorstellung: Lebenslange Haft soll keine Strafe!
Personen, die ihre Strafe verbüßt haben, also eigentlich freie Menschen sein sollten, denen mitunter jedoch schwerwiegende psychische Störungen zugeschriebenen wurden, werden in ganz normalen Gefängnissen festgehalten.
Noch absurder: Nachdem sie ihre Strafe im psychiartrischen Maßregelvollzug abgesessen haben, kommen sie als Freilassung in die richtigen Gefängnisse.

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschen werden in Deutschland nachträglich Sicherheitsverwahrte ohne gültige Rechtsgrundlage in Haft festgehalten, was die ursprüngliche Idee von 1933 noch übertölpelt.
Im Ziegenhainer Gefängnis sind nun mehr als als ein Dutzend Gefangene in den Hungerstreik getreten um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Sie fordern, dass ihre Unterbringungsbedingen dem Urteil des europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angepasst werden.
Der Gipfel: Einer dieser Bedrohungen der Menschheit, die dort im Gefängnis sitzt, obwohl er seine Haftstrafe verbüßt hat, ist mittlerweile 71 Jahre und sitzt im Rollstuhl.
Zeitungsartikel zum Hungerstreik in Ziegenhain

Die Forderungen der streikenden Gefangenen:
...
Rhetorik der Rechtspolitiker und Gefängnisdirektoren mit ihrer Augenwischerei vom "Abstand zur Strafhaft" ändern daran nichts! Sicherungsverwahrte bleiben auch in Hessen in einem Gefängnis weggesperrt, fast der gesamte Katalog des Gesetzes über den Vollzug von STRAFE findet Anwendung auf sie - nicht etwa ein Maßregelvollzugsgesetz. Es wäre das gleiche, würde man die Straßenverkehrsordnung über das Lebensmittelrecht regeln. Allein durch das Tragen eigener Kleidung , einem Backofen auf der Station , ein geringfügig erhöhtes Taschengeld , eine zusätzliche Hofstunde und Bambi - Bildern auf den Flurwänden bekommt diese Form von Einsperrung noch lange keinen anderen Charakter.

Es gilt, immer wieder zu vergegenwärtigen: Wir haben unsere STRAFEN verbüßt! Hier werden wir weiterhin eingeknastet, vorgeblich um zu verhindern, dass wir in Zukunft eventuell Leben , Gesundheit oder Eigentum Anderer gefährden KÖNNTEN. Und das auf der Basis von gutachterlichen Gefährlichkeitsprognosen, von denen neueste Studien ( u.a. von Kinzig, Feltes und Alex) davon ausgehen, dass sie in ihrer Aussage zu 80 - 90% fälschlich noch vorhandene Gefährlichkeit annehmen.

Natürlich gibt es auch die Wenigen, bei denen aufgrund ihrer Taten jeder Mensch mit klarem Verstand und auch libertärer Gesinnung sagen muss: das kann eine Gesellschaft einfach nicht tragen; hier ist dringend Behandlung nötig. Aber eine adäquate Therapie für die Menschen, die aufgrund gewisser Dispositionen in ihrer Persönlichkeitsstruktur unbestritten derartige Hilfe benötigen, wird innerhalb des Vollzuges der SV nicht ansatzweise angeboten. Sie werden auf das Gefängnis verwiesen - denn auch die sozialtherapeutischen Anstalten sind integraler Bestandteil des Vollzuges von STRAFhaft.
...

Ipsissimus
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Do 11. Nov 2010, 12:17 - Beitrag #8

die Frage bliebe, was denn eine gangbare Alternative zur Sicherheitsverwahrung darstellen könnte. Diese Leute werden so oder so endgelagert, es wäre eine Illusion, anzunehmen, die Gesellschaft würde sie frei herumlaufen lassen. Es ist aber eben auch wahr, dass sie ihren Strafen verbüßt haben, und es im Grunde keine echte rechtliche Handhabe dafür gibt, sie weiter wegzuschließen. Lebenslänglich als lebenslänglich zu handhaben, wäre eine Möglichkeit, aber wie immer bin ich auf der Seite derer, die bei Verschärfungen der Gesetzeslage Bauchweh bekommen.

e-noon
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Do 11. Nov 2010, 13:25 - Beitrag #9

Da ich kein Bauchgrimmen bekomme, wenn es um Gesetzesverschaerfungen fuer Gewaltverbrechen geht, waere ich fuer eine Verlaengerung der tatsaechlichen Strafe. 30 Jahre empfinde ich persoenlich als Minimum fuer jemanden, der einem anderen Menschen das Leben genommen hat. Egal, wie sehr er es bereut, er wird sein Opfer niemals wieder lebendig machen koennen, wird den Schmerz der Angehoerigen niemals lindern. Das mindeste ist, dass der Staat alles menschenmoegliche tut, damit von dem Moerder (oder Vergewaltiger, Kinderschaender...) keine Gefahr mehr ausgeht. Ich wuesste leider nicht, wie man das anders regeln koennte als mit einer starken Begrenzung der Bewegungsfreiheit.
Im Gegenzug sollte man aber dann die Zustaende in den Gefaengnissen verbessern.

Ipsissimus
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Do 11. Nov 2010, 13:41 - Beitrag #10

ja, e-noon, wenn denn diese drastischen Strafen erreichen würden, was sie erreichen sollen. Was das Strafmaß angeht, müssten die USA eigentlich zu den sichersten Ländern der Erde gehören. Tun sie aber trotz ihrer drakonischen Strafmaße nicht. Strafe ist nicht die Lösung für Devianz.

Lykurg
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Do 11. Nov 2010, 13:53 - Beitrag #11

Bei erfolgter Verurteilung zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe sehe ich kein ethisches Problem darin, diese auch bis zum Lebensende gültig zu lassen, sofern beim Verurteilten eine erhebliche Rückfallgefahr besteht. Warum ein 'Recht auf einen Lebensabend in Freiheit' eine verbindliche Norm sein sollte, weiß ich nicht. Auch wenn ein Mensch mit einer tödlichen Krankheit oder im hohen Alter einen Mord begeht, ist er deswegen nicht schuldunfähig, höchstens nicht verhandlungsfähig.

Die Festschreibung, daß die Straftat nicht geringfügig sein darf, ist ja in den Gesetzen zum Maßregelvollzug schon enthalten. In manchen Fällen wäre für mich eine tatsächliche erfolgte Fortsetzung der Straftatenserie nach bereits verbüßter Strafe Anlaß für Sicherungsverwahrung, wenn die Prognose weiterhin schlecht ist.

Ipsissimus
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Do 11. Nov 2010, 14:47 - Beitrag #12

tja, das ist offensichtlich wieder so eine Weltanschungsfrage^^ oder ist es ein Generationenkonflikt? Ich nehme jedenfalls mit Verwunderung zur Kenntnis, wie viele im Verhältnis zu mir junge Menschen mit dem schrittweisen Wegbrechen humanistischer Grundsätze im Staatswesen keine oder kaum Probleme zu haben scheinen

e-noon
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Do 11. Nov 2010, 14:49 - Beitrag #13

Ipsi: Dass Strafe allein nicht ausreicht, zukuenftige Verbrechen zu verhindern, ist klar. Unzaehlige andere Faktoren spielen eine Rolle. Daraus kann man aber nicht ableiten, dass das Strafmass keine Rolle spielt; oder denkst du, es gibt ein goettliches Gleichgewicht, nach dem ein verhinderter Wiederholungstaeter einen Spontanmord ausloest? Wohl kaum; insofern bedeutet jeder Mensch, der dank seiner Sicherheitsverwahrung NICHT zum Wiederholungstaeter wurde, auch wenn er es sonst geworden waere, ein gerettetes Menschenleben.

Edit: Humanistische Grundsaetze sind keine Naturgesetze. Was mehr oder weniger human ist, wird sich schwer mit Sicherheit sagen lassen. Ich finde es inhuman, Kinder der Gefahr durch einen freilaufenden Triebtaeter auszusetzen, wenn ich dies mit dem Einsperren selbigen Triebtaeters vermeiden kann. Du hingegen siedelst das Recht des Taeters auf einen Lebensabend in Freiheit hoeher an. Eines ist so willkuerlich wie das andere und ich empfinde gegenueber deiner Einstellung sicher nicht anders als du gegenueber meiner Einstellung.

Maglor
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Do 11. Nov 2010, 20:58 - Beitrag #14

Zur den lebenslangen Freiheitsstrafen ist anzumerken, dass sie eigentlich lebenslang, also bis zum Tod sind. Eine Begnadigung nach 15 Jahre kann bei besonderer Schwere der Tat(en) ausbleiben, sprich eine lebenslange Haft ohne Gnade ist praktisch möglich und kommt gelegentlich vor.

Die Sicherheitsverwahrung muss aktuell nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe in Verbindung stehen.
z. B. nach § 66 II StGB
[INDENT]2) Hat jemand drei vorsätzliche Straftaten begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen.[/INDENT]


Ein unangenehmes Beispiel:

"Er ist seit 1994 in Haft, seit 1998 befindet er sich in Sicherungsverwahrung ohne Aussichten auf Vollzugslockerung. Eine Therapie wurde gegen seinen Willen abgebrochen.
[INDENT]Anlasstaten waren vier Wohnungseinbruchsdiebstähle, die er begangen hat, um damit vorrangig seine Heroinabhängigkeit zu finanzieren - Tatbeute waren mehrere geringwertige Kleidungsstücke, ein Windspiel, eine Schmuckschatulle mit Schmuckstücken im Wert von ca. 1.​100€, eine geringe Menge Rum sowie eine Handtasche, in welcher sich ca. 25€ sowie zwei reparaturbedürftige Uhren im Wert von ca. 75€-175€ befanden. Insgesamt also nicht mehr als 1.​500€. (RA S. Scharmer)
[/INDENT]
"

Es handelt sich nicht nur Kinderschänder, Lustmörder usw... sondern um eben Wiederholungstäter, im ursprünglichen NS-Jargon "Gewohnheitsverbrecher".

Zitat: DasDossier.de
Eine verbreitete Fehlannahme bezüglich der Verwahrten betrifft die Taten, aufgrund derer sie verurteilt und anschließend sicherungsverwahrt werden. Zwar ist im Vergleich zum “normalen” geschlossenen Strafvollzug der Anteil von Gewalt- und Sexualstraftätern um einiges höher, doch ist eine solche Tat längst nicht notwendige Voraussetzung, um in Sicherungsverwahrung untergebracht zu werden. Im Jahr 2006 wurden 24,7% der Sicherungsverwahrungen aufgrund von Raub sowie 17,3% aufgrund von Betrugs- und Diebstahlsdelikten als Anlasstaten (die Taten, die zur Unterbringung in Sicherungsverwahrung führten) angeordnet. Insgesamt gehen ca. 2/3 der angeordneten Sicherungsverwahrungen auf Gewalt- und Sexualstraftaten und immerhin 1/3 auf Vermögensdelikte (inklusive Raub) zurück.

Zu den Gewaltverbrechern gehört auch Raub.

Diese meisten Wiederholungstäter sind drogenabhängig, die bekannte Beschaffungskriminalität oder Taten unter Einfluss von illegalen oder legalen Drogen.
Ist Sucht nun behandelbar oder nicht?
Die Sicherheitsverwahrung ist eben keine psychiatrische Betreuung.
DIe bloße Verwahrung in Haft ist das eigentliche Problem, vor dem Deutschland jetzt steht. Jene, die nach Urteil des europäischens Gerichtshofes für Menschenrechte auf freien Fuß gesetzt werden sollen, wurde, anders als jene, die einer Strafe absitzen, in keinster Weise auf eine Freilassung vorbereitet.

Zitat von Ipsissimus:tja, das ist offensichtlich wieder so eine Weltanschungsfrage^^ oder ist es ein Generationenkonflikt? Ich nehme jedenfalls mit Verwunderung zur Kenntnis, wie viele im Verhältnis zu mir junge Menschen mit dem schrittweisen Wegbrechen humanistischer Grundsätze im Staatswesen keine oder kaum Probleme zu haben scheinen

Ich glaube nicht, dass es sich um einen Generationenkonflikt handelt, sondern um eine allgemeine Tendenz, einer Gesellschaft, deren öffentliche Wahrehmung auf gefährliche Weise von Medien geleitet wird, den jedes Mittel der Aufmerksamkeit recht ist, die sich darin überbieten, die gefährlichsten, dümmsten, dreistesten usw. Menschen Deutschlands vorzuführen.
So entstand dank der Aufbuschung durch Exclusiv, Explosiv, Blitz... der Eindruck es gebe eine dunkle, auch noch zunehmende Bedrohung durch die Persversen, doch dieser Eindruck steht in keinem Verhältnis zur Wirklicheit. Schaut man sich die spektakulärsten Serienmorde aus der der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, so wird man feststellen, dass sie aktuelle Vorzeige-Mörder in Qualität und Quantität noch übertrefen.
Aber eigentlich es in solchen Kampagnen nicht um Zahlen, Entwicklungen oder gar Gedanken, sondern um Gefühle, Ängste oder auch Hass und Ekel. Aus dem gleichen Grund glaubten sie auch an die Schweinegrippe.
Aber eigentlich wäre das schon die Grundsatzdebatte über Debatten in denen es nicht mehr um Grundsätze geht.

Lykurg
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Do 11. Nov 2010, 23:36 - Beitrag #15

Ich wollte nicht andeuten, daß die Kriminalität zunähme. Nach dem Straßburger Urteil wurden in einigen Bundesländern Häftlinge in einer Weise auf freien Fuß gesetzt, die ihnen, der Sache und der Öffentlichkeit nicht förderlich war - unvorbereitet, ohne Resozialisierungsplan, da an derartiges vorher nicht gedacht wurde, standen sie vor der Gefängnistür und mußten sich an ein Leben im Draußen gewöhnen. Der erste Artikel geht ja in diese Richtung.

Daß es auch ein anderes Extrem gibt, eine zu früh greifende Sicherheitsverwahrung, kann durchaus sein und muß abgestellt werden. Zumindest bei den nachträglich verhängten Sicherheitsverwahrungen hat der Bundesgerichtshof ja in seinem heutigen Urteil klargestellt, daß dies eben nur bei schwersten Verbrechen, Mord und sexueller Nötigung, unter gründlicher Prüfung erfolgen soll.

Das 'unangenehme Beispiel' finde ich heftig, genau aus dem Grund würde ich ja auch bei 'unheilbaren' (?) Serienstraftätern (auch diese Diagnose wäre selbstverständlich nicht endgültig, sondern müßte weiter geprüft werden; was als krankhaft erachtet wird, gehört therapiert, nicht bestraft) dafür, eine Sicherheitsverwahrung bei 'mittleren' Delikten erst frühestens bei einer zweiten Verurteilung im selben Tatbereich (bei negativer Prognose) anzuordnen.

e-noon
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Do 11. Nov 2010, 23:48 - Beitrag #16

Dass unter Gewaltstraftaten auch Raub gezählt wird, wusste ich nicht. Ich dachte, es geht wirklich um Menschen, die anderen Menschen schwere bleibende Schäden und Schmerz zugefügt haben. Für Leute, bei denen "nur" die Gefahr besteht, dass sie nach der Freilassung weiter Drogen nehmen oder meinetwegen weiter Klauen, halte ich Sicherheitsverwahrung auch für unangemessen. In diesen Fällen wäre eine Therapie doch für alle Beteiligten sinnvoller.

Ich wollte auch nicht andeuten, dass die Kriminalität zunehme (ob sie zu- oder abnimmt oder gleichbleibt, weiß ich nicht). Ich wollte andeuten, dass die Kriminalität zunähme, wenn man Leute, die immer noch ein hohes Gefährdungspotential aufweisen, freiließe.

Padreic
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Fr 12. Nov 2010, 00:16 - Beitrag #17

Die Frage ist nur, was tun, wenn die Therapie nicht hilft?

e-noon
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Fr 12. Nov 2010, 00:20 - Beitrag #18

Freilassen, ganz klar. Sagte ich ja schon. Solange keine Menschenleben oder -psychen in Gefahr sind, gibt es aus meiner Sicht nicht den geringsten Grund, Menschen länger zu verwahren, als ihre Strafe das vorsieht.

Ipsissimus
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Fr 12. Nov 2010, 13:52 - Beitrag #19

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,728182,00.html

ganz interessanter Erfahrungsbericht, wie es den Freigelassenen so ergeht, und vor welche Probleme sie die Polizei stellen.

Auch hier wird nochmal bestätigt, dass ein erheblicher Teil der Sicherheitsverwahrten gar keine im eigentlichen Sinne gefährlichen Menschen sind:

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung traf den Zeitgeist. Eine Untersuchung der Universität Bochum aus dem Jahr 2008 zeigte, dass die Gerichte sie mittlerweile fast maßlos angeordnet hatten: Seit 1990 stieg die Zahl der derart Inhaftierten um 140 Prozent. Jeder dritte Sicherungsverwahrte sitzt wegen Betrug, Raub oder Diebstahl, nur 50 Prozent sind Sexualstraftäter.

e-noon
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Fr 12. Nov 2010, 14:46 - Beitrag #20

Naja, so harmlos finde ich das nicht. 33% wegen Raub und Diebstahl; ganze 50% Sexualstraftäter; der Rest sind dann wohl Mörder oder Totschläger oder versuchte selbige? Mir wäre somit deutlich wohler, wenn nur die 33% freigelassen würden, jedenfalls nur die, die keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen... aber ich wiederhole mich.

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