Stuttgart 21

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Fr 1. Okt 2010, 11:47 - Beitrag #1

Stuttgart 21

na, wie seht ihr das? Echte bürgerliche außerparlamentarische Opposition, getragen von der Mittelschicht, das ist doch mal was Neues^^ ob sie sich halten wird, wenn es anfängt, wirklich weh zu tun, muss sich natürlich noch zeigen. Der Sache als solcher stehe ich im Grunde gleichgültig gegenüber; ob da der alte Bahnhof und Park bleibt oder der neue Bahnhof mit neuen Anlagen kommt, ist mir Jacke wie Hose. Aber es ist natürlich ein wundervolles Anschauungsobjekt zum Thema "Der Staat gegen seine Bürger".

Man darf gespannt sein, wie sich die Argumentationslinien der Politik entwickeln werden (heute morgen sagte ja schon eine Sprecherin der Landesregierung im Deutschlandfunk, die Regierung sei auch bereit, in die Oppsoition zu gehen, wenn nur das Projekt durchgeführt wird); und die Polizei, die ja den Guten zugerechnet sein will, zumindest in der medialen Aufbereitung, muss sich ein bisschen was in Sachen PR einfallen lassen, denn dass sie, wie ein Polizeisprecher sagte, "auch mal hinlangen können" wenn sich Bürger "rechtsbrechend" verhalten, das kommt überhaupt gar nicht gut im Sinne eines deeskalierenden Verhaltens^^

Und auch, dass Frau Merkel bei der Gelegenheit gleich mal wieder das Gewaltmonopol des Staates thematisiert, dürfte ein spannend zu verfolgender Aspekt werden^^

kennt man eigentlich die Namen der verantwortlichen Lobbyisten?

Lykurg
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Fr 1. Okt 2010, 13:17 - Beitrag #2

Kompliziert mal wieder. Die Art, in der die Demonstration geräumt wurde, ist nach allem, was man hörte und sah, unsäglich und grauslich. Und auch sonst scheint ein eklatanter Mangel an Gesprächsbereitschaft zu bestehen, insgesamt also ein kommunikatives Desaster. Allerdings hat auch Cem Özdemir im Interview heute morgen nicht verneint, daß die Entscheidung der Landesregierung verbindlich ist - wie falsch er sie auch findet. Unter solchem Druck werden die Bürger mit Demonstrationen und Blockaden den Bau nicht verhindern können, nur verteuern. Und das ist mit den längst gekannten Castorprotesten vergleichbar, auch wenn hier der Anteil tatsächlich mittelständischer und älterer Teilnehmer deutlich höher sein mag (schon rein mobilitätsbedingt letzteres wenig verwunderlich). Auch in Hamburg finden ja derzeit wieder Demonstrationen mit betont bürgerlicher Klientel statt (für den Erhalt eines Theaters und eines Museums, die, beide über hundert Jahre alt und eigentlich von überregionaler Bedeutung, nun aus vermeintlichen Sparzwängen stark reduziert bzw. geschlossen werden sollen).

Die Namen der Verantwortlichen würde ich bei anderen kostenintensiven Bauprojekten auch zu gern mal wissen - so ein paar hunderttausend als Taschengeld sollten denen ja überhaupt nichts ausmachen bei den Summen, die hier verschoben werden.
Ob in der Sache die Baumaßnahme wirklich sinnvoll und vor allem ihren Preis wert ist (angesichts der Verletzten und des gestörten sozialen Friedens ließe sich das wohl schon jetzt verneinen), kann ich nicht beurteilen, finde aber immerhin bezeichnend, daß in einer zehnjährigen Planungsphase, die durchaus auch ein Medienecho fand, echter Widerstand erst aufkommt, als die Bagger anrücken - und daher gleich physisch werden muß, wenn auch nicht gewaltsam. Fraglich, ob in einer anderen Kassen- und Stimmungslage vor zwei Jahren ähnliche Proteste aufgekommen wären.

Ipsissimus
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Fr 1. Okt 2010, 14:48 - Beitrag #3

der alte Park liegt wohl vielen am Herzen, und es ist ja nicht gerade so, als würde in der Vorbereitungsphase derartiger Projekte mit den Details hausieren gegangen - greifbar wird sowas immer erst in der Durchführungsphase.

Die Frage, ob unter anderen Bedingungen andere Reaktionen aufgetreten wären, lässt sich natürlich immer stellen, aber so gut wie nie beantworten - und vor allem sind die tatsächlichen Reaktionen auf tatsächliche Bedingungen nicht dadurch schon hinterfragt oder auch nur fraglich, weil es unter anderen Umständen anders wäre^^

Ganz allgemein stellt sich anhand derartiger Szenarien wie Stuttgart 21 die grundsätzliche Frage des Machtverhältnisses zwischen Staat und Bürgern. Sind Politiker legitimiert, in den vier Jahren, für die sie gewählt sind, auch gegen den Willen der Bürger Entscheidungen durchzusetzen? Warum sollte die "Freiheit der Gewissensentscheidung" eines Politikers so hoch aufgehängt werden, wenn andererseits der Einfluss von Partei- und Fraktionszwang sowie der Lobbyismus alltägliche und übermächtige Wirklichkeit ist? Warum dann nicht auch der Einfluss von Protestbewegungen?

Lykurg
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Fr 1. Okt 2010, 15:14 - Beitrag #4

Nun, für die Einschränkung der Freiheit seiner Gewissensentscheidung sind Gerichte zuständig, die auch diesen Fall geprüft haben. Sicher kann man den Gerichtsentscheid, der das Bürgerbegehren als unzulässig erklärte, kritisieren (ich kenne die Details nicht, traue mir daher kein Urteil zu). Es kann und darf aber nicht so sein, daß sich derjenige durchsetzt, der am lautesten protestiert bzw. dessen Blockaderäumung das größte Medienecho erreicht. Das hebelt das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaftsordnung wirkungsvoll aus.

Wikipedia listet zu Stuttgart 21 eine ganze Reihe von Zeitungsartikeln seit 1995 auf, es gibt mindestens eine Machbarkeitsstudie und diverse weitere Einzelpublikationen. Sicher ist das Problem drängender, wenn der Bagger schon auf der Straße steht, aber wenn der Bürger immer erst dann reagiert und nur so kurzfristig denkt, zeigt sich daraus ganz klar, warum wir die repräsentative Demokratie brauchen.

Ipsissimus
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Fr 1. Okt 2010, 16:01 - Beitrag #5

na ja, Machbarkeitsstudien sind keine Wünschenswertheitsstudien; machbar ist vieles, aber ist es auch wünschenswert? Und wenn ja, für wen, und zu wessen Gunsten? Und waren die Bewertungskriterien offengelegt und allgemeiner Konsens? Und darüber hinaus: Machbarkeitsstudien gibt es wie Sand am Meer, längst nicht alle werden dann auch gemacht.

Es kann und darf aber nicht so sein, daß sich derjenige durchsetzt, der am lautesten protestiert bzw. dessen Blockaderäumung das größte Medienecho erreicht. Das hebelt das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaftsordnung wirkungsvoll aus.
Das ist vermutlich ein Axiom deiner Weltanschauung? Ich würde dagegen halten, dass es bei einem Protest nicht darum geht, wer am lautesten protestiert, sondern darum, überhaupt gehört zu werden. Es wird wohl vielen Stuttgartern ein bisschen wie mir auch ergangen sein, dass sie trotz der langen Vorlaufzeit zuletzt doch von der Entwicklung überrumpelt wurden. Es war nicht gerade so, dass die Vorbereitung von Stuttgart 21 im Fokus öffentlicher Berichterstattung gelegen hätte.

Ich bezweifele immer mehr, dass wir mit einer repräsentativen Demokratie zukunftsfähig bleiben; wir brauchen eine mit einer Verfassung unterfütterte Räterepublik. Aber das ist nur "Meinung"^^

Lykurg
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Fr 1. Okt 2010, 16:32 - Beitrag #6

... in der dann derjenige Recht bekommt, der am lautesten protestiert (etc.)? ;)

Ja, natürlich ist Öffentlichkeitswirkung ein wichtiges Kriterium jeder Art von meinungsbildender Maßnahme. Möglicherweise hat auch die entsprechende Pressekonferenz 1995 die Öffentlichkeit nicht in dem Maße angesprochen, wie es eigentlich wünschenswert gewesen wäre (wer liest auch was über Stadtplanung, verglichen mit einer Meldung über eine Massenschlägerei?) Mit meinem Hinweis auf vorhandene Publikationen wollte ich ja nur darauf hinweisen, daß eben diese Überrumpelung nicht oder zumindest ursprünglich nicht in der Absicht der Entscheidungsträger lag, die durchaus eine Öffentlichkeit jedenfalls in groben Zügen zu informieren versuchten.

Aber um noch einmal auf das 'Axiom meiner Weltanschauung' zurückzukommen - in der Tat triffst du damit einen Punkt, ich neige dazu, lautstark vorgetragene Forderungen mit größerer Wahrscheinlichkeit als unberechtigt zu empfinden. Möglicherweise könnte man eine Analogie zur Unfallrettung ziehen, wo bewußtlose oder bereits zu stark geschwächte Opfer vorrangig zu behandeln sind. Ich habe zudem eine tiefverwurzelte Abneigung gegen Megaphone (unabhängig davon, wer sie einsetzt). Auf die Lärmintensität und das permanente Blinken unserer Zeit reagiere ich mit dem Wunsch, meine Anliegen anders zu regeln, mündlich oder schriftlich, sei es über Gerichte, über die Medien, mit parlamentarischen oder basisdemokratischen Methoden. Auch eine Demonstration kann ein Weg sein, ganz vereinzelt habe ich auch schon an derartigem teilgenommen. Allerdings ist deren ureigener Impetus, das geballte Drohpotential der Plebs, die dem Konsul seine Absetzung in Aussicht stellt, wenn er nicht umgehends nach ihrem Willen verfährt, allenfalls eine Notfallmaßnahme und kein Allheilmittel. Auf den Machthöhepunkt der Volkstribunen und ihre Ermordung folgten der Bürgerkrieg und das Prinzipiat.

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Fr 1. Okt 2010, 17:22 - Beitrag #7

Weit weg von Stuttgart mutet das ganze schon seltsam an.
Fernab der Frage, ob man Baumbesetzer naßmachen darf oder Flaschen werfende Demonstranten mit Tränengas bewerfen kann, finde ich die Frage interessanter, wie eben der Skandal und die Bewegung entstand, daher finde ich Lykurg Verweis auf die unspektakuläre Bekanntmachung des Planes 1995 hoch interessant.

Millionengräbern aus Prestigegründen gibt es wie Sand am Meer, sind sie doch das Zeichen unseres Wohlstandes oder besser unserer Kreditwürdigkeit. Warum wird nun ausgerechnet Stuttgart 21 zum Zielobjekt einer Protest-Bewegung?
Naja, Mensch braucht halt ein Hobby...
Sehe da eher einen lokalen Trend und eine Protestkultur ausschlaggebend, als das relativ harmlose Bauvorhaben, ist ja kein Bombodrom, atomares Endlager, Gen-Versuchsfeld oder gar eine Großraummoschee.
Jeder Krieger des Lichts braucht eines dunklen Feind, egal wohin die Taschenlampe zeigt, irgendwo findet man Schatten oder hat wenigstens einen. :crazy:

Lykurg
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So 3. Okt 2010, 11:39 - Beitrag #8

'Mensch braucht halt ein Hobby' ist auch ein schöner Kommentar dazu. Irgendwie fand ich die gestrigen Radionachrichten schon verwunderlich - da wurde zunächst von den "Einheitsgegnern" in Bremen berichtet (wobei ich mich da nach zwanzig Jahren schon irgendwie frage, was die Jugendlichen unter denen denn überhaupt sagen wollen^^), dann ging es um Wilders und die "Islamgegner", von Stuttgart21-Gegnern wurde in der nachfolgenden Nachricht gar nicht explizit gesprochen, aber darum ging es natürlich auch, und nachher um Gorleben. Gentechnik war gestern grade nicht dran, und die Googlegegner sind schon fast vergessen, aber klar, die Schattenjagd geht munter weiter.

Milena
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So 3. Okt 2010, 12:16 - Beitrag #9

...jeder von euch hat irgendwie recht, nur mit dem ´mensch braucht halt ein hobby´werde ich nicht so richtig warm^^...
ich glaube nicht, dass man auf eine demo gehend, lauthals protestiert, dies als ein langjähriges hobby bezeichnen könnte, bzw. doch, aber dann
steckt sehr viel frust dahinter ^^ und ein hobby betreibt man doch aus spass und nicht aus frust auf irgendwen oder irgendwas oder nicht?^^Bild

nichtsdestotrotz muss ich als faststuttgarterin sagen, dass ich vor jahren oder auch nur kurz davor nichts dergleichen mitbekommen habe in den medien oder sonstwo irgendetwas von dieser immensen planung bzw umbauten in stuttgart...
aber natürlich wurde bestimmt irgendwann mal etwas erwähnt...^^
genauso wird jetzt irgendetwas ausgestrahlt, bzw vorgegeben was in etlichen jahren ansteht und ein paar leutchen munken auf oder lassen es sich durch ihr köpfchen flattern und gut is.....
natürlich, wenn die bagger anfahren wird auch dem letzten menschen oder stuttgarter klar, was eigentlich abgeht...
und ich finde es nur klasse, dass sich die menschen wehren, egal gegen was auch immer, wenn über ihre köpfe hinweg wieder einmal etwas
entschieden wird,
sei es gegen eine unnötige milliardenausgabe, gegen die staatsmacht die ihre macht mit aller harnäckigkeit versucht wieder einmal unsereins drüberzustülpen, gegen die lächerliche staatspolitik, die sich mit 5euro mehr wiedereinmal der lächerlichkeit preisgegeben hat
und überhaupt..
und ich finde es sowas von klasse, dass sich der mensch gegen die gesamte scheisse hierzulande wehrt,
und stuttgart ist erst der anfang....
gerade gestern lief wieder einmal die doku im tv: RAFBild....
was für ein zufall, bzw. was für ein schönes hobby, der mensch doch in sich trägt....Bild

blobbfish
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So 3. Okt 2010, 17:10 - Beitrag #10

Zu dem Bahnhof selbst habe ich keine richtige Meinung, denn einerseits bietet er durchaus Vorteile, auf der anderen Seite natürlich horrende Kosten und auch wenigstens während der Bauzeit einen Eingriff in historische Teile der Stadt. Ob es jetzt ein Durchgangsbahnhof sein muss, ist eben auch fraglich, Frankfurt aber auch Leipzig können gut mit ihren Kopfbahnhöfen leben, selbst in Kassel hätte man den alten Bahnhof ausbauen können. Der wesentliche Vorteil des Durchgangsbahnhof ist aber meiner Meinung nach leidlich obsolet, denn umkuppeln der Lok ist nicht mehr nötig und die Zeitersparnis ist eher gering, da könnte man durch eine konsequente Durchsetzung von Neigezüge wesentlich mehr herausholen.

Was jetzt den Protest betrifft, so halte ich es eher mit Lykurg, aber auf der anderen Seite sind offizielle Wege bisher gescheitert. Was das involvieren der Bevölkerung betrifft, so gehören da meistens drei dazu, nämlich die Verantwortlichen, in diesem Falle Bahn & Politik, die Medien als Übermittler und Vermittler, sowie eben die Betroffenen, also die Bürger. Wenn nun um den Bahnhof keinen Wirbel gemacht wird, so ist der schwarze Peter ganz klar bei dem Bürger: Er muss sich selbst bemühen, Informationen einholen und so fort; Und wen ich mit 'dem Bürger' meine, das ist jeweils ein Individuum, das also seine Kapazitäten aufwenden muss, dass nicht gegen ihn gehandelt wird. Ich zähle mich allerdings auch nicht zu denen, die das tun, ich habe dazu nämlich keine Lust und ich sehe es im Grunde auch nicht ein. Nach dieser Argumentation liegt der schwarze Peter bei den Medien, und ich habe auch nicht so viel Muße ihn da wegzudiskutieren, womit ich natürlich auch nicht die Verantwortlichen aus der Kritik nehmen will, die sich wohl garnicht die Mühe machen, den Bürger über dieses Projekt zu informieren und ihm Einsprüche zu legitimieren.
Von dem her kann ich den lautstarken Protest durchaus verstehen, und auch die Argumentation einer Überrumpelung. Rein methodisch muss aber, was schreien eben auch attraktiv macht, die Sache bekannt sein. Die Frage ist also, wie man schreit.

Natürlich ist jetzt der Eklat da, die Beschlüsse sind durch und der Bürger hätte ja seit fünfzehn Jahren schon demonstrieren können. Obendrein ist die Entscheidungsmacht durch eine parlamentarische Ordnung bei den Parlamenten, und da hätte man ja durch Wahlen... . Und da komme ich schon zu dem glorreichen Vorschlag, die nächste Landtagswahl an das Projekt S21 zu koppeln, eine der dämlichsten Ideen, aber immerhin sehr raffiniert. Denn entweder entscheidet man sich für eine Partei die man eigentlich nicht will, oder man entscheidet sich für einen Bahnhof den man nicht will.

Padreic
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So 3. Okt 2010, 21:08 - Beitrag #11

Wenn ich es recht verstehe, demonstrieren sie ja schon seit Monaten und ein Bürgerbegehren gab's auch schon.

Ich kann Lykurg nur so halb rechtgeben. Es gibt Dinge, da weiß man man, wenn man sie entscheidet schon, dass sie unpopulär sind und es Proteste geben wird. Z. B. wenn man den Kündigungsschutz reduziert oder dergleichen oder wenn man irgendwo ein Endlager einrichtet. Trotzdem kann man meinen, dass es gute Gründe dafür gibt, die die Leute nun einmal nicht sehen. Beim Kündigungsschutz z. B. dass man dadurch mehr Einstellungen erhofft oder beim Endlager, dass man irgendwohin das Zeug halt tun muss [ich will über beide Sachen hier keine Diskussion anzetteln]. Ein Bahnhofsprojekt ist da irgendwie ein bisschen anders. Dass es ein paar Proteste wegen der Bäume und so gibt - ok, dass war zu erwarten. Dass es aber eine so breite Protestbewegung gibt, das ist schon überraschend. Und da sollte man als Politiker wirklich hellhörig werden. Das Projekt ist weder subtil noch notwendig. Wenn die Leute so stark dagegen sind (und wenn meine Erinnerung trügt, zeigen das auch Umfragen und nicht nur die Bilder von der Straße), kann man so ein Projekt auch kippen. Gerade im Zeitalter des Sparens....

Marc Effendi
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Mo 4. Okt 2010, 07:42 - Beitrag #12

Als Quasi-Stuttgarter (wohne 30 Kilometer weg) misch ich mich jetzt auch mal ein.

Als Zeitungsleser kann man S21 schon seit fast 20 Jahren "bewundern". Mal mehr, mal weniger intensiv. Wurde alles auf kleiner Flamme gekocht und man hat schon fast nicht mehr hingehört, wenn der Name Stuttgart 21 gewfallen ist. Man könnte das fast auch als Einschläferungstaktik bezeichnen. Erst jetzt, wenn die Bagger anrücken, wirds akut. Und jetzt wacht man auf und stellt fest, das man das gar nicht gut findet. was da passiert.

Von seiten der Politik bekommen wir jetzt immer wieder zu hören, das S21 demokratisch legitimiert ist. Das stimmt auch. Aber was passiert, wenn sich das Zahlenwerk ändert? S21 wurde mit Kosten von 2,1 Mrd.Euronen beschlossen. Mittlerweile liegt man bei 4,1 Mrd. Manche Gutachter gehen von 12-13 Mrd. aus. S21 macht wohl nur dann einen Sinn, wenn gleichzeitig, die Ausbaustrecke Ulm-Wendlingen gebaut wird. Diese liegt offiziell jetzt bei 2,9 Mrd. EUR. Die obigen Gutachter rechnen mit 6-7 Mrd, so das man durchaus bei 20 Mrd. liegen könnte.

Das sind Zahlen, die erst jetzt auf den Tisch kommen und so regt sich der Zorn der Bürger.

Dazu kommt noch, das der Stuttgarter OB Schuster vor den Stadtratswahlen einen Volksentscheid versprochen hat und davon jetzt nichts mehr wissen will.

Wenn man das mitverfolgt, bekommt man den Eindruck, das die Politik das Projekt mit aller Gewalt durchdrücken möchte, etwa wenn Mappus ein Gespräch mit den Demonstranten anbietet, aber gleichzeitig klar macht, das am Ausgang der Gespräche nur ein Ergebnis stehen kann.

Man stellt sich unwillkürlich die Frage, warum so viele Menschen in leitenden Positionen einen solchen betonköpfigen Starrsinn an den Tag legen? Gekränkte Eitelkeit? Schmiergelder? Mafiöse Strukturen?

Lykurg
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Mo 4. Okt 2010, 08:53 - Beitrag #13

Das mit dem Bürgerbegehren macht mir auch erhebliche Bauchschmerzen. Wie auch immer man so etwas als ungültig erachten kann - spätestens danach wäre zumindest ein runder Tisch erforderlich gewesen, und ich habe auch nicht den Eindruck, daß die Regierung sensibel genug in Vermittlung und Dialog mit der Bevölkerung aufgetreten wäre.

Zu den Kosten hörte ich allerdings, daß ein schmerzhaft hoher Anteil (mehrere Mrd.) ohnehin fällig wäre, aufgrund vertragsmäßiger Vereinbarungen, die auch gelten würden, wenn man das Projekt jetzt einstellte. Warum jemand solche Knebelverträge schließt, weiß ich auch nicht; aber über die Kosten öffentlicher Bauprojekte braucht man praktisch nicht zu diskutieren - daß hier regelmäßig gewaltige Summen in grauen Bereichen zu verschwinden scheinen, ist traurige Realität.

Aber danke für deine Stellungnahme, Marc! Daß eine so langfristige Berichterstattung mit scheibchenweise erfolgender Preissteigerung die Wahrnehmungsschwelle unterläuft, kann ich mir vorstellen und verstehen - trotzdem daraus aber nicht, warum der Volkszorn daraus ein "man hat uns nichts gesagt" machen kann. Über die Kosten hätte sich vor zwei Jahren wohl kaum jemand beklagt, da wäre das eine mittlere Konjunkturmaßnahme gewesen, noch dazu teilweise mit europäischem Geld... auch ein Problem einer so langen Planungsphase.

Ipsissimus
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Mo 4. Okt 2010, 13:44 - Beitrag #14

Padreic, mit den erhofften Wirkungen ist es so eine Sache, erhoffen lässt sich vieles, und in der medialen Darstellung allemal. Wie plausibel, wie realitätsnah derartige Hoffnungen sind, das müsste diskutiert werden. Dass eine Lockerung des Kündigungsschutzes nicht zu mehr Einstellungen führt - nee, sorry, das war vorhersehbar und schlimmer, es war vorhersehbar, dass die Lockerung missbraucht wird. Bei den Gründen müsste immer die Frage gestellt werden "wessen Gründe?" Und solange im Herzen der Demokratie der Krake "Lobbyismus" seine Mahlzeiten abholen kann, lautet m.E. die Antwort: "jedenfalls nicht die Gründe des Volkes" und "zum Wohle von wem auch immer, jedenfalls nicht zum Wohle des Volkes".

Das ist natürlich ein politisches Credo, Demokratie und Lobbyismus schließen einander absolut aus. Aus meiner Sicht der Dinge sind daher Entscheidungen, die, verdeckt oder offen, aufgrund des Einflusses von Lobbyisten erfolgen, nicht demokratisch legitimiert. Und ein System, das demokratisch sein will, aber Lobbyismus duldet und sogar will, weist einen ernsthaften, System-destabilisierenden Defekt an zentraler Stelle auf.


Was mit an Stuttgart 21 auch übel aufstößt, ist der Umstand, dass die Deutsche Bahn AG ein privatwirtschaftliches Unternehmen ist, aber zur Sanierung ihrer Anlagen öffentliche Gelder verwenden darf. Das Argument, demnach einige Milliarden Euro an Vertragsgeldern auch dann fällig werden, wenn Stuttgart 21 jetzt aufgegeben würde, greift m.E. nur vor dem Hintergrund dieses von mir als solchen empfundenen Skandals. Soll die Bahn ihr privates Kapital dafür verschwenden. Mal sehen, ob Stuttgart 21 dann wirklich so völlig gar nicht zur Disposition stünde, wie jetzt noch getan wird.

Lykurg
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Mo 4. Okt 2010, 14:38 - Beitrag #15

(Ohne hier den Kündigungsschutz diskutieren zu wollen: die Arbeitslosigkeit ist massiv zurückgegangen, und die deutsche Wirtschaft derzeit dank erhöhter Flexibilität wesentlich besser dran als die der meisten europäischen Nachbarn und der USA. Das ist immerhin ein Teilerfolg.)

Es handelt sich bei der DB zwar um ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen, sie ist aber zu 100% in Staatsbesitz. Dementsprechend verfügt sie auch nicht über hinreichende Kapitalreserven, um Infrastrukturprojekte eigenständig durchzuführen, dies war bislang Aufgabe des staatlichen Trägers, abgerechnet wurde dann wohl irgendwie unter der Hand. - Eine solche Verquickung macht ohne Kontrolle (und dazu war offenbar in den letzten zwanzig Jahren kaum ein Verkehrsministerium willens oder imstande) unschöne Folgen wie rasante Preissteigerung bei Leistungskürzung zugunsten fragwürdiger Großprojekte fast zwangsläufig. Man hätte die Bahn gleich vollständig zerschlagen und privatisieren sollen, oder als deutlich schlechtere Alternative in Staatshand belassen. Den Nutzen dieser Zwischenlösung erkenne ich nicht so recht.

Milena
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Mo 4. Okt 2010, 14:58 - Beitrag #16

...die arbeitslosigkeit ist massiv zurückgegangen Lykurg?Bild
dank neuer massiver arbeitsplätze?
da muss mir schlichtweg was entgangen sein....
die deutsche wirtschaft ist auch absolut top...^^ lassen wir mal die riesengrosse kluft zwischen extremster armut und den reichen fuzzis aussen vor....
aber darum geht es hier nicht, nicht bei den demos im moment...oder etwa doch?Bild

Lykurg
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Mo 4. Okt 2010, 15:16 - Beitrag #17

Milena, sicher besteht ein Unterschied zwischen persönlicher Wahrnehmung und der Statistik. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist ein relativ natürliches Ergebnis wirtschaftlicher Entwicklung - wenn niemand etwas hat, hat auch niemand mehr als die anderen. Mit Stuttgart21 hat das alles aber relativ wenig zu tun, schließlich gäbe es auch andere Möglichkeiten, öffentliche Gelder konjunkturwirksam auszugeben (und ob das überhaupt einen noch so geringen Sinn hat, ließe sich auch diskutieren).

Oder eben doch, fragst du zwinkernd, und meinst die generelle Stimmung der Unzufriedenheit? Ich weiß nicht, denn dafür unterscheidet sich die protestierende Klientel allzusehr. Wobei, andersherum gefaßt, wenn wir es hier wirklich mit einem protestierenden Bürgertum zu tun haben, das nicht mehr gewillt ist, weitere Steuerlasten auf sich zu nehmen, um bedingungslos die öffentlichen Haushalte zu alimentieren, auch andere Empfänger als die Bauindustrie sich warm anziehen können. Dann kann es die Politik ebenso treffen wie die Empfänger sozialer Transferleistungen.

Wenn es allerdings um eine grundsätzliche Verweigerungshaltung bzw. diffuse Ängste gegenüber der Moderne geht (und die können wir etwa bei Gentechnik ja auch beobachten, in Ansätzen auch bei anderen technischen Anlagen, Schwerindustrie, AKW etc.), können die Betroffenen gleich selbst einpacken.

Ipsissimus
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Mo 4. Okt 2010, 15:48 - Beitrag #18

ja, mir ist da wohl auch einiges entgangen. Was ich sehe, sind statistische Trickbetrügereien

nein, bei den Demos derzeit geht es wohl nicht darum; die da demonstrieren, sind eher Leute aus dem (noch) gesicherten Mittelfeld. Aber eine wundervolle Frage ist es allemal: warum entzünden sich Demos an so etwas, und nicht entlang der sozialen Fragen, die sehr viel bedrängender sind. Die Mittelschicht scheint doch um einiges organisierter zu sein als das Prekariat.

Lykurg
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Mo 4. Okt 2010, 16:18 - Beitrag #19

Zitat von Ipsissimus:Was ich sehe, sind statistische Trickbetrügereien
Die Daten kommen vom Europäischen Amt für Statistik, es handelt sich nicht um die vor ein paar Jahren neu justierten Zahlen des Arbeitsministeriums. Natürlich liegen auch diesem Wert bestimmte Auswahlprinzipien zugrunde, eine Definition von Arbeitslosigkeit - das kann man als Fälschung bezeichnen, wenn man das gern möchte, oder auch als rosa Elefanten. Wesentlich ist aber für meine Aussage nicht der konkrete Wert, sondern daß die Rosaelefantenquote in den letzten Jahren deutlich gesunken und auf dem Stand von 1992 angekommen ist. Ich würde sogar zugestehen, daß ein paar rosa Elefanten auf die Statistik getreten sind, so daß sie sich ein bißchen verbogen hat, wenn das unbedingt sein soll (obwohl eben die Tatsache, daß es sich um vergleichende und relativ unabhängig erhobene Daten handelt, meines Erachtens dagegen spricht) - aber ich sehe keinen Anlaß zur Annahme, daß der Trend tatsachenwidrig vollständig umgekehrt dargestellt würde. Da bezweifle ich die Gültigkeit einer persönlichen Sichtweise eben doch. Mit Betrug lasse ich mich jedenfalls ungern in Verbindung bringen. :o

Übrigens sah ich hier in der Gegend zuletzt wieder verstärkt Stellenangebote in Läden hängen (auch längere Zeit über) - sicher kein Job, den ich haben wollen würde, aber auch das wirkt sich aus.

Ich finde es aber etwas schade, daß wir schon wieder meilenweit vom Thema abgekommen sind. Bis mir jemand den Zusammenhang hiervon mit Stuttgart belegt, also kein weiteres Wort von mir dazu. ;)

Ipsissimus
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Mo 4. Okt 2010, 16:30 - Beitrag #20

es war ja auch nur als Anmerkung zu Padreics Einwurf gedacht^^

davon abgesehen haben es Statistiken dieser Art an sich, Elefanten aus 99% rosarot und 1% schwarz als schwarze Elefanten zu verkaufen. Das nenne ich nach wie vor statistische Trückbetrügerei; ich könnte auch sagen: Leute mit Bagatell-Einkommen gelten im Sinne der Statistik nicht als arbeitslos^^ sie haben ja einen Job, selbst wenn der weniger als 400 Euro im Monat bringt

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