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Entwicklung der Arbeitslosenzahlen

BeitragVerfasst: Mo 4. Okt 2010, 17:44
von Padreic
Ich habe zu diesem Thema mal einen neuen Thread eröffnet, hervorgegangen aus dem Stuttgart21-Thread.

Ipsissimus: Padreic, mit den erhofften Wirkungen ist es so eine Sache, erhoffen lässt sich vieles, und in der medialen Darstellung allemal. Wie plausibel, wie realitätsnah derartige Hoffnungen sind, das müsste diskutiert werden. Dass eine Lockerung des Kündigungsschutzes nicht zu mehr Einstellungen führt - nee, sorry, das war vorhersehbar und schlimmer, es war vorhersehbar, dass die Lockerung missbraucht wird. Bei den Gründen müsste immer die Frage gestellt werden "wessen Gründe?" Und solange im Herzen der Demokratie der Krake "Lobbyismus" seine Mahlzeiten abholen kann, lautet m.E. die Antwort: "jedenfalls nicht die Gründe des Volkes" und "zum Wohle von wem auch immer, jedenfalls nicht zum Wohle des Volkes".
Lykurg: (Ohne hier den Kündigungsschutz diskutieren zu wollen: die Arbeitslosigkeit ist massiv zurückgegangen, und die deutsche Wirtschaft derzeit dank erhöhter Flexibilität wesentlich besser dran als die der meisten europäischen Nachbarn und der USA. Das ist immerhin ein Teilerfolg.)
Milena:...die arbeitslosigkeit ist massiv zurückgegangen Lykurg? dank neuer massiver arbeitsplätze? da muss mir schlichtweg was entgangen sein.... die deutsche wirtschaft ist auch absolut top...^^ lassen wir mal die riesengrosse kluft zwischen extremster armut und den reichen fuzzis aussen vor....
Lykurg: Milena, sicher besteht ein Unterschied zwischen persönlicher Wahrnehmung und der Statistik. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist ein relativ natürliches Ergebnis wirtschaftlicher Entwicklung - wenn niemand etwas hat, hat auch niemand mehr als die anderen. Mit Stuttgart21 hat das alles aber relativ wenig zu tun, schließlich gäbe es auch andere Möglichkeiten, öffentliche Gelder konjunkturwirksam auszugeben (und ob das überhaupt einen noch so geringen Sinn hat, ließe sich auch diskutieren).
Ipsissmus:ja, mir ist da wohl auch einiges entgangen. Was ich sehe, sind statistische Trickbetrügereien
Lykurg:Die Daten kommen vom Europäischen Amt für Statistik, es handelt sich nicht um die vor ein paar Jahren neu justierten Zahlen des Arbeitsministeriums. Natürlich liegen auch diesem Wert bestimmte Auswahlprinzipien zugrunde, eine Definition von Arbeitslosigkeit - das kann man als Fälschung bezeichnen, wenn man das gern möchte, oder auch als rosa Elefanten. Wesentlich ist aber für meine Aussage nicht der konkrete Wert, sondern daß die Rosaelefantenquote in den letzten Jahren deutlich gesunken und auf dem Stand von 1992 angekommen ist. Ich würde sogar zugestehen, daß ein paar rosa Elefanten auf die Statistik getreten sind, so daß sie sich ein bißchen verbogen hat, wenn das unbedingt sein soll (obwohl eben die Tatsache, daß es sich um vergleichende und relativ unabhängig erhobene Daten handelt, meines Erachtens dagegen spricht) - aber ich sehe keinen Anlaß zur Annahme, daß der Trend tatsachenwidrig vollständig umgekehrt dargestellt würde. Da bezweifle ich die Gültigkeit einer persönlichen Sichtweise eben doch. Mit Betrug lasse ich mich jedenfalls ungern in Verbindung bringen. Übrigens sah ich hier in der Gegend zuletzt wieder verstärkt Stellenangebote in Läden hängen (auch längere Zeit über) - sicher kein Job, den ich haben wollen würde, aber auch das wirkt sich aus.
Ipsissmus: es war ja auch nur als Anmerkung zu Padreics Einwurf gedacht^^ davon abgesehen haben es Statistiken dieser Art an sich, Elefanten aus 99% rosarot und 1% schwarz als schwarze Elefanten zu verkaufen. Das nenne ich nach wie vor statistische Trückbetrügerei; ich könnte auch sagen: Leute mit Bagatell-Einkommen gelten im Sinne der Statistik nicht als arbeitslos^^ sie haben ja einen Job, selbst wenn der weniger als 400 Euro im Monat bringt
Milena: ..Lykurg,^^ist doch nicht gegen dich persönlich gemeint....aber ich für mich, halte nichts von erstellten statistiken...sondern halte meine nase inmitten des lebens und weiss was mich umgibt...^^


Persönliche Einschätzung ist sicherlich eine Sache, die zur Beurteilung vieler konkreter Gegebenheiten sehr nützlich ist. Zur Beurteilung von Arbeitslosenzahlen aber, denke ich, eher weniger. Niemand von uns kennt eine repräsentative Stichprobe von Deutschen. Ich traue hier dem statistischen Bundesamt mehr. Zum trauen gehört natürlich nur dies: ich glaube ihnen, dass sie die Daten so erheben, wie sie es vorgeben und dies in einer recht professionellen Weise tun. Es heißt natürlich nicht das Ergebnis ohne Kenntnis der Erhebungsmethode zu interpretieren (die übliche Methode in Zeitungen und ähnlichem). Ich finde es in Ordnung, wenn sie Erwebslosenzahlen ohne geringfügig Beschäftigte führen. Es ist in der Verantwortung derjenigen, die diese Statistiken weitergeben, darauf hinzuweisen.

Zur konkreten Sache: wenn man wikipedia glauben darf (ich bin gerade zu blöd, die Excel-Dateien von der (sog.) Arbeitsagentur zu lesen), sind die Anzahlen für geringfügig Beschäftigte seit 2005 nicht gestiegen. Ergo, wenn man den Statistiken glauben darf, die Arbeitslosenzahlen auch dann zurückgegangen, wenn man die geringfügig Beschäftigten mit einrechnet.

Warum erscheint es so abstrus, anzunehmen, dass die Arbeitslosenzahlen seit 2005 tatsächlich gesunken sind? Vielleicht sogar tatsächlich ua. im Zusammenhang mit den Gesetzen, die im Rahmen der Agenda 2010 gemacht wurden?
Ich möchte darauf hinweisen, dass hier nur nach Arbeitslosenzahlen gefragt ist. Nicht danach, wie die dann tatsächlich Arbeitslosen behandelt werden - das ist zwar ein wichtiges, aber doch ein anderes Thema. Ebenso ist es ein anderes Thema, aus welcher Motivation heraus die Gesetze entstanden sind. Lobbyarbeit mag zwar im Allgemeinen Gesetze schlechter machen - das heißt jedoch nicht, dass jede Konsequenz eines jeden Gesetzes, das von Lobbyarbeit beeinflusst wurde, schlecht ist ;).

BeitragVerfasst: Di 5. Okt 2010, 13:37
von Ipsissimus
letzten Endes stehen dahinter unterschiedliche Weltbilder; und das äußerste, was gehofft werden kann, ist es, das eigene Weltbild plausibel zu machen. Es stellt sich mir jedenfalls als hoffnungsloses Unterfangen dar, Menschen, die nicht durch die Erfahrungen ihres Lebens zu vergleichbaren Auffassungen gelangt sind, rein argumentativ von der Richtigkeit oder wenigstens der Relevanz einer anderen Weltsicht zu überzeugen.

Aus meiner Sicht also ist die Frage der Arbeitslosigkeit nur sekundärer Natur; primär ist die Frage der Lebenswirklichkeit. Steht ein Leben unter Druck, oder kann es sich entfalten. Muss ein Leben kämpfen, um auch nur minimale Standards zu erreichen oder kann es aus dem Überfluss - z.B. reicher Eltern oder gewährter Privilegien - schöpfen. Der Verweis auf die Arbeitslosigkeit versperrt m.E. den Blick auf wichtigere Fragen, denn - ARBEITEN darfst du in Deutschland, bis du tot umfällst. Du darfst nur keine angemessene Bezahlung und keine angemessenen Rahmenbedingungen mehr dafür verlangen. Menschen leben in unseren Gesellschaften nicht von ihrer Arbeit, sondern von der Konversion ihrer Arbeit in Geld. Das gerät zunehmend - und meines Erachtens intensional gesteuert - aus dem Blickfeld.

Aus dieser Perspektive betrachtet ist es unerheblich, ob dein "Lohn" von einer ARGE überwiesen wird oder von einem "echten" Arbeitgeber. Du bekommst so oder so nicht genug. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Und daher ist die Freischaufelung der Statistiken von "echten" Arbeitslosen gegenstandslos, es handelt sich bei den etwa 3 Millionen "echten" Arbeitslosen und den mittlerweile fast 10 Millionen Bagatell-Beschäftigten um ein und dieselbe Gruppe massiv unter Druck stehender Bedürftiger. Und der proklamierte "Rückgang" der Arbeitslosigkeit ist tatsächlich nichts anderes als ein Fluktuieren der Zugehörigkeit zwischen diesen beiden Untergruppen. Dass die statistische Differenzierung zwischen diesen beiden Untergruppen zudem dazu funktionalisiert ist, noch mehr Druck aufzubauen und Repressalien zu begründen, versteht sich von selbst.

Es tritt noch etwas hinzu. Die Lockerung des Kündigungsschutzes hat dazu geführt, dass in sicheren Arbeitsverhältnissen - soweit sie außerhalb des Beamtentums überhaupt noch sicher sein können - heute nur noch Personen mit Besitzstandswahrung stehen, also langjährige Angehörige einer Firma. Über 80 Prozent neuer Jobs unterhalb der mittleren Management-Ebene laufen mittlerweile auf Basis von Projektbindung, müssen also als prekär eingestuft werden, denn auf sowas kann man kein Leben bauen, Kredite aufnehmen u.dgl. Selbst in den USA, wo diese Form der Jobarbeit eine Selbstverständlichkeit ist (und zu extremen zeitlichen Belastungen von Familien infolge Multi-Jobs führt), hat sie nicht zu wenigstens auch nur rudimentärer Sicherheit sondern zu massiven sozialen Verwerfungen und einer dramatischen Schrumpfung der Mittelschicht durch Trifft nach unten geführt. Das steht uns demnächst bevor.

BeitragVerfasst: Di 5. Okt 2010, 14:58
von Padreic
Präambel: Geht es um unterschiedliche Weltbilder? Oder um unterschiedliche Einschätzungen von Fakten? Wenn man sagt: die Arbeitslosenzahlen, die durchschnittliche Arbeitszeit oder dergleichen steigt, dann ist das etwas, was aus Fakten besteht. Wenn man sagt, die objektiven Zahlen geben nicht die subjektiven Eindrück wieder, dann kann man versuchen, die subjektiven Eindrücke zu erfragen - das ist subtiler, aber in gewissem Maße möglich und es geht wieder um eine Faktenlage. Wenn man sagt, dass der Hartz4-Satz zu niedrig ist, dass Arbeiter zu wenig verdienen und zu viel arbeiten müssen, dann ist das Teil eines Weltbilds, keine Faktenlage. Aber solange man sich einig ist, das nicht als absolute moralische Einsicht zu sehen, kann es doch am fundiertesten auf einem Konsens über die Faktenlage basierend diskutiert werden. Ein solcher Konsens kann am leichtesten erreicht werden, wenn man Faktenlage und Forderungen nicht vermischt. - das basiert auf meinem Glauben daran, dass, wenn man nur genügend Klarheit schafft, in vielen, wenn auch nicht allen Punkten, sich recht einig sein kann.

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Ich denke, für viele Leute ist es keinesfalls unerheblich, ob sie Hartz4 bekommen oder arbeiten. Zumindest sollten die Arbeitsbedingungen anständig sein, ist es, glaube ich, so manchem lieber, nicht auf 'Almosen' angewiesen zu sein. Das ist aber natürlich von Person zu Person unterschiedlich.

Auch wenn die durchschnittliche Arbeitsbelastung in Deutschland in den letzten 20 Jahren sicherlich angestiegen ist, würde ich sie sowohl im internationalen als auch im historischen Kontext als vergleichsweise nicht sehr hoch einschätzen; was natürlich nicht heißt, dass sie angenehm niedrig ist. Wieviel Leute kennst du, die mehr als 50 Stunden durchschnittlich in der Woche Job-Arbeit tun? Selbstständige und Manager nicht gerechnet.

Was verstehst du genau unter Projektbindung?

Dass die Verhältnisse in den USA nicht wünschenswert sind, da sind wir uns sicherlich einig.

BeitragVerfasst: Di 5. Okt 2010, 15:32
von Ipsissimus
das, was du in der Präambel schreibst, zeigt mir recht klar, dass es um Weltbilder geht; allein schon eine Notwendigkeit, sich darauf zu verständigen, worüber genau, vor allem aber in welcher Weise darüber gesprochen werden soll, zeigt den Einfluss unterschiedlicher Weltbilder.

Ich bezweifele z.B. dass es eine objektive Faktenlage gibt. Das liegt im Wesentlichen daran, dass selbst bei einheitlicher Auffassung der Faktenlage - die aber auch nicht gegeben ist - unterschiedliche Relevanzkriterien angelegt werden. Wenn also die Aufforderung ergeht, über die Faktenlage zu diskutieren, als gäbe es die ganz offensichtlich und evident "einfach so", bin ich in gewisser Weise hilflos, weil damit die Aufforderung verbunden ist, mich auf ein andersartiges Weltbild einzulassen, welches aus meiner Sicht aber ungeeignet ist, Lebenswirklichkeit von Menschen zu erfassen, da es proklamierte und reale Wirklichkeit nicht trennt. Dass die Statistiken so dargestellt werden können, wie es im Problemaufriss beschrieben wird, darüber besteht ja Einvernehmen - sie existieren in der angesprochenen Weise, also können sie so dargestellt werden. Ob aber die Wirklichkeit erfasst wird, wenn sie tatsächlich so dargestellt werden, das ist die Frage, bei der mein Interesse erst beginnt.

Ich denke, für viele Leute ist es keinesfalls unerheblich, ob sie Hartz4 bekommen oder arbeiten. Zumindest sollten die Arbeitsbedingungen anständig sein, ist es, glaube ich, so manchem lieber, nicht auf 'Almosen' angewiesen zu sein. Das ist aber natürlich von Person zu Person unterschiedlich.
das glaube ich auch; meine Aussage rekurriert aber nicht auf den Stolz der Menschen sondern auf ihre Not. Natürlich mag es so sein, dass es in der individuellen Welterklärung einen Unterschied ausmacht, ob ich das Geld mir selbst verdient habe oder vom Sozialamt erhalten habe; dass ändert aber nichts daran, dass ich mit einem Bagatell-Einkommen sachlich immer noch zur Gruppe der Bedürftigen zähle und mein Leben unter Druck steht, gleichgültig, was mein Stolz dazu sagt.

Wieviel Leute kennst du, die mehr als 50 Stunden durchschnittlich in der Woche Job-Arbeit tun? Selbstständige und Manager nicht gerechnet.
bei uns im Institut, fast alle aus der Gruppe der nicht Festangestellten und gut die Hälfte der Festangestellten, bei offiziellen 40 Stunden Arbeitszeit pro Woche. Und wir sind öffentlicher Dienst, leben also im Paradies anscheinender Arbeitsplatzsicherheit.

Projektgebundene Arbeitsverträge sind auf die Laufzeit eines Projektes begrenzt und bedürfen beim Auslaufen keiner expliziten Kündigung. Wenn sich ein weiteres Projekt für dich unmittelbar anschließt, Glück gehabt, ansonsten bist du in der Übergangszeit arbeitslos oder füllst diese mit einem anderen Projekt. Und wenn du dann drei oder vier derartige Projekte zu deiner Lebensunterhalts-Deckung benötigst, schau mal, wieviel Zeit dir noch bleibt.

BeitragVerfasst: Di 5. Okt 2010, 16:49
von Padreic
Es war nicht meine Absicht so zu tun, als ob es da einfach die Faktenlandschaft gibt, die man sich aneignen kann, und dann darauf seine Werturteile bilden. Es ging mir mehr darum, dass Argumentationen und Ansichten nachvollziehbar gemacht werden. Selbst wenn es nicht darum geht, den anderen von etwas argumentativ zu überzeugen, nur darum, das eigene Weltbild dem anderen plausibel zu machen, muss ich wissen, auf welchen Eindrücken, welchen Zahlen, welchen Grundlagen welcher Art auch immer bestimmte Wertung und Gesamturteile beruhen. Etwas wie
ARBEITEN darfst du in Deutschland, bis du tot umfällst. Du darfst nur keine angemessene Bezahlung und keine angemessenen Rahmenbedingungen mehr dafür verlangen.
ist erstmal ein starker Ausspruch. Zudem einer, den du wohl kaum wörtlich so meinst. Ich habe mittlerweile einige hundert und vermutlich sogar tausend Beiträge von dir gelesen - und ich glaube, ich weiß mittlerweile ungefähr, wie deine Position zu diesen Fragen ist. Sie ist mir aber immer noch nicht vollends durchsichtig geworden.

Ich versuche mich nun selbst einen Schritt von Faktenlage wegzubewegen:
1) Ich habe große Schwierigkeiten mit Worten wie 'bedürftig' oder 'Not' sofern sie objektiv gefasst werden in dem Sinne, dass, wer weniger als x hat, bedürfitg und in Not ist. Not und Bedürftigkeit bestimmen sich in meiner Begriffslage erstmal bloß subjektiv (klaren Verstand vorausgesetzt). Natürlich müssen staatlicherseits objektive Approximationen daran festgesetzt werden, um Transferleistungen zu steuern, aber das ändert nichts am letztlich subjektiven Charakter dieser Begriffe. Wenn jemand sagt: "meine 800 Euro im Monat sind für mich vollkommen ok", dann finde ich es würdeverletzend, wenn man ihm sagt, dass es nicht genug ist.
2) Genauso habe ich Schwierigkeiten mit dem Wort 'angemessen'. Am einfachsten ist das Wort wohl gesellschaftlich zu definieren: angemessen ist, was der gesellschaftliche Konsens (soweit existent) als angemessen befindet. Bist du mit so einer Definition glücklich?

bei uns im Institut, fast alle aus der Gruppe der nicht Festangestellten und gut die Hälfte der Festangestellten, bei offiziellen 40 Stunden Arbeitszeit pro Woche. Und wir sind öffentlicher Dienst, leben also im Paradies anscheinender Arbeitsplatzsicherheit.

erstens ist euer Institut unter allen Arbeitsstellen gesehen damit wohl eine Minderheitenerscheinung nach allen Zahlen, die ich so kenne (Statistiken per Selbstauskunft), da auch die Mehrheit der Vollerwerbstätigen unter 50 Stunden die Woche arbeitet
zweitens (und das ist vielleicht der interessantere Punkt) ist die Frage, warum sie soviel Überstunden machen? Haben die Festangestellten angst, gefeuert zu werden, wenn sie weniger Überstunden machen? Meine eigenen Eindrücke der Arbeitswelt beschränken sich fast ausschließlich auf das universitäre Milieu (Mathematik). Es wird auf Professoren recht wenig Druck von Vorgesetzten ausgeübt, dass sie viel arbeiten - Vorgesetzte existieren faktisch kaum. Trotzdem gibt es Professoren, die sicherlich 50, 60 oder sogar 70 Stunden die Woche arbeiten. Das vermutlich deshalb, weil sie ihre Forschung als einen wesentlichen Lebensinhalt für sich ansehen. Natürlich stehen sie auch unter Druck - dem Druck, nicht forschungsmäßig zurückzufallen, sondern herauszuragen. Aber manchmal kann Druck auch glücklich machen (geht zumindest mir so).

Wenn ich dich recht verstehe, verstehst du unter Projektbindungen etwas, was ich unter Werksvertrag oder Honorarleistung fassen würde. Du meinst wirklich, dass 80% der Neuanstellungen im unteren Bereich darunter fallen? Erstens kann ich das kaum glauben im Bereich von Fließbandarbeitern etc. Zweitens gibt es doch Gesetze darüber, dass bei zu vielen solchen Verträgen in Folge Festanstellung verpflichtend ist - und wollen wirklich so viele Unternehemn auf ordentlich qualifizierte Leute verzichten, indem sie ihnen nur ein oder zwei Projekte geben und sich dann von ihnen verabschieden?

BeitragVerfasst: Mi 6. Okt 2010, 13:37
von Ipsissimus
Es ging mir mehr darum, dass Argumentationen und Ansichten nachvollziehbar gemacht werden.
da stimmen wir dann prinzipiell in unseren diesbezüglichen Absichten überein

Ich habe große Schwierigkeiten mit Worten wie 'bedürftig' oder 'Not' sofern sie objektiv gefasst werden in dem Sinne, dass, wer weniger als x hat, bedürfitg und in Not ist. Not und Bedürftigkeit bestimmen sich in meiner Begriffslage erstmal bloß subjektiv (klaren Verstand vorausgesetzt).


Dem stimme ich zu, und deswegen lehne ich den zweiten Teil
Natürlich müssen staatlicherseits objektive Approximationen daran festgesetzt werden, um Transferleistungen zu steuern ...
ab. Selbstverständlich ist die Festellung von Not und Bedürftigkeit sachlich gesehen nicht die Frage eines Schwellwerts, sie kristallisiert sich vielmehr entlang eines Kontinuums nahezu beliebig kleiner Zwischenschritte heraus, ganz ähnlich wie wir es in dem Thema über die Schwangerschaftsabbrüche schon mal hatten: Niemand ist plötzlich, ab eines ganz bestimmten Augenblicks, groß; erst aus der Retrospektive sieht man, dass er es schon eine Zeit lang ist.

Das bedeutet aber - und deswegen die Ablehnung des zweiten Zitats - dass die Feststellung von Not und Bedarf eben keinem formalisierten Algorithmus unterliegen darf, wenn die Feststellung einem auch nur rudimentären Anspruch auf Objektivität unterliegt. Objektivität ist in diesem Kontext gerade nicht durch die Über-/Unterschreitung eines Thresholds oder ähnlich formalisierbarer Kriterien gewährleistet, sondern kann nur im Prozess ihrer Überprüfung annähernd erreicht werden, und das nur, wenn dieser Prozess die individuellen Gegebenheiten der zur Debatte stehenden Personen in angemessener Weise berücksichtigt.

Somit kommen wir zu der wohl zentralen Problematik, dem Begriff der "Angemessenheit", und natürlich führe ich Angemessenheit nicht auf gesellschaftlichen Konsens zurück :-) das hast du aber schon vermutet^^

zum einen, geringem Teil, weil die Feststellung eines gesellschaftlichen Konsens der Machtproblematik unterliegt. Wenn du irgendwann mal in der Zeitung liest, dies und jenes sei gesellschaftlicher Konsens und dich fragst, wann du denn diesem Konsens zugestimmt hattest, dann liegt im Normalfall nicht mit deinem Gedächtnis etwas im Argen. Aus meiner Sicht folgt daraus, dass ein Konsens nur bei einschlägig intentionalen Interpretationen etwas über die Ansichten und Willensbekundungen derer aussagt, die diesen Konsens angeblich tragen, Interpretationen, deren Gehalt auf der gesellschaftlichen Makroskala in Form medialer Illusionsblasen als Faktum behauptet werden kann, aber auf der individuellen Mikroskala gegenstandslos bleibt.

Zum anderen bleibt die gesellschaftliche Feststellung von Angemessenheit für das Empfinden von Individuen gegenstandslos. Sie leiden vielleicht unter einer bestimmten Festlegung, aber sie teilen die Festlegung nicht auf der Ebene ihrer individuellen Weltempfindung.

Angemessenheit in unserem Gesprächskontext ist aus meiner Sicht daher die Empfindung von Angemessenheit seitens eines Individuums. Der Begriff im engeren Sinne bezeichnet die Übereinstimmung von Möglichkeiten mit Wünschen, in reduzierter Form von Möglichkeiten mit Notwendigkeiten, jeweils vice versa (es mag andere Kontexte geben, in denen andere Definitionen geeigneter sind, z.B. die Übereinstimmung von Vorstellungen mit Sachverhalten). Und natürlich ist auch "Angemessenheit" einer der Begriffe, deren Feststellung sich sachlich nur prozesshaft angenähert werden kann und nicht per Threshold festgelegt ist.

... ist erstmal ein starker Ausspruch. Zudem einer, den du wohl kaum wörtlich so meinst.

...

Du meinst wirklich, dass 80% der Neuanstellungen im unteren Bereich darunter fallen? Erstens kann ich das kaum glauben im Bereich von Fließbandarbeitern etc. Zweitens gibt es doch Gesetze darüber, dass bei zu vielen solchen Verträgen in Folge Festanstellung verpflichtend ist - und wollen wirklich so viele Unternehemn auf ordentlich qualifizierte Leute verzichten, indem sie ihnen nur ein oder zwei Projekte geben und sich dann von ihnen verabschieden?
meine Perspektive auf den ersten Teil ist zweifelsohne nicht die normale Perspektive der bürgerlichen Mittelschicht. Die Situation der bürgerlichen Mittelschicht ist charakterisiert durch die besagten Besitzstandswahrungen, das heißt, viele ihrer Mitglieder verfügen noch über ein gewisses Maß an Arbeitslatzsicherheit, was nicht heißt, dass die Arbeitsplätze sicher wären. Es heißt nur, dass es spezifischer Formalien bedarf, wenn man ihnen doch kündigen will, und letztlich läuft es auf die Höhe der Abfindung hinaus. Ich glaube - das ist jetzt eine Unterstellung, aber eine, die mit meinen Beobachtungen übereinstimmt - dass sehr viele Mittelschichtler speziell den letzten Umstand so lange wie irgend möglich von ihrem Bewusstsein fern halten. Wenn sie begreifen müssten, wie dicht am Abgrund ihre Leben mittlerweile gebaut sind, würden sehr viele verzagen und innerlich kollabieren, ganz analog zu denen, die bereits im Abgrund sind.

Zum zweiten Teil, ja, das meine ich. Diese Einschätzung basiert auf Kundenkontakten. Das Institut, dem ich meinen Lebensunterhalt zu verdanken habe, arbeitet im großen Maße mit Industriefirmen zusammen; wir arbeiten im Jahr ungefähr 1500 Projekte ab, bei denen Global Player genauso vertreten sind wie KMU und alles dazwischen. Da ergeben sich vielfältige Gespräche nicht nur auf den Management-Ebenen sondern auch auf Arbeitsebene, und auf letzterer wird das Manager-Gerede drastisch konterkariert. Es ist richtig, dass das Ausmaß der Projektbezogenheit bei Neueinstellungen eine gewisse Schwankungsbreite aufweist, aber der Fall, dass jemand "einfach so" eine Festanstellung bekommt (vorbehaltlich der Bewährungsphase natürlich), ist so gut wie überhaupt nicht mehr gegeben.

Die Leute dürfen sich privilegiert schätzen, wenn sie überhaupt einen Zweijahresvertrag als Einstieg bekommen und bei mehr als drei Viertel dieser Privilegierten bleibt es bei einer Folge von Zweijahresverträgen. Die anderen bekommen von vornherein nur projektbezogene Verträge, und ganz apart ist die Variante, bei der die Bezahlung vom Projekterfolg abhängig gemacht wird, was auch zunehmend häufiger wird.

Ich spreche hier von hochqualifizierten Leuten. Bei den anderen ... stellt sich das Problem nicht mehr wirklich^^ die gelten zunehmend als Dispositionsmasse und entsprechend sind ihre Verträge gestaltet, wenn man sie nicht gleich über Leihfirmen bezieht.

... und wollen wirklich so viele Unternehemn auf ordentlich qualifizierte Leute verzichten, indem sie ihnen nur ein oder zwei Projekte geben und sich dann von ihnen verabschieden?
das ist nicht der springende Punkt. Du darfst bleiben und erhältst deine Projekte ... solange du den Leistungskriterien entsprichst, gerne auch 10, 15 Jahre und mehr^^ danach bist du weg von Fenster (natürlich nicht ohne vorher im Rahmen des Wissensmanagement-Systems deine Kenntnisse als Mentor deinem Nachfolger übergeben zu haben), ohne dass sich jemand an dir die Finger verbrennen muss, und das völlig gleichgültig, ob du gerade noch 150 kiloEuro am Haus abzuzahlen hast oder die Pflege deiner Eltern finanzieren musst. Das Problem mit der Einstellungspflicht ist kein echtes Problem. Sobald die Wiederholungsgrenze erreicht ist, bleibst du einen Monat zu Hause, du brauchst ja schließlich auch mal Urlaub^^ danach geht die Frist von vorne los.