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Zur Notwendigkeit des Nato-Doppelbeschlusses

Verfasst:
Sa 26. Mär 2011, 22:37
von janw
Mich beschäftigt seit einer Weile die Frage, wie eine der zentralen Fragen der End-70er aus heutiger Sicht zu sehen ist, der Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung der Pershing-Raketen.
Helmut Schmidt behauptet nach wie vor, beides sei notwendig gewesen, um einer aggressiven Politik des Warschauer Palts vorzubeugen, und sei letztlich auch ein wesentlicher Grund für die Wende 1989.
Ich hege hinsichtlich beidem erhebliche Zweifel, denn nach meinem Eindruck hätte die Sowjetunion und der Warschauer Pakt sich mit einem Angriff erheblich verhoben - die wirtschaftliche Stabilisierung zu der Zeit wäre abgebrochen, damit die Unzufriedenheit der Bevölkerungen gestiegen, ein etwaiger Nutzen wäre aber erst erheblich später eingetreten, wenn überhaupt.
Im Laufe der 80er Jahre hat sich dann die wirtschaftliche Situation der Sowjetunion so weit verschlechtert, zugleich die Unzufriedenheit der Bevölkerungen derart zugenommen, daß ein stärkerer Wechsel hätte kommen müssen, ob nun 5 Jahre früher oder später, spielt keine Rolle.

Verfasst:
Sa 26. Mär 2011, 23:41
von Traitor
Nachträglich anhand der inzwischen erworbenen Einblicke in Ostblock-Interna über die Notwendigkeit zu urteilen, ist vielleicht moralisch relevant, aber sicher nicht für einen rein realpolitisch Denkenden wie Schmidt. Und auch ich würde sagen, dass hauptsächlich zu urteilen ist, wie notwendig die Entscheidungen auf Grundlage der damals verfügbaren Daten waren.
Mit denen kenne ich mich nicht sonderlich genau aus, glaube aber schon, dass bis etwa Mitte der 80er auch ein Nicht-Fundamental-Militarist durchaus die Notwendigkeit von Stärkedemonstrationen und Abschreckungswaffenstationierungen sehen konnte. Einseitige Friedfertigkeitsbekundungen wären zwar schön gewesen, aber doch auch sehr riskant.

Verfasst:
So 27. Mär 2011, 00:24
von Ipsissimus
nun ja, die Zeit war geprägt von beidseitigen Friedfertigkeitsbekundungen^^ und wechselseitigem Infragestellen
Jan, das Problem war Misstrauen. Die und wir hatten Führer, die einander erkannt hatten. Alles weitere war nur Rationalisierung.
Was die Bevölkerung der Sowjetunion und einen etwaig von ihr ausgehenden Änderungsdruck betrifft, bin ich eher genauso skeptisch, wie ich es hinsichtlich unserer Bevölkerung bin. Nach der Wende ging es nämlich weiter wie vorher. Ein paar wenige konnten sich dumm und dämlich verdienen, 90% bleiben arm, man nennt das System jettz demokratisch - die Waffen sind immer noch da, dort wie hier. Nur die Töne klingen wärmer, nicht die Möglichkeiten ... weder die der Militärs noch die der Superreichen. Man verdient heutzutage mehr Geld, wenn man es Frieden nennt.

Verfasst:
So 27. Mär 2011, 00:34
von Traitor
Äh, "-bekundungen" ist ein deutlich kürzer greifendes Wort, als ich eigentlich im Kopf hatte. Beim netten, aber riskanten Gegenmodell hatte ich an friedfertige Taten gedacht, nicht Worte, also an einseitige, an keine Bedingungen geknüpfte Abrüstung oder ähnlich radikale Schritte, wie sie der Friedensbewegung vorschwebten.

Verfasst:
So 27. Mär 2011, 01:47
von janw
Zustimmung hinsichtlich des Mißtrauens. Aber warum kann dies heute nicht offen gesagt werden - muss das Dogma von der Friedensbewegung als historisch fehlgeleiteter Bewegung aufrecht erhalten werden?
Ipsi, ob in der UdSSR und dem Warschauer Pakt ein wirklicher Anderungsdruck aus der Bevölkerung bestanden hätte, sehe ich ähnlich skeptisch wie Du, ich wollte eher darauf hinaus, daß eine Militäraktion mit allem, was dazu gehört, Mobilmachung, Rekrutierung von Menschen und Ressourcen usw., IMHO auf schwer überwindliche interne Widerstände gestoßen wäre. Die Endzeit Breschnews und die Jahre danach waren nicht die Ära Stalins.
Was meinst Du, hat Gorbatschow aus freien Stücken gehandelt, oder gab es einen inneren Zerfalls-Druck in der UdSSR? War das System dort noch lebensfähig?

Verfasst:
So 27. Mär 2011, 11:04
von Lykurg
janw, Traitor sagte doch seinerseits, einseitige Abrüstung wäre sehr riskant gewesen - ein 'Abrücken' vom 'Dogma' sehe ich darin noch nicht, auch da ich das Dogma nicht sehe. Die Friedensbewegung in der DDR hat meines Erachtens auch dadurch Zulauf und einen Teil ihrer Grundlage bekommen, daß es etwas entsprechendes im Westen längst gab und die Darstellung der Partei, der Westen sei bis auf die Zähne bewaffnet und feindselig, dadurch Brüche bekam.
Dennoch war es mE wichtig, dahinter von staatlicher Seite eine funktionierende Drohkulisse zu haben, eben weil die Abrüstung im Osten sicherlich weder einseitig noch ohne vertragliche Basis nachträglich erfolgt wäre, ist sie ja, wie Ipsissimus anmerkt, auch nach der Wende kaum bzw. nur aufgrund massiver wirtschaftlicher Schwierigkeiten, und wird jetzt durch Neubauten wieder wettgemacht.
Offensichtlich gab es einen inneren Zerfallsdruck in der UdSSR, der bei Zusammenbruch der zentralen Führung auch unmittelbar in Entstehung der GUS und Westorientierung der Satellitenstaaten resultierte. Allerdings gab es einen sehr großen Militärapparat in den Staaten des Warschauer Pakts, an dessen grundsätzlicher Einsatzfähigkeit auch gegen das jeweilige Volk nach chinesischem Muster ich wenig Zweifel gehabt hätte. Ob sogar nach außen, im Sinne eines Ablenkungskrieges, kann ich nicht beurteilen; das nukleare Patt hat sicher auch dort Wirkung gezeigt. Für dessen Aufrechterhaltung und damit starke Verhandlungspositionen waren die Beschlüsse aber meines Erachtens nützlich.

Verfasst:
Do 31. Mär 2011, 21:33
von Maglor
Realpolitisch macht es keine Unterschied, ob man den Gegner zweimal oder dreimal atomar ausbomben kann. Was die Kurzstreckenraketen jetzt können, was Langstreckenraketen davor nicht konnten??? Moskau pulverisieren ...
Eine Bedrohung ist irgendwann doch nicht mehr steigerbar.
Die Sowjet-Union der 80er hatte durchaus noch scharfe Zähne und vor allem auch den Willen die Breschnew-Doktrin umzusetzen. 10 Jahre Krieg in Afghanistan soll erstmal einer nachmachen. (Ups, schon passiert.)
Andererseits, der NATO-Doppelbeschluss hat den sowjetischen Afghanistan-Krieg - daher die militärische Ausbreitung des Kommunismus bzw. den Erhalt eines kommunistischen Regimes in Afghahnistan - weder verhindert noch beeinflusst. Der agressiven Politik setzte der Doppelbeschluss also keineswegs ein Ende! Schutzlose Dritt-Welt-Staaten blieben Freiwild.
Einen Atom-Krieg vom Zaun brechen und dabei draufgehen, wäre für die Sowjet-Union nie in Frage gekommen, egal ob durch Kurz- oder Langstreckenrakten, egal ob gegen den Westen oder China. Weder ein Herr Stalin, noch ein Chrutschow oder Breschnew waren dazu bereit oder irre genug.