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Franz Josef Degenhardt tot

BeitragVerfasst: Di 15. Nov 2011, 17:57
von Ipsissimus
http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,797812,00.html

Du hast dieser Republik schon lange nicht mehr gefehlt.
Sehr zum Schaden der Republik.

Ruhe in Frieden

BeitragVerfasst: Di 15. Nov 2011, 19:41
von Lykurg
War vor meiner Zeit, über die Schmuddelkinder hinaus habe ich ihn nie besonders wahrgenommen. Dem Spiegel nach ein Betonkopf, der sich von neuen Perspektiven auf Stalin, Sozialismus und DDR nicht hat irritieren lassen. Ist auch eine Kunst - und fatal, wenn noch in seinem bekanntesten Lied Verse wie "verklemmt in Viererreihen, / Knochen morsch und morscher schreien - / zwischen Fahnen aufgestellt / brüllen, daß man Freundschaft hält." eher an Druschba erinnern als an ihre Pendants - dann ist es auch kein Wunder, daß er "dieser Republik" (ja, aber welche ist das? heute zogen bei uns Occupy-Leute durch den Hörsaal, die waren damit sicherlich nicht gemeint bzw. hätten sich dagegen verwahrt?) nicht fehlt.

Brrr, grade ein paar Lieder gehört, z.B. "Dies Land ist unser Land" - nicht mein Stil, weder textlich noch musikalisch; schräg, aber schon eindrucksvoll.

BeitragVerfasst: Mi 16. Nov 2011, 12:40
von Ipsissimus
den Beleg dafür, inwieweit neue Perspektiven keine alten und vor allem umstrittene Perspektiven sind, die vor allem alten Feindbildern neues Leben einhauchen sollen, müsste der Spiegel erst noch erbringen^^ sogar der DLF, der nun wahrhaftig keinerlei Sympathien zu linken Positionen verdächtig ist, hat das in seiner gestrigen Würdigung differenzierter dargestellt.

Degenhardt war vor allem ein Liedermacher, in einer Riege mit Wader, Biermann oder dem frühen May, mit einer extrem geschliffenen Sprache; sein Interesse - im Rahmen seiner Liedtexte, die Prosatexte sind noch mal eine andere Geschichte - war nicht so sehr ein politisches als ein gesellschaftskritisches. So heißt es z.B. im "Deutscher Sonntag":

Da treten sie zum Kirchgang an,
Familienleittiere voran,
Hütchen, Schühchen, Täschchen passend,
ihre Männer unterfassend,
die sie heimlich vorwärts schieben,
weil die gern zu Hause blieben.
Und dann kommen sie zurück
mit dem gleichen bösen Blick,
Hütchen, Schühchen, Täschchen passend,
ihre Männer unterfassend,
die sie heimlich heimwärts ziehn,
daß sie nicht in Kneipen fliehn.
Tada-da-da-dam...

Wenn die Bratendüfte wehen,
Jungfrauen den Kaplan umstehen,
der so nette Witzchen macht,
und wenn es dann so harmlos lacht,
wenn auf allen Fensterbänken
Pudding dampft, und aus den Schenken
schallt das Lied vom Wiesengrund
und daß am Bach ein Birklein stund,
alle Glocken läuten mit,
die ganze Stadt kriegt Appetit,
das ist dann genau die Zeit,
da frier ich vor Gemütlichkeit.
Tada-da-da-dam...

Da hockt die ganze Stadt und mampft,
daß Bratenschweiß aus Fenstern dampft.
Durch die fette Stille dringen Gaumenschnalzen,
Schüsselklingen, Messer, die auf Knochen stoßen,
und das Blubbern dicker Soßen.
Hat nicht irgendwas geschrien?
Jetzt nicht aus dem Fenster sehn,
wo auf Hausvorgärtenmauern
ausgefranste Krähen lauern.
Was nur da geschrien hat?
Ich werd so entsetzlich satt.
Tada-da-da-dam...


Nee, ein Betonkopf war er nicht, nur jemand, der sehr genau hingeschaut hat und die Bedeutung dessen, was er sah, sehr genau erfasste, durch alle Schichten politischer Opportunität hindurch. Dass er zusätzlich für die DKP warb und als Anwalt Mitglieder der RAF verteidigte, hat ihn nicht beliebter gemacht. Andere, die dasselbe dachten und machten, sind später trotzdem Minister geworden. Dass Menschen sich selbst treu bleiben können, passt natürlich gar nicht in unsere ach so flexible Zeit.

BeitragVerfasst: Mi 16. Nov 2011, 12:44
von e-noon
Sich selbst treu bleiben != einer politischen Ideologie treu bleiben.

BeitragVerfasst: Mi 16. Nov 2011, 12:51
von Ipsissimus
das stimmt, e-noon. Es heißt aber auch nicht, seine Positionen nach Maßgabe politischer Nützlichkeit, Mehrheitsbescheide oder Karrierenotwendigkeiten frei zu permutieren

BeitragVerfasst: Mi 16. Nov 2011, 12:55
von e-noon
Ja, das stimmt natürlich. Ich schaue gerade 'West Wing', schon erschreckend, in wie geringem Maße es in der Politik um Inhalte geht.

BeitragVerfasst: Mi 16. Nov 2011, 15:04
von Lykurg
Wobei eine filmische Realität logischerweise weder mit ihrem Vorbild noch mit dessen öffentlicher Wahrnehmung übereinstimmen muß. Ich teile allerdings deinen Eindruck. Allerdings würde es meines Erachtens zum "sich treu bleiben" unbedingt auch gehören, die Wertmaßstäbe, denen man sich verpflichtet fühlt, auch an die Organisationen und Strukturen anzulegen, denen man geistig nahesteht. Das ist dann auch eine Frage der Glaubwürdigkeit der eigenen ethischen Urteilsfähigkeit.

BeitragVerfasst: Mi 16. Nov 2011, 16:10
von Ipsissimus
Vielleicht hat er das ja getan. Ethische Urteile sind nicht unbedingt solche, die den allgemeinen Beifall der Öffentlichkeit nach sich ziehen. Dass er nicht auf der Seite der Mächtigen stand, ist klar.

BeitragVerfasst: Sa 15. Mär 2014, 19:35
von Maglor
Nach all den Jahren wurde mir klar, dass er das schaurige Lied von den drei glänzenden Kugeln geschrieben und gesungen hat.