Folgen des Brüsseler Gipfels vom 8.12. 2011

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Fr 9. Dez 2011, 12:17 - Beitrag #1

Folgen des Brüsseler Gipfels vom 8.12. 2011

nun, was wird passieren? Spaltet sich die EU tatsächlich? Werden die beschlossenen Maßnahmen (Schuldenbremsen, automatische Sanktionen) zu einer nachhaltigen Marktbefriedung führen? Werden Großbritannien und Ungarn ausscheiden?

http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,802621,00.html

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Fr 9. Dez 2011, 15:26 - Beitrag #2

Zunächst scheint ein Europa der (mindestens) zwei Geschwindigkeiten unausweichlich, aber sowieso verwundert mich, daß wir nicht längst von einer zweigeteilten EU sprechen, denn durch den bewußten Nichtbeitritt zum Euro-Raum haben Großbritannien, Dänemark und Schweden diese Teilung ja längst vorgenommen. Um so ärgerlicher bin ich über die britische Drohung, die anderen Länder an der Nutzung von EU-Institutionen zu hindern.

Ungarns Sonderrolle steht klar im Zusammenhang mit der Regierung Orbán, darum mache ich mir hier keine weiteren Gedanken, es war nicht zu erwarten, daß von denen irgendetwas produktives kommt.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
So 11. Dez 2011, 20:55 - Beitrag #3

Einen Tag später stand Britannien dann ja plötzlich ganz allein da, Schweden, Tschechien und Ungarn haben sich gemeinsam mit den anderen Nicht-Euro-Ländern auf ein "im Prinzip ja, aber unsere Parlamente entscheiden" geeinigt.

Damit sieht es nach aktuellem Stand fast so aus, als könnte es nach einem Jahrzehnt der Stagnation endlich wieder voran gehen mit Europa - England raus, echte politische Union voraus!

Oder, wenn es Clegg gelingt, eine Palastrevolution anzuzetteln, kehrt Britannien vielleicht auch reumütig zurück? Da die Umfragen aber hinter Cameron stehen, ist darauf wohl nicht zu hoffen. Splendig Isolation, here we go.

Wenn man sich dann aber solche Stimmen anhört, hat man das Gefühl, dass es doch eher 27 Britanniens in der EU gibt, und es letztlich doch scheitern muss:
Zitat von Frank Schorkopf:[...]eine qualifizierte Mehrheit von 85 Prozent der Mitgliedstaaten ausreichen soll, wäre dann ein Riesenproblem, wenn damit eine Entscheidung gegen Deutschland möglich würde. Hier kommt es sehr darauf an, dass die Stimmen so gewichtet werden, dass Deutschland ein Veto behält.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
So 11. Dez 2011, 21:29 - Beitrag #4

die EU ist ein Gebilde, das die Kluft zwischen arm und reich immer weiter auseinander driften lassen und alle seine Bürger auf immer mehr Turbokapitalismus à la USA einschwören wird. Daher hatte ich eigentlich gehofft, es würden sich mehr Staaten dem Zugriff entziehen

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Mo 12. Dez 2011, 11:22 - Beitrag #5

weil es so schön passt: die öffentliche und die verborgene Seite der Krise

...

Schäuble leitete diese Passage seiner Rede mit den Worten ein: „Die Kritiker, die meinen, man müsse eine Kongruenz zwischen allen Politikbereichen haben, die gehen ja in Wahrheit von dem Regelungsmonopol des Nationalstaates aus.“ Diese durch das Völkerrecht geschützte Souveränität sei aber in Europa spätestens mit den beiden Weltkriegen „längst ad absurdum geführt“ worden.

Und weil dies so sei, formulierte er jenen folgenschweren Satz: „Und wir in Deutschland sind seit dem 8. Mai 1945 zu keinem Zeitpunkt mehr voll souverän gewesen.“

Deswegen sei der Versuch, in der europäischen Einigung, „eine neue Form von governance zu schaffen“. In dieser neuen Form gebe es dann halt nicht eine politische Ebene, die für alles zuständig sei und, gestützt auf „völkerrechtliche Verträge, bestimmte Dinge auf andere überträgt“.

...


„Nach meiner festen Überzeugung wird das 21. Jahrhundert ein sehr viel zukunftsweisender Ansatz als der Rückfall in die Regelungsmonopolstellung des klassischen Nationalstaates vergangener Jahrhunderte“, referierte Schäuble vor den Bankern.

„Ich möchte Ihnen ganz klar sagen, dass ich ziemlich überzeugt bin, dass wir in einer Zeit von weniger als 24 Monaten in der Lage sind und in der Lage sein werden, das europäische Regelwerk so zu verändern. Wir brauchen nur das Protokoll Nr. 14 im Lissabonvertrag so aufzubauen, dass wir daraus die Grundzüge einer Fiskalunion schaffen (…)“


da muss ich mir doch glatt zweimal über die Augen wischen, so dröhnen mir altem Sack, der mit dem Hohen Lied der nationalen Souveränität Deutschlands groß geworden ist, Schäubles Worte in den Ohren^^ natürlich, wer wollte, konnte schon in den 60er und 70er Jahren wissen, dass nationale Souveränität irgendwie was anderes ist als für unsere amerikanischen Freunde den Vasallen zu geben. Irgendwie auch schön, für die alten Einsichten nach so langer Zeit aus kompetentem Mund Bestätigung zu erhalten^^ war vielleicht doch keine Paranoia, damals^^

unschön allein vielleicht, wem gegenüber dieses Eingeständnis zustande kam und zu welchem Zwecke. Aber man kann wohl nicht alles haben^^

auch in den weiteren Passagen äußerst luzide Statements von Schäuble ... vielleicht ... nicht ganz das, was Otto und Luise Gutbürger erwarten würden^^

für mich alten Sack ist das alles sehr verwirrend^^ Da finde ich mich plötzlich im Schulterschluss mit Konservativen, die alte Positionen der Linken kolportieren, für die damals - und damals noch wirkliche - Linke auch schon mal im Knast landeten. Nur dass mittels unheimlicher Magie die Bedeutung der damaligen Positionen in den nahezu gleichlautenden heutigen Positionen ins exakte Gegenteil verkehrt wurde.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 12. Dez 2011, 17:40 - Beitrag #6

Wirklich spannend, dieser Welt-Artikel (und die Tatsache deines Verlinkens), Schäubles Rede habe ich damals nicht mitbekommen. Und der von Traitor zitierte Europarechtler offenbar auch nicht. -

Die Position kann ich aber besens nachvollziehen, Willensfreiheit ist ja schon beim Individuum kompliziert genug, um so schwieriger in übergeordneten Systemen; aber angesicht der Verflechtung staatlicher Akteure und ihrer (pro forma oder realen) Entscheidungsträger ist nicht nur für Deutschland die Zeit der Souveränität wohl schon länger vorbei. Nicht, daß ich dem besnders hinterhertrauerte, jedenfalls, solange die supranationalen Einheiten nicht schlechter und undemokratischer verwaltet werden als die nationalen; das wird sich aber erst zeigen müssen, wir befinden uns diesbezüglich wohl in einer erneuten Umbruchsphase.
die EU ist ein Gebilde, das die Kluft zwischen arm und reich immer weiter auseinander driften lassen und alle seine Bürger auf immer mehr Turbokapitalismus à la USA einschwören wird. Daher hatte ich eigentlich gehofft, es würden sich mehr Staaten dem Zugriff entziehen
Das ist dann natürlich auch ein zentraler Punkt dabei, der ziemlich direkt mit der Bürgermitwirkung verknüpft ist.

Ganz abgesehen davon, daß wohl recht fraglich ist, ob Europas Bürger derzeit mehrheitlich stärkere Vereinheitlichungen bis zur Gemeinstaatlichkeit mittragen würden (vor ein paar Jahren wäre die Bereitschaft wohl größer gewesen?), dürfte der Grad der direkten Machtausübung der Bürger auf europäische Institutionen in den nächsten Jahren eine erhebliche Rolle dafür spielen, wie sozial das ganze Gebilde wird.

Daß es eher auf einen EU-Durchschnitt als auf deutsches Niveau hinauslaufen dürfte, liegt dabei allerdings aus Kostengründen auf der Hand, interessant wäre, in welcher Richtung auch die Steuern europaweit vereinfacht und vereinheitlicht werden könnten (also für uns: sinken und vor allem gerechter werden) - ich habe da so meine Zweifel, aber die Hoffnung stirbt zuletzt...

Trotzdem halte ich weder "Turbokapitalismus" (ohnehin eine Schimäre) für ausgemacht noch weiteres Auseinanderdriften für einen Teil der Zielsetzung, das sind meines Erachtens Tendenzen, die in hohem Maße von den gewählten Vergleichsmaßstäben abhängen und entsprechend interpretationsbedürftig sind. Wie bewertet man sozialen Reichtum und dessen Nutzen für den Einzelnen? Hinsichtlich des öffentlichen Angebots sind die Schichten derzeit wohl in einem Maße zusammengerückt, das es so (außerhalb primitiver Gesellschaftsformen) noch nie gegeben haben dürfte.


Zurück zu Politik & Geschichte

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 2 Gäste