Löhne, Deutschland und soziale Gerechtigkeit

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Mi 14. Mär 2012, 17:30 - Beitrag #1

Löhne, Deutschland und soziale Gerechtigkeit

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/studie-entfacht-neue-gerechtigkeitsdebatte-jeder-vierte-beschaeftigte-erhaelt-nur-niedriglohn-1.1308326

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In Deutschland müssen knapp acht Millionen Menschen mit einem Niedriglohn von weniger als 9,15 Euro brutto pro Stunde auskommen. Ihre Zahl ist zwischen 1995 und 2010 um mehr als 2,3 Millionen gestiegen. Das geht aus einer Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen hervor. Demnach sind etwa 23 Prozent - fast ein Viertel der Beschäftigten - im Niedriglohnsektor tätig.

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Laut der Studie bekamen die Niedrigverdiener im Durchschnitt im Jahr 2010 6,68 Euro im Westen und 6,52 Euro im Osten. Von ihnen erhielten mehr als 4,1 Millionen weniger als sieben Euro, gut 2,5 Millionen weniger als sechs Euro und knapp 1,4 Millionen sogar nicht einmal fünf Euro die Stunde. Knapp jeder Zweite der niedrig bezahlten Menschen arbeitet dabei voll und nicht Teilzeit. So gibt es nach den Berechnungen des Instituts allein fast 800.000 Vollzeit-Beschäftigte, die weniger als sechs Euro kassieren können. Sie kamen damit auf einen Monatslohn, der unter 1000 Euro brutto lag.

...

Stark gestiegen ist die Zahl der niedrig Bezahlten vor allem in Westdeutschland. Der Studie zufolge wuchs sie in 15 Jahren in den alten Bundesländern um 68 Prozent ...


Regt sich jemand auf? Natürlich nicht. Woanders ist es schließlich viel schlimmer.

Trotzdem will es mir vorkommen, als ginge soziale Gerechtigkeit irgendwie anders. Und nein, ich meine damit nicht, dass HartzIV-Empfänger noch weniger Geld bekommen sollten.

Milena
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Mi 14. Mär 2012, 20:31 - Beitrag #2

..die kacke ist am dampfen und nicht erst seit heute....

Anaeyon
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Mi 14. Mär 2012, 20:57 - Beitrag #3

Wenn ich mit der Ausbildung fertig bin, kann ich beim durchschnittlichen Einstiegsgehalt in meinem Job mit einem Stundenlohn von ca. 15,6-16,8€ Brutto rechnen. Für die Hälfte davon würde ich nichtmal halbtags arbeiten wollen. Bild

Padreic
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Mi 14. Mär 2012, 22:53 - Beitrag #4

@Ipsi: Du bist ganz sicherlich nicht der einzige, den das stört. Dass es auch in der Öffentlichkeit ein Thema ist (wenn wohl auch noch nicht genug), zeigt ja auch die Mindestlohndebatte. Noch schöner als eine Debatte wäre natürlich, wenn tatsächlich ein solcher eingeführt würde.

Es ist eine Art Beleidigung, voll zu arbeiten und trotzdem am Ende doch am Ende des Monats keine 1000 Euro brutto in der Hand zu halten. Auch für einen Alleinstehenden ist das oftmals kaum über dem effektiven Hartz4-Satz (und ich bin wirklich nicht dafür, diesen zu senken!). Ein Mindestlohn könnte diesen Missständen abhelfen, genauso vielleicht wie flexiblere Möglichkeiten, die zwischen Hartz4 und einer voll bezahlten Arbeit stehen. Letzteres mag natürlich schwierig sein, so umzusetzen, dass der Staat nicht bloß Arbeitgebern Teile des Gehalts ersetzt.

Trotz aller Wut muss man doch die Zahlen in zweierlei Hinsicht mit Vorsicht genießen:
1) 1995 war die Erwerbstätigenzahl in Deutschland besonders niedrig. Heute haben wir fast vier Millionen mehr Erwerbstätige. Wenn man die Zahlen anders deuten wollte, könnte man sagen, dass heute 1,5 Millionen mehr Leute in nicht Niedriglohnsektoren beschäftigt sind. Aber ganz unabhängig von der Entwicklung, ist natürlich der Ist-Zustand ein Problem.
2) Man muss die Zahlen immer im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten sehen. Neun Euro die Stunde in der Uckermark sind, denke ich, ganz ok; in München sieht das natürlich schon ganz anders aus. Verbraucherpreise können durchaus um 30 bis 40 Prozent zwischen Kreisen divergieren, Mieten sogar um den Faktor zwei bis drei. Was ein niedriger Lohn ist, hängt von der Region ab; eine deutschlandweite Zahl ist nur begrenzt hilfreich. Vor allem ist es so, dass niedrige Löhne natürlich auch häufig mit niedrigen Lebenshaltungskosten korrelieren.

Wenn man also über einen deutschlandweiten Mindestlohn diskutiert, sollte man ihn regional verschieden halten; durchschnittlich 7 Euro wäre eine denkbare Marke. Wer in einem durchschnittlichen Kreis in Deutschland weniger bekommen würde, wäre zumindest finanziell auch nicht viel schlechter bedient, wenn sein Arbeitsplatz ganz wegfiele. Es gibt sicherlich aber auch Regionen in Deutschland, wo das zu hoch ist; wo Leute sogar in die Selbstständigkeit flüchten würden, um für weniger Geld arbeiten zu können, bevor sie ganz ohne Arbeit da stehen (ich denke dabei, z. B., an Friseure).

PostScriptum: Mir fällt gerade ein, dass ich anscheinend als studentische Hilfskraft (offiziell) auch schon niedriglohnbeschäftigt war, obgleich ich durchaus mit einem Bachelor vergleichbare Qualifikationen hatte. Mir kam es aber kaum so vor, da ich noch andere Einkünfte hatte und auch nicht immer so viel arbeiten musste, wie ich bezahlt wurde. Die meisten Niedriglohnbeschäftigten dürften nicht diese Annehmlichkeiten haben...

Maglor
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Mi 14. Mär 2012, 22:54 - Beitrag #5

Wenn ich mit meiner Ausbildung fertig bin, heißt es dann wohl Niedriglohnsektor ich kommen! :(

Zwischen der hohen Beschäftigungszahl und den Niedriglöhnen gibt es eine Art Zusammenhang. Vor vielen Jahren war es noch üblich, dass eine Familie von einem einzigen Gehalt buchstäblich ernährt wurde. Das ist so heute für weite Bevölkerugskreise nicht mehr möglich.
Ganze Branchen funktionieren so. Die Leute werden schlecht bezahlt, aber das ist ja egal, so lange sie aufgrund der familiären Situation keinen eigenständigen Hartz-IV-Anspruch haben.
Ein andere parallele Entwicklung ist der weitgehende Wegfall des gesetzlichen Ladenschlusses. Ganz selbstverständlich öffnen viele Geschäfte heute länger als 12 Stunden am Tag, benötigen mehr Personal, das entsprechend geringer bezahlt werden muss.

Ipsissimus
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Mi 14. Mär 2012, 23:39 - Beitrag #6

ein noch besseres Mittel als der Mindestlohn wäre die Preisbindung aller Waren und Dienstleistungen an die reale Kaufkraft der Unterschicht^^ wenn die Leute nur 500 Euro verdienen, darf die Miete für eine Dreizimmerwohnung warm eben nicht über 125 Euro liegen

e-noon
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Do 15. Mär 2012, 10:27 - Beitrag #7

6,52*8*22= 1 147,52 Euro/Monat brutto. Ipsi, ich denke nicht, dass jemand im Niedriglohnsektor mehr als den Spitzensteuersatz abdrücken muss ;-)
Wer 40 Stunden die Woche im Niedriglohnsektor arbeitet, dürfte zumindest 800 Euro netto bekommen. Davon kann man, wie Padreic sagt, je nach Gegend viel oder wenig kaufen. In Köln wäre das die Miete für eine Zweizimmerwohnung, aber ganz knapp. In einem Dorf nahe Gießen würde man vielleicht 300 Euro Warmmiete zahlen (ebenfalls für eine Zweizimmerwohnung) und hätte somit 500 Euro im Monat zur freien Verfügung, für Autos, Essen, wai. Damit könnte eine Person beispielsweise ganz gut leben. Ich finde das gar nicht so schlecht für einen gewissen Zeitraum; natürlich kann man davon allein keine Familie gründen, aber man muss es ja auch nicht unbedingt davon allein; das Ideal könnte so aussehen wie in Norwegen, mit Gehältern, von denen der Einzelne gut leben kann, während man erwartet, dass für eine Familiengründung beide Eltern arbeiten. Dafür müsste dann die Kinderbetreuung ausgebaut und kostenlos werden.

Ipsissimus
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Do 15. Mär 2012, 11:34 - Beitrag #8

na ja, e-noon, der genannte Bruttolohn liefert einen Nettolohn von 870 Euro (Kranken- und Sozialversicherung nicht vergessen), was für eine alleinstehende Person auf dem Land im allgemeinen ausreichen dürfte. Das ist dann aber auch die Obergrenze des Niedriglohnsektors. Wie das Zitat belegt, arbeiten eine erhebliche Anzahl Personen für deutlich weniger als den Lohn-Mittelwert, und insgesamt sind bei weitem nicht alle Niedrigverdiener vollzeitbeschäftigte, auf dem Land lebende Singles an der Obergrenze des Niedriglohnsektors.

Davon dass die Kinderbetreuung umfassend ausgebaut und kostenlos sei, sind wir auch noch weit entfernt; während das eine mögliche Teillösung für die Zukunft sein könnte, ist das Problem der Niedriglöhne allerdings eines der Gegenwart. Was der Zwang zum Doppelverdienst mit den Familien macht, ist dabei noch mal eine ganz andere Frage; aber vielleicht hat das klassische Familienmodell tatsächlich ausgedient. Fraglich nur, ob das, was dagegen gesetzt wird, wirklich besser ist, es ist ja nicht gerade so, als hätten wir keinerlei Probleme mit bei voller Kindergartenabschiebung vernachlässigten Kindern, denen einfach die Eltern fehlen.

Padreic, als Student hast du vielleicht noch Möglichkeiten des Zuerwerbs für dich persönlich; falls du erst mal in der Tretmühle drin bist, sieht das sehr viel kritischer aus:

Als HartzIVer darfst du nicht mehr als 100 Euro monatlich zuverdienen und als Vollzeitbeschäftigter mit 870 Euro netto wirst du nicht mehr viel Energie haben, um großartig einen Zweitjob zu fahren, abgesehen davon, dass viele Arbeitgeber das nicht erlauben. Und wenn (d)eine Familie davon abhängt, dass du regelmäßig ausreichende Geldmittel nach Hause bringst, führt das zu ganz flauen Gefühlen in der Bauchgegend.


Außerdem ist es insgesamt tatsächlich kein Problem der absoluten Lohnhöhe sondern eines der Relation zwischen Löhnen und Preisen. Und diese Relation ist meines Erachtens nach längst jenseits von gut und böse und bedürfte dringend der permanenten staatlichen Regulierung zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten. Womit ich wieder eine Art Sozialismus fordere, das ist mir klar, und dazu stehe ich auch. Ich denke allerdings, dass dies auf Dauer die kostengünstigere Lösung im Vergleich zu einem Bürgerkrieg sein wird.

janw
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Do 15. Mär 2012, 16:18 - Beitrag #9

Zitat von Ipsissmus:Ich denke allerdings, dass dies auf Dauer die kostengünstigere Lösung im Vergleich zu einem Bürgerkrieg sein wird.

Aber nicht die potentiell gewinnträchtigere für die absehbaren Gewinner^^


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