Muss es gesagt werden?

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Mi 4. Apr 2012, 18:16 - Beitrag #1

Muss es gesagt werden?

der Schriftsteller Günter Grass veröffentlichte heute parallel in der Süddeutschen Zeitung, in der New York Times und in La Repubblica folgendes Gedicht

Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in Planspielen
geübt wurde, an deren Ende als Überlebende
wir allenfalls Fußnoten sind.

Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte,
weil in dessen Machtbereich der Bau
einer Atombombe vermutet wird.


Doch warum untersage ich mir,
jenes andere Land beim Namen zu nennen,
in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten -
ein wachsend nukleares Potential verfügbar
aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung
zugänglich ist?


Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er mißachtet wird;
das Verdikt "Antisemitismus" ist geläufig.


Jetzt aber, weil aus meinem Land,
das von ureigenen Verbrechen,
die ohne Vergleich sind,
Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,
wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch
mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,
ein weiteres U-Boot nach Israel
geliefert werden soll, dessen Spezialität
darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe
dorthin lenken zu können, wo die Existenz
einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,
doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,
sage ich, was gesagt werden muß.

Warum aber schwieg ich bislang?
Weil ich meinte, meine Herkunft,
die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,
verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit
dem Land Israel, dem ich verbunden bin
und bleiben will, zuzumuten.

Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muß,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir - als Deutsche belastet genug -
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.

Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,
weil ich der Heuchelei des Westens
überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,
es mögen sich viele vom Schweigen befreien,
den Verursacher der erkennbaren Gefahr
zum Verzicht auf Gewalt auffordern und
gleichfalls darauf bestehen,
daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle
des israelischen atomaren Potentials
und der iranischen Atomanlagen
durch eine internationale Instanz
von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.

Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,
mehr noch, allen Menschen, die in dieser
vom Wahn okkupierten Region
dicht bei dicht verfeindet leben
und letztlich auch uns zu helfen.



zitiert nach http://www.sueddeutsche.de/kultur/gedicht-zum-konflikt-zwischen-israel-und-iran-was-gesagt-werden-muss-1.1325809

mein weltliebster Journalist Henryk M. Broder reagierte prompt und erkannte in Grass den Prototypen des gebildeten Antisemiten, eine noch milde Formulierung, hier findet sich eine Zusammenfassung sehr viel deutlicherer Stellungnahmen




Nun, das Gedicht heißt "Was gesagt werden muss". Musste es gesagt werden? Musste es so gesagt werden? Ist es überflüssig oder nur politisch anstößig (als entgegengesetzt zu sachlich begründet)? Und was haltet ihr von dem Gedicht?

Anaeyon
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Mi 4. Apr 2012, 18:23 - Beitrag #2

Es wurde schon tausende Male gesagt. Nun aber von jemandem, dessen Name man kennt. Gibts dazu mehr zu sagen? Muss man jetzt bei Grass über Antisemitismus debattieren, obwohl an diesem Gedicht offensichtlich nichts antisemitisch ist? Bild

Edit: Und nun lasset die Grundsatzdiskussion beginnen Bild

Lykurg
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Mi 4. Apr 2012, 21:33 - Beitrag #3

Broder geht mir oft viel zu weit, und auch hier finde ich die Trennlinie zwischen Antizionismus und Antisemitismus nicht so klar überschritten wie er - bzw. Grass versucht, nicht als Antisemit wahrgenommen zu werden. Allerdings muß ich Broder rechtgeben, daß a) sein Verhalten einem sehr typischen Muster entspricht: "man darf es nicht sagen, aber einer muß es tun, also mache ich das" und b) gerade Grass sich absolut nicht dazu eignet, diese Kritik auszusprechen. Etwas direkter gesagt: der Kerl sollte die Fresse halten. Die von Broder referierten Aussagen, in denen Grass unter anderem das Existenzrecht Israels negiert, sind jedenfalls heftig, noch mehr die Sache mit den "sechs Millionen liqidierten deutschen Soldaten", und lassen meines Erachtens Broders Einschätzung von Salonantisemitismus begründet erscheinen, zwar nicht direkt auf diesen Text, wohl aber auf die Person bezogen. Die Aussage im Gedicht "dem Land Israel, dem ich verbunden bin" ist dann jedenfalls reine Heuchelei und ziemlich eklig.

Der von ihm herbeigeredete Erstschlag, der 'das iranische Volk auslöschen könnte', ist völlig haltlose antiisraelische Propaganda, schließlich werden die Israelis, wenn auch immer und was auch immer sie tun, sicherlich keine Nuklearschläge gegen Großstädte durchführen. Warum hat Grass dasselbe nicht etwa vor dem Irak- oder dem Afghanistankrieg behauptet?
Und ja, es mußte gesagt werden, schon damit die Parteizeitungen von Linkspartei bis NPD was nachzudrucken haben. Und es mußte gesagt werden, um den armen vergessenen Autor Grass wieder ein bißchen in den Vordergrund zu rücken, bevor sein nächstes Buch "Die Politur eines Kothaufens" erscheint, in dem er seine Freundschaft mit Israel beteuert und alles wieder geraderückt.

Maglor
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Mi 4. Apr 2012, 21:53 - Beitrag #4

Literarisch bietet dieser Aufsatz wenig interessantes. In der Sache bietet er wenig neues.
Und ja das musste mal gesagt werden.
Die idiotische Meta-Ebene, ob Günter Grass nun ein gebildeter Antisemit, Antizionist oder ein Altnazi ist, verdient eigentlich kein weiteren Beachtung. Meines Erachtens kann man in das Gedicht auch nur äußerst schwer Antizionismus hineininterpretieren, die Existenz des Staates Israel wird von ihm nicht abgelehnt. Richtig ist allerdings, dass ein atomarer Erstschlag bisher nicht auf der politischen Agenda Israels stand. Mordanschläge, Computerviren und ähnliche Schlapphut-Geschosse genügten bisher.

Die eigentliche Perversion ist der umgreifende Kriegseifer. Wie laut darüber nachgedacht wird, wie Israel am einfachsten und sichersten das iranische Atomprogramm pulverisieren könnte. Hier ist ist natürlich beachten, dass die angeblichen israelischen Kriegspläne vor allem eine Medienblase sind - meines Erachtens ein unwahrscheinliches Szenario. (Dazu gehört natürlich noch die beliebte Zeitungsente, Achmadineschad plane das israelische Volk zu vernichten.)
Zu viele Hirne mussten in einem Krieg verbrennen, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. :crazy:

Klar ist eines, so krass das Gedicht auch ist, wesentliche Aspekte bleiben unbenannt:
- Saudi-Arabien, Katar und andere arabische Staaten sind selbst in die nukleare Forschung eingestiegen, verbunden mit der offenen Drohung, im Falle einer iranischen Bombe ebenfalls nachzurüsten (Saudi-Arabien könnte wahrscheinlich jederzeit eine pakistanische Bombe erhalten, da es finanziell maßgeblich am pakistanischen Atomprogramm beteiligt ist.)
Die Gefahren im Nahen Osten liegen derzeit ganz woanders. Sowohl der Iran als auch Israel erscheinen derzeit als Statisten, wärend hinten weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen.

Lykurg
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Mi 4. Apr 2012, 23:52 - Beitrag #5

Literarisch sehe ich gar nichts darin.
Die angebliche Gedichtform ist hier nur
die sehr magere Verbrämung eines
politischen Pamphlets, dessen Zeilenbruch
ihm den Anschein von Dichtung erweckt,
von bleibendem Wert und hehrer Größe,
ohne dies Versprechen einlösen zu können.

Warum schwieg er nicht, schwieg nicht länger,
und nahm die vom Alter gebräunte Tinte,
die er die letzte nennt, mit ins Grab,
wo sie keinen Schaden angerichtet hätte?
Zeigte er doch mit diesem Text, den als Literatur
zu bemänteln vielleicht er vermeinte, ihm
eine gewisse Daseinsberechtigung zu geben:

Daß er sie nicht mehr alle beisammen hat,
seine Wahrnehmung der Dinge sich getrübt hat
und Sprachmuster seiner NS-Sozialisation
wieder zum Durchbruch kommen.
Wem meinte er in seinem Wahn zu nützen,
was wollte der Dichter damit uns sagen
und glaubte er wirklich zu helfen?

Ipsissimus
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Do 5. Apr 2012, 11:17 - Beitrag #6

da werden wohl eine Menge Dinge miteinander verschwurbelt, die erst mal nichts miteinander zu tun haben. Eine wahre Offenbarung war diesbezüglich heute Morgen die Presseschau im DLF, eine derart einhellige empörte Ablehnung vermochte noch nicht mal Sarrazin auf sich zu ziehen.

Man könnte natürlich darauf hinweisen, dass diese Einhelligkeit und diese Empörung in psychologischer Hinsicht äußerst beredt sind - der Patient schreit auf, weil der Arzt mit dem Finger die schmerzende Wunde berührt hat. Wie dem auch sei.

Grass schreibt
Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte
er schreibt also nichts von einem atomaren Erstschlag - man kann zwar argumentieren, dass sich das folgende nur mit einem atomaren Erstschlag realisieren lässt - übrigens nur mit Wasserstoffbomben, nicht mit Atomwaffen, und über Wasserstoffbomben verfügt Israel, nach allem, was man weiß, nicht - man kann aber auch etwas anderes vermuten: dass die in den Kritiken vielfach vorgenommene reflexartige automatische Ergänzung des "Erstschlags" zum "atomaren Erstschlag" ein Hinweis darauf ist, dass genau diese Befürchtung besteht, aber nicht ausgesprochen werden soll oder darf. Wobei der Hinweis mit dem U-Boot eigentlich sachlich überprüfbar sein sollte. Andererseits aber wohl kein großes Interesse daran besteht, die Tatsache publik zu machen, dass Deutschland in der Lage ist, erstschlagsfähige U-Boote zu bauen und diese auch verkauft.


Ein für mich sehr viel näher liegendes Anliegen von Grass, das in der Angriffsschelte ein wenig untergeht, besteht aber in den Hinweisen auf eine politisch und mediale Praxis in Deutschlad, die darauf hinausläuft, dass Israel für Deutsche keine Nation wie jede andere ist, und dass die Kritik an Israel daher notwendig spezifische Rücksichtnahmen zu erfüllen hat. Man kann über das Ausmaß dieses Sachverhalts gewiss unterschiedlicher Meinung sein, ihn zu bestreiten liegt auf der gleichen Ebene wie zu bestreiten, dass die Erde eine geringfügig verzerrte Kugel ist. Wenn ich mir die Vehemenz der Kritik an Grass vergegenwärtige, fällt es mir allerdings schwer, das Ausmaß des öffentlichen Kritikvermeidungsgebots als geringfügig einzustufen. Und dass eine politische Absicht dahinter steckt, Kritik an Israel mit dem Vorwurf des Antisemitismus oder des Antizionismus zu kontern, nun ja, ist derart offensichtlich, dass es mir schwerfällt, Stellungnahmen inhaltlich ernst zu nehmen, die das bestreiten.

Und da gebe ich Grass vollkommen Recht: Wir tun weder uns noch Israel einen wirklichen Gefallen damit, wenn wir politische Empfindlichkeiten und Notwendigkeiten über Transparenz und klare Einsichten stellen. "Freunde" sind gerade nicht dadurch charakterisiert, dass sie die Fehler des jeweils anderen schön reden oder ignorieren helfen; Freunde sind jene, die einander die Wahrheit sagen - über die Details kann man dann immer noch in aller Zuneigung streiten. Und vielleicht ist das die unverzeihbare Enthüllung - Deutschland und Israel sind außerhalb der Proklamation und der politischen Notwendigkeiten keine wirklichen Freunde.

Maglor
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Do 5. Apr 2012, 15:17 - Beitrag #7

Zitat von Ipsissimus:Andererseits aber wohl kein großes Interesse daran besteht, die Tatsache publik zu machen, dass Deutschland in der Lage ist, erstschlagsfähige U-Boote zu bauen und diese auch verkauft.

Welche üble Unterstellung, Deutschland hätte ganze U-Boote verkauft.
1/3 des Kaufpreises zahlte der deutsche Staat. 2/3 des Kaufpreises zahlte tatsächlich Israel.
Warum wird einem jüdischen Staat immer unterstellte ganze U-Boote zu kaufen. Höre ich da antisemitische Untertöne? :crazy:

Trotz ohne gerade wegen des kleinen Geschenk von einem U-Boot-Drittel können Deutschland und Israel noch Freunde bleiben.
Grass hat das nicht enthüllt, seine Quelle sind die Massenmedien. Die Übereignung des U-Bootes war publik, ebenso dessen Eignung zum Abschuss von Mittelstreckenrakten, siehe ARD 20.03.2012.

Wie Ipsissimus schreibt: Die eigentliche Pointe - nämlich die Schuld Deutschland an einer möglichen Vernichtung des iranischen Volkes - wird von der Mehrheit der Rezipienten nicht erkannt und geht in der Antisemitismus-Debatte unter. Es handelt sich um einen Apell an die deutsche Außenpolitik die Waffenlieferungen an Israel einzustellen, Israel als normalen Staat (der Teile anderer Staaten besetzt hält) und nicht als Narrenstaat mit Narrenfreiheit zu behandeln und schließlich den Iran und Israel an den Verhandlungstisch zu führen.

Lykurg
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Do 5. Apr 2012, 17:04 - Beitrag #8

Zitat von Ipsissimus:er schreibt also nichts von einem atomaren Erstschlag - man kann zwar argumentieren, dass sich das folgende nur mit einem atomaren Erstschlag realisieren lässt
Er schreibt nichts vom atomaren Erstschlag, aber "atomar" bzw. "nuklear" ist eine völlig selbstverständliche Kollokation von "Erstschlag", vgl. z.B. DWDS. Ich gehe fest davon aus, daß Grass eben dies meinte]Grass hat das nicht enthüllt, seine Quelle sind die Massenmedien.[/QUOTE] Warum spricht er die ganze Zeit vom Verschweigen? Er benutzt längst zugängliche Informationen und vertritt Positionen, die zumindest in der Linkspartei einhellig geteilt und vertreten werden. Eine "mögliche Vernichtung des iranischen Volkes", Maglor - wie stellst du dir die vor?

Maglor
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Do 5. Apr 2012, 19:05 - Beitrag #9

Man muss nur eins und eins zusammenzählen. Ein atomarer Erstschlag gegen den Iran könnte das iranische Volk auslöschen. So schreibt es Günter Grass.
Wenn Israel alle Atombomben gegen iranische Großstädte einsetzen würde, ist mit Toten im Millionen-Bereich zu rechnen. Mit diesem Szenario ist allerdings nicht zu rechnen - nicht einmal bei einer Likud-Reigerung auch nicht als Planspiel.

Zu dem Planspiel gezielter israelischer Erstschlag gegen nukleare Zentren:
Israel ist sicherlich technisch dazu in der Lage, entsprechende Anlagen mit konventionellen Waffen zu zerstören, ohne dass dabei nennenswert Zivilisten ums Leben kommen.
Technisch ja ... Politisch ist jedoch mit einem Gegenschlag zu rechnen. Der Iran selbst verfügt über bereits konventionelle Raketen, Flugzeuge usw. und ist daher zum Gegenschlag technisch in der Lage. (Und da die meisten Westler das iranische Regime für ideologisch verblendet, antisemitisch, eschatologisch, nationalistisch und persephonisch halten, ist mit einem konventionellem Gegenschlag zu rechnen, auch wenn dieser eine nukleare Antwort Israels nach sich ziehen könnte.) Darüber hinaus würde ein israelischer Angriffskrieg auch eine Eskaltion in den labilen arabischen Staaten und den Palästinensergebieten. Seit einigen Jahren kennen wir das Phänomen arabischer Wutbürger, die nicht nur mit Schuhen werfen oder Fahnen verbrennen. Das Szenario einer Volkserhebung und eines Sturms auf die Grenzen ist durchaus realistisch und die Diktatoren und Prinzen werden ihr Volk nicht mehr aufhalten können.

Günter Grass denkt sich sein eigenes Planspiel aus und das hätte nicht unbedingt gesagt werden müssen. Imaginäre Erstschläge, imaginäre Bomben ... Was gibt es neues im Niger, in Georgien oder Burma? Wo bricht in Wirklichkeit der nächste Krieg aus?

Lykurg
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Do 5. Apr 2012, 19:15 - Beitrag #10

Eben, Maglor: "so schreibt es Günter Grass." - ich wollte nur sicherstellen, daß du tatsächlich hier nur Grass' Wahnphantasien zitierst, denn es hätte mich überrascht, wenn du selbst es als realistisch gesehen hättest.

Ipsissimus
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Mo 9. Apr 2012, 09:31 - Beitrag #11

Ich möchte dir keine böse Absicht unterstellen
du darfst mir jederzeit zwielichtige Absichten unterstellen, selbst wenn die Zwielichtigkeit in den meisten Fällen nur dem möglichen Erkenntnisgewinn der Darstellungsweise geschuldet ist^^

was die Grass´schen Wahnvorstellungen anbelangt, kann ich dir allerdings nicht entgegenkommen, er formuliert genau die Eventualitäten, die ich schon seit langem erwäge ... sehr viele andere Menschen übrigens auch - Grass kommt, wie schon mehrmals, einfach nur um Jahre bis Jahrzehnte zu spät, das macht es ein bisschen peinlich, aber hej, man kann sich seine Verbündeten nicht immer aussuchen^^

Und zu bestreiten, das speziell Deutschland gegenüber Israel mit einer Mischung von Geschäftssucht, Hörigkeit und schlechtem Gewissen agiert, na ja, das wäre schon arge Parteilichkeit. Im übrigen sind die Vermutungen und Befüchtungen von Grass nichts anderes als die Vermutungen und Befürchtungen, die alle Atommächte ganz grundsätzlich treffen, man hat keine Atomwaffen, wenn man sie nicht einzusetzen gedenkt. Natürlich immer nur, wenn die bösen anderen einen dazu zwingen, und wenn man dazu deren Atomwaffen eigenhändig erfinden muss. Wie das geht, haben wir ja schon im Irak verstanden.

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Mo 9. Apr 2012, 10:36 - Beitrag #12

Nun, die Zwielichtigkeit hätte hier darin bestanden, eine Aussage (die zum ["konventionellen"] Erstschlag) in einer Weise zu deuten, wie sie sicherlich nicht gemeint war - etwa, wie wenn ich dein
Grass kommt, wie schon mehrmals, einfach nur um Jahre bis Jahrzehnte zu spät, das macht es ein bisschen peinlich, aber hej, man kann sich seine Verbündeten nicht immer aussuchen^^
dahingehend auffasse, daß er in Bezug auf die Juden mal eben sieben bis acht Jahrzehnte zu spät kommt, aber hej, man kann...^^ (ein bißchen peinlich aber, das gebe ich zu, gerade, daß der Kerl dann auch noch als Nobelpreisträger irgendwie auch unser Land in der Öffentlichkeit vertritt).

Die drei genannten Punkte bestreite ich nicht, sehe sie aber alle als legitim an. Darin unterscheiden wir uns offensichtlich. - Wie auch in der Wahrnehmung des Irak-Kriegs, denn vom Einsatz von Atomwaffen gegen Bagdad habe ich nichts mitbekommen, vielleicht kannst du mich da ja aufklären.
man hat keine Atomwaffen, wenn man sie nicht einzusetzen gedenkt.
Wir haben derzeit wohl neun Atommächte, von denen nur eine jemals Atombomben eingesetzt hat - und das geschah, als Grass noch seine schicke schwarze Zwiebelschale anhatte.
Man könnte übrigens auch Südafrika dazuzählen, das zwischenzeitig über Atomwaffen verfügte, sie aber nie eingesetzt und 1991 vernichtet hat (ähnlich wie diverse GUS-Staaten, wenn auch ohne eigene Entwicklung). Das müßte doch eigentlich deine These hinreichend widerlegen.^^

Ipsissimus
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Mo 9. Apr 2012, 11:26 - Beitrag #13

ich spreche nicht über Juden, Lykurg, ich spreche über den Staat Israel. Als Staat genießt dieser Staat genau so viel Respekt und Kritik wie jeder andere Staat auch - nur das der zweite Teil davon in Deutschland derart mit Stigmata umwoben ist, dass man es offensichtlich zum eigenen Wohlergehen besser gleich sein lässt.

Es ist normalerweise nicht nötig, Atomwaffen einzusetzen, wenn die restliche militärische Macht ausreicht. Sie sind so oder so ein Erpressungsmittel. Es reicht, dass der Gegner weiß, dass sie existieren. Deine Argumentation lässt sich im übrigen auch umkehren - wenn denn noch nie eine Atommacht bis auf eine diese Waffen eingesetzt hat, was spricht dann dagegen, allen möglichen Länder, z.B. den Iran oder Nordkorea, diese Waffen zuzubilligen. Offenbar können Nationen ja verantwortungsbewusst mit dieser Technologie umgehen. Und darum geht es dem Iran ja möglicherweise. Dieses Land fühlt sich möglicherweise bedroht, weil es, im Gegensatz zu den Freunden Israels, nicht per se und a priori weiß, ob es den Israelis trauen kann. Und folgt daher der gleichen Logik, aufgrund der auch Israel selbst sich die Bombe verschaffte. Abschreckung. Ist doch also alles okay, wenn wir den Grundsatz gleiches Recht für alle ernst nehmen.

Es ist natürlich überhaupt nichts okay. Dies geht aber aus meiner Sicht genau so sehr vom Iran aus wie von Israel und anderen Einflussgrößen. Von mir aus muss dem Iran die Bombe verweigert werden. Dann muss sie aber zeitgleich Israel weggenommen werden. Und Pakistan, und allen weiteren Atommächten. Denen traue ich genau so weit wie dem Iran oder Nordkorea oder sonst irgendeiner Macht mit zuviel Macht. Und das ist der Punkt. Es geht hier nicht um Moral sondern um Macht. Mächte werden Atommächte, damit ihnen niemand mehr was wegnehmen kann.

Mag sein, dass Grass das alles ein bisschen zu sehr zugespitzt und ein bisschen zu wenig in den globalen Kontext gestellt hat. Aber im Kern gebe ich seinen Aussagen uneingeschränkt recht. Die Gefahr im Nahen Osten geht derzeit mindestens genauso sehr von Israel wie von Iran aus. Nur dass letzteres von unseren Medien permanent kolportiert und ersteres ebenso permanent verschleiert wird.

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Mo 9. Apr 2012, 12:25 - Beitrag #14

nur das der zweite Teil davon in Deutschland derart mit Stigmata umwoben ist, dass man es offensichtlich zum eigenen Wohlergehen besser gleich sein lässt.
Wohlergehen oder Anstand? Wenn die Sache so eindeutig ist, wie du meinst, warum sollen dann ausgerechnet die Deutschen, die in dieser Sache nun wirklich so vorbelastet sind, daß jedes kritische Wort sofort auf ihre unselige Geschichte zurückbezogen wird, vorpreschen und Israel dafür zur Rechenschaft ziehen? Wären die Briten, Franzosen, Italiener oder meinetwegen auch China oder Burkina Faso nicht viel geeigneter dafür, in dieser Frage eine einigemaßen neutrale Position zu vertreten und genau die Vorbehalte, die Grass deiner Meinung nach zu Recht hat, zu äußern? Siehst du nicht, daß es der Sache, egal wie berechtigt sie sein mag, schadet, wenn ihr Vertreter so begründetermaßen parteiisch und vorbelastet ist? Wenn aber Grass der einzige wäre, der den Einwand wirkungsvoll äußern würde, was sagte das dann über dessen Glaubwürdigkeit bzw. Relevanz? Ich schätze ihn nicht hoch genug ein, in ihm einen Seher des Verborgenen zu begreifen, nicht und erst recht nicht nach diesem plump-agitatorischen Pamphlet voller inhaltlicher Fehler.

Ja, diese Anwendung von "Gleiches Recht für alle" halte ich auch für denkbar, interessant, daß du jetzt damit kommst. Daß Grass sich etwa kritisch zur indischen oder pakistanischen Bombe geäußert hätte, wäre mir nicht bewußt, dabei haben beide Länder miteinander Krieg geführt. Nein, seine Kritik trifft ausschließlich Israel; das Gefahrenpotential des Iran wird systematisch kleingeredet, und dafür ist ihm jedes Mittel recht. Ja, ich bin ebenfalls für eine allgemeine nukleare Abrüstung. Die Bombe ist enorm gefährlich (und teuer). Es muß allerdings sichergestellt werden, daß keiner sie sich nachher beschafft, und da ist leider einigen Ländern derzeit nicht über den Weg zu trauen.
Die Gefahr im Nahen Osten geht derzeit mindestens genauso sehr von Israel wie von Iran aus. Nur dass letzteres von unseren Medien permanent kolportiert und ersteres ebenso permanent verschleiert wird.
Gefahr wofür? Israel versucht den Status quo, seine staatliche Existenz, zu halten, auch durch militärische Einsätze (während der Iran 'nur' Terrororganisationen finanziert, das ist ja auch einfacher und weniger schmutzig). Währenddessen sucht Israel seit Jahrzehnten nach einer Lösung für die besetzten Gebiete, war auch schon mehrfach zu Zweistaatenlösungen bereit, verlangt dafür aber natürlich Sicherheitsgarantien, die etwa in Hamastan niemand gibt. Der Iran droht mit weitergehenden Angriffen. Das kann man, wie Grass, als hohle Drohungen bezeichnen, aber nicht negieren.

Maglor
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Mo 9. Apr 2012, 18:48 - Beitrag #15

Richtig ist, dass Israel eine Bedrohung für den Weltfrieden ist.
Dass es sich seit Jahrzehnten für den Frieden einsetzt, ist doch recht beschönigend ausgedrückt. Israels Angriff auf den Libanon liegt gerade einmal sechs Jahre zurück. (Gut, Atomwaffen haben sie selbstverständlich nicht eingesetzt.) Und im Westjordanland und Ostjerusalem stecken die Siedler ihre Plains ab. Währenddessen drohen die Rehierung ganz nebenbei dem Iran mit einer militärischen Lösung, eigentlich reine Gewohnheit, während sie Teile Syriens (quasi Status quo = tickende Zeitbombe) besetzt hält.

Der deutliche Unterschied zu anderen "illegalen" Atommächten wie Indien, Pakistan oder Nordkorea, ist das diese Länder von Deutschland keine Rüstungsgüter geschenkt bekommen. Wenn jemand etwas daran ändern kann, dann nur Deutschland.

Nochmal zu Grass:
Sein größter Denkfehler ist, dass den ganzen Nah-Ost-Konflikt auf Juden hier, Muslime dort reduziert. Das ist falscher als falsch und ein Hohn, beachtet man das in diesem Augenblick wahrscheinlich in Syrien der Schnitter sich keine Mittagspause gönnt.
Achja, und dass Netanjahu oder sonstwer die atomare Auslöschung des iranischen Volkes plane, ist an sich eine üble Unterstellung.
Tatsache ist jedoch, dass der derzeitigen 5-Parteien-Regierung Israels auch etliche nicht vorzeigbare Rassisten angehören.
Israels Außenminister Avigdor Lieberman toppt nicht nur den Premierminister Netanjahu sondern kann rhetorisch auch mit Achmadineschad überbieten.
Innenminister Eli Jischai, der Günter Grass präventiv die Einreise verbot, ist auch nicht ohne weiteres als friedliebender Demokrat im eigentlichen Sinne abzustempeln. :rolleyes:

Lykurg
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Mo 9. Apr 2012, 21:24 - Beitrag #16

Zutreffender ist, daß der Nahostkonflikt eine Bedrohung für den Weltfrieden ist - und daß ohne Israel der Nahostkonflikt weniger kompliziert wäre, aber immer noch komplex genug, wie du im anderen Thread sehr schön dargestellt hast.

Entzückend, ja - wobei ich die innere Logik darin, einen Türsteher zum Außenminister zu machen, weniger verstehen kann als wenn man ihn zum Innenminister ernannte. Gleichwie, mit den beiden tut man sich sicher keinen Gefallen, aber sie bzw. ihre Parteien wurden gewählt, was sie immerhin von einigen ihrer Amtskollegen in diversen Nachbarländern unterscheidet.

Waffengeschenke an Israel sind mir noch nicht aufgefallen; sicher massiv verbilligter Verkauf. Aber staatliche Unterstützung im Waffenhandel gibt es z.B. auch für den Eurofighter-Verkauf an Indien. Daß unsere Panzer auch in der Türkei, Saudi-Arabien (270 Leopard 2 A7+, das ist schon recht nett), Pakistan und anderswo rollen, ist ja bekannt; jeweils mischt die Politik eifrig mit, damit alles gut über die Bühne geht.

[url=http://www.aufschrei-waffenhandel.de/Einzelansicht.96.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=71&cHash=3f02e08217d1fd4efde672a47581ba4f]250 Leopard 1[/url] sind nach Brasilien geliefert worden, für insgesamt 11 Mio. Euro - für einen Gebrauchtwagen mit so vielen Zusatzfunktionen scheint mir das auch ein Freundschaftspreis zu sein. Und auch über mangelndes Wertbewußtsein der Griechen braucht man sich keine Gedanken zu machen, die haben immerhin 2011 noch einen großen Restposten deutscher Panzerhaubitzen aufgekauft, vielleicht wollen sie sie zur sanften Überzeugung von Gläubigern einsetzen.

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Di 10. Apr 2012, 12:20 - Beitrag #17

warum sollen dann ausgerechnet die Deutschen, die in dieser Sache nun wirklich so vorbelastet sind, daß jedes kritische Wort sofort auf ihre unselige Geschichte zurückbezogen wird, vorpreschen und Israel dafür zur Rechenschaft ziehen? Wären die Briten, Franzosen, Italiener ...


sind es denn die Deutschen? Mir kommt es vor wie ein Deutscher (auch wenn er mittlerweile nicht mehr völlig allein steht), und der wurde angeblich oder tatsächlich von seinem Gewissen dazu angehalten. Aber wichtiger: es muss von Menschen gemacht werden, denen es ein Anliegen ist; die, denen es kein Anliegen ist, oder für die alles als in bester Ordnung ist, die werden es sicher nicht tun.

Grass ist auch nicht in der Weise vorbelastet, wie seine Mitgliedschaft in der Waffen SS gelegentlich aufgebläht wird - ihm deswegen den Mund verbieten zu wollen, erachte ich als Vorwand. Und Grass ist auch bei weitem nicht der einzige, der Israel kritisch betrachtet und kommentiert.

Davon abgesehen hat Grass der Israel-Kritik einen Bärendienst erwiesen durch seine unpräzisen Formulierungen. Es war eigentlich klar wie Klärchen, dass bei einem derart schludrigen Text die inhaltliche Auseinandersetzung unter Nutzung von Korinthenkackerei untergehen würde.

... diese Anwendung von "Gleiches Recht für alle" halte ich auch für denkbar, interessant, daß du jetzt damit kommst.
aber Lykurg^^ ich habe mich schon oft entsprechend geäußert, nur standen da andere Länder im Fokus. Und welche Anwendung von "Gleiches Recht für alle" steht dir denn im Sinn? "Gleicheres Recht für alle Gleicheren?" Israel hat keine Sonderrechte. Das Land hat lediglich die Atombombe. Wo bleibt deine Ablehnung von Atomwaffen? Gut, die kommt im Folgenden. Dann scheinen wir uns nur hinsichtlich der Auswahl der Länder, denen derzeit nicht über den Weg zu trauen ist, zu unterscheiden^^

das Gefahrenpotential des Iran wird systematisch kleingeredet
du erinnerst dich noch an Massenvernichtungswaffen im Irak? Deine Argumentation könnte Punkt für Punkt von Rumsfield stammen. Man streut einfach irgendeine Verdächtigung, und nachdem man den Krieg bekam, den man wollte, spricht man von geheimdienstlichen Fehlern, wenn die Waffen partout nicht da sein wollen. Schlimm daran ist lediglich, dass man das Spiel offenbar immer wieder durchziehen kann. Es könnte ja immer wieder was dran sein^^ damit kannst du jeden erwünschten Krieg begründen

Währenddessen sucht Israel seit Jahrzehnten nach einer Lösung für die besetzten Gebiete, war auch schon mehrfach zu Zweistaatenlösungen bereit
es fällt mir schwer zu glauben, dass du das auch nur andeutungsweise ernst meinst. Israel sucht vielleicht nach Lösungen, aber das sind Lösungen, bei denen die Palästinenser alles und die Israelis nichts zu erdulden haben; und ihre Bereitschaft zur Zweistaatenlösung entspricht der Assads zum Waffenstillstand - als kurzfristige Beschwichtigungen seiner Partner, wenn die denn gelegentlich zu empört sind oder es sonstwas politisch durchzusetzen gilt.

übrigens^^ http://www.sueddeutsche.de/politik/israelischer-autor-uri-avnery-kritik-verbot-an-israel-ist-antisemitisch-1.1328555

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Di 10. Apr 2012, 20:47 - Beitrag #18

alle Zitate http://www.hintergrund.de/201204062011/feuilleton/zeitfragen/was-auch-noch-gesagt-werden-muss.html

Moshe Zuckermann
Eine gut orchestrierte Hysterie

Zum Wesen des Tabus gehört es, dass es ein Stillschweigen über etwas gebietet, was zwar gewusst oder geahnt, aber unausgesprochen bleiben muss. Das „Muss“ ist dabei einer gesellschaftlichen bzw. kulturellen Konvention geschuldet, einer Übereinkunft, der man anthropologisch oder soziologisch verschiedene Funktionen zuschreiben mag, die aber als historisch entstandene keine Absolutheit beanspruchen darf. Die Tabuübertretung ist, so besehen, der Ausbruch aus einer Konvention, der deshalb geahndet wird, weil die schiere Konvention für unantastbar erklärt worden ist. Das Problem mit dem Einhalten des Tabus beginnt indes dort, wo sich die Konvention als in partikularem Sinne interessengeleitet, mithin als im Wesen ideologisch erweist. Ein solcher Tabubruch wirkt sich als narzisstische Kränkung der Konventionsplatzhalter aus, eine aggressionsfördernde Kränkung, die sich ihrerseits dem Ärger über den – dem ideologischen Eigeninteresse der Platzhalter durch besagten Tabubruch –zugefügten Schaden verschwistert weiß.

Was hat Günter Grass gesagt, das die in Deutschland ausgebrochene Hysterie, wenn schon nicht zu begründen, so zumindest zu erklären vermöchte? Die Erwartungen können sogleich aufs Normalmaß des Diskutierbaren heruntergeschraubt werden: Nichts, was in Israel selbst nicht schon hundertfach gesagt und erörtert worden wäre. Nichts, was man im Hinblick auf Fakten bzw. aufs begründbar Mögliche lapidar infrage stellen könnte. Zwar hat man in Israel den „Erstschlag“ in der Öffentlichkeit nirgends als nuklearen diskutiert, daher auch die „Auslöschung des iranischen Volkes“ weder thematisiert noch im Blickfeld gehabt. Dass aber Szenarien möglich sind, bei denen der Einsatz von Nuklearwaffen mitgedacht werden muss, wird niemand in Abrede stellen wollen, der Mögliches nicht tabuisieren, sondern zum Ausgangspunkt von Verwirklichbarem nehmen möchte. Sollte nämlich Israels Existenz ernsthaft bedroht sein, wird man wohl zum extremsten aller Israel zur Verfügung stehenden Mittel greifen. Die Existenz Israels wird aber nicht durch die (potentielle) iranische Atombombe bedroht – es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der Mullah-Staat sie gegen Israel einsetzen würde, wenn er nicht das Risiko eingehen möchte, innerhalb weniger Tage selbst in Schutt und Asche gelegt zu werden –, sondern durch die nichtnukleare Dynamik des Krieges, der nach einem nichtatomaren Präventivschlag Israels gegen den Iran folgen dürfte. Darüber haben israelische Militär- und Geheimdienstleute in den letzten Wochen mehr als genug gesagt. Gewiss ist nichts, aber ein mehrwöchiger oder -monatiger Krieg, bei dem Israel den Iran verwüstet, zugleich aber auch israelische Städte einem täglichen Beschuss durch Langstreckenraketen (welche die irakischen Scud-Raketen von 1991 wie ein Kinderspiel erscheinen lassen würden) ausgesetzt sind, dürfte für Israel in vielerlei Hinsicht kaum verkraftbar sein. Eine solche Kriegsdynamik, welche in der Tat den Einsatz israelischer Nuklearwaffen zur Folge haben könnte, wäre nicht das Resultat der realen Bedrohung Israels durch die (vorerst noch nicht existierende) iranische Atombombe, sondern das Ergebnis des von Israel initiierten konventionellen Erstschlags.

Auch dass die Atommacht Israel den „ohnehin brüchigen Weltfrieden“ gefährdet, wie Grass behauptet, muss man nicht als das Resultat eines von Israel direkt und bewusst durchdachten Plans verstehen, sondern als Auswirkung einer Politik, die Israel in einem Kontext betreibt, der sich schon oft genug als bedrohlich für den Weltfrieden erwiesen hat. Dass Israel sich dabei (sehr früh schon) Nuklearwaffen zugelegt hat, kann zum einen als Abschreckungssystem gegen seine Existenzbedrohung begriffen werden – der zionistische Staat war nun einmal nicht willkommen in der Region, in der er gegründet wurde und sich erfolgreich etabliert hat –, zum anderen als gravierender Faktor in jenem Kontext, in welchem die Existenzbedrohung des Staates zum integralen Bestandteil seiner eigenen Politik, mithin seines ideologischen Selbstverständnisses heranwuchs. Denn Angelpunkt des gesamten Problems der Existenzbedrohung Israels ist nicht die von den in periodischen Gewaltausbrüchen verwendeten Waffen ausgehende Gefahr, sondern der Nahostkonflikt mit seinem Herzstück, dem historischen Territorialkonflikt von Israelis und Palästinensern. Wer nicht begreifen will, dass die Bedrohung Israels durch die Saddam Husseins und die Ahmadinedschads der Region in erster Linie durch den (noch) ungelösten Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erst eigentlich möglich wird, muss sich vorhalten lassen, dass sein Gerede über die Existenzbedrohung Israels, gar über eine Israel drohende „zweite Shoah“ manipulativ-ideologischen Charakters ist. Aber genau darin übt sich die israelische Politik schon seit Jahrzehnten: Israel will den Frieden mit den Palästinensern nicht, denn dieser ist ohne Abzug aus den besetzten Gebieten nicht zu haben; es betreibt ganz gezielt und intensiv die Besiedlung palästinensischen Landes, unterjocht dabei die Bewohner und bedient sich perfidester Ideologisierung dieses Grundumstands, indem es seine eigene Nichtbereitschaft zum Frieden auf die von ihm unterdrückten und geschundenen Palästinenser projiziert. Von einer Symmetrie kann dabei nicht die Rede sein: Israel beherrscht ja das, was einzig zum Ausgangspunkt eines Friedensabkommens genommen werden kann; in Israels Hand ist es, ein solches Abkommen real voranzutreiben. Israel will dies aber nicht; den Staatsmann, der es (vielleicht) wollte, hat man mörderisch beseitigt. Die gegenwärtige Regierung Israels übt sich im Lippenbekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung, welche sie aber selbst systematisch unterminiert. Die Rhetorik des „großmäuligen“ Ahmadinedschad kommt einem Netanjahu in diesem Zusammenhang zupass: genau diese kann er gebrauchen, um durch das Hochspielen der Existenzbedrohung Israels mittels einer (nicht existierenden) iranischen Atombombe vom eigentlichen, primär durch Israel perpetuierten Kernproblem gewieft abzulenken. Vor AIPAC kann er entsprechend als Verhinderer einer „zweiten Shoah“ auftreten (und hoch bejubelt werden), aber gerade darin ist das von diesem Premier repräsentierte Israel objektiv eine Bedrohung für den Weltfrieden.

Das alles ist wohlbekannt, und wenn auch nicht allseits akzeptiert, so doch keine markerschütternde Neuigkeit im Diskurs. Was also hat „die Deutschen“ bzw. die hegemoniale Sphäre der deutschen Öffentlichkeit an Grassens Gedicht so aufgewühlt? Die Antwort darauf liegt nicht im Inhalt des Poems (auch nicht in der Tatsache, dass Grass sich dieses Genre zum Medium seiner Aussage gewählt hat), sondern schier in der Tatsache, dass er einen Tabubruch begangen hat, namentlich ausgesprochen hat, was nach vorherrschender „deutscher“ Norm unausgesprochen bleiben muss. Grass kann sich dabei noch so sehr auf eine von Goethe über Heine bis Brecht laufende Tradition des politischen Gedichts berufen – die hilft ihm nichts: Schon Heine wusste, dass er von seinem Exilland Frankreich nicht nach Deutschland zurückkehren sollte, weil er „Erschießliches“ geschrieben hatte. Das Erschießliche in Deutschland hat sich freilich seit Heines Zeiten gewandelt – und wohl auch die Exekutionskommandos: Eine Konstellation aus enthusiasmierten Israelsolidarisierern „antideutscher“ (letztlich neokonservativer) Provenienz, einer stets abrufbereiten „jüdischen Intelligenz“ (professoraler, publizistischer und offiziell-institutioneller Couleur), einer unter dem geschichtlich konnotierten Tabu keuchenden politischen Klasse, einer in diesem Punkt in der Tat „gleichgeschalteten“ deutschen Medienwelt und einer aktivistisch-durchideologisierten israelischen Botschaft bildet stets eine durch den Eklat gestählte Front, sobald ein Ausscherender etwas, und sei‘s noch so kümmerlich, an ihrer Selbstgewissheit kratzt. Sigmar Gabriel durfte keine 48 Stunden, nachdem er ein israelisches Apartheid-Regime in Hebron gewahrte, wieder kräftig zurückrudern. Dieter Graumann (und die israelische Botschaft) mochte nicht, was er da aus der SPD-Spitze vernahm. Das genügte. Die israelische Botschaft selbst kennt keine Beschränkungen: Es gehöre zur europäischen Tradition, Juden vor dem Pessach-Fest des Ritualmordes anzuklagen. Grass’ Gedicht also vergleichbar mit infam-horrenden, mörderische Gewalt erzeugenden Praktiken im Verlauf der jahrhundertealten jüdischen Leidensgeschichte. Es ist schon bemerkenswert, wie gerade in jüdischem (vor allem jüdisch-israelischem) Munde die historische Leiderfahrung der Juden banalisiert wird und zum Mittel niedrigster Polemik verkommt. Aber was will man schon von Israels – einer Avigdor Lieberman unterstellten – Botschaft, wenn sich „sein“ Ministerpräsident nicht entblödet, Israels Lage im Jahre 2012 mit der von Juden in Auschwitz zu vergleichen bzw. die Unterlassung des US-amerikanischen Militärangriffs auf Iran der Nichtbeschießung des Vernichtungslagers während der Shoah gleichzustellen?

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NOAM CHOMSKY

Das Hauptargument ist richtig. Vielleicht ist es für Deutschland neu, aber andernorts ist es geläufig. Sogar der ehemalige Leiter der STRATCOM – des strategischen US-Kommandos, das für Atomwaffen zuständig ist – warnte vor Jahren schon, dass Israels Nuklearwaffen „äußerst gefährlich“ seien.


KKEHART KRIPPENDORFF

Was gesagt werden muss, war bereits gesagt worden
Lassen wir es dahingestellt sein, warum Günter Grass die wenige Tage zuvor im Freitag und danach in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte ebenso unzweideutige wie analytisch differenzierte „Erklärung aus der Friedensbewegung und Friedensforschung“ zum Irankonflikt nicht mit unterzeichnet hat: Seine Stimme hätte ihr mehr Gewicht und Resonanz gegeben und ihn davor bewahrt, jetzt Erläuterungen und Interpretationen nachschieben zu müssen. Aber so funktioniert nun einmal die Medienöffentlichkeit. Die Stimmen von fünfzig ausgewiesenen und seit Jahrzehnten friedenspolitisch engagierten kenntnisreichen Intellektuellen zur dramatisch aktuellen und furchterregenden Zuspitzung der atomaren Kriegsgefahr im Mittleren Osten können nur durch eine selbstbezahlte Anzeige im Kleindruck-Fornat verzweifelt-vergeblich versuchen, sich für ihren Tabubruch Gehör zu verschaffen, während eine eher grobgestrickte, wenn auch im Wesentlichen richtige und wichtige Meinungsäußerung von Günter Grass die Meinungswellen mit gespielter Empörung selbstgerechter Kritik der Kritik hochschlagen lässt.
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TARIQ ALI
Günter Grass hatte bereits die Antwort auf sein Gedicht in der Süddeutschen Zeitung vorausgesehen. Es gibt keinen Grund überrascht zu sein, aber es gibt allen Grund angewidert zu sein. Innerhalb Deutschlands scheinen sowohl die Elite als auch eine Schicht der Bevölkerung in ihren Worten und Taten die infamen Thesen Goldhagens akzeptiert zu haben, nach denen alle Deutschen für die Verbrechen des Dritten Reiches schuldig waren. Dieses Denken basiert auf dem zionistischen und zionophilen Argument, die Verbrechen gegen die europäischen Juden seien einzigartig in den Annalen der Geschichte. Das war richtig, soweit es die Methode der Vernichtung betrifft, aber nicht in anderer Hinsicht. Die Belgier massakrierten weit mehr Kongolesen, dem Historiker Adam Hochschild zufolge über zehn Millionen. Die Ermordung der Armenier während des Ersten Weltkrieges war systematisch, und wir könnten fortfahren und die nukleare Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis erörtern, aber ein Massaker oder einen Genozid mit einem anderen zu vergleichen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Raul Hilberg, der maßgebliche Historiker des jüdischen Holocaust, war erzürnt über die Instrumentalisierung, die diese Verbrechen heutzutage erfahren.
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und viele mehr

Maglor
Karteizombie
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Di 10. Apr 2012, 23:46 - Beitrag #19

Irgendwie bezeichnend:
Bild
Iranische Karikatur, Preisträger des Holocaust-Karikaturen-Wettbewerbs
Achmadineschad hat schon richtig erkannt, dass Holocaust die Religion des Westens ist. Mit Argumenten kommt man da ohnehin nicht weiter.

Zu deutschen Waffengeschäften:
Deutschland verramscht veraltetes Gebrauchtpanzer usw. an mehr oder minder bedenkliche Staaten für Geld.
Im Unterschied dazu gibt die BRD auf Antrag Israels bei der deutscen Rüstungsindustrie neue U-Boote in Auftrag, bezahlt diese und schenkt sie anschließlich Israel.
Deutsche Rüstungsgeschenke an Israel sind seit Jahrzehnten Garant für das Bestehen einer deutsch-israelischen Beziehung.
Hier ein kleiner Überblick über deutschen Sponsoring der israelischen Aufrüstung: Focus: 03.07.2000
Lange Zeit wurden hat Deutschland sogar Rüstungseinkäufe im Ausland finanziert.
Neuerdings ist man dazu übergegangen, dass der Staat Israel immerhin 2/3 des U-Boot-Kaufpreises selbst zahlen muss.
Derzeit liefert sich Israel eine Art Wettrüsten mit dem Iran und der deutsche Fiskus bezahlt die Rechnungen, zumindest zu einem Drittel.

Maglor
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Di 17. Apr 2012, 01:30 - Beitrag #20

Vorbilder für Grass' abenteuerlichstes Gedankenspiel?

Der israelische Historiker Benny Morris sagte 2008 gegenüber dem österreichischen Standard zum nukearen Thema, er hielt den nuklaren Präventiv-Krieg für die letzte Möglichkeit, Israel zu retten, sollte die internationale Gemeinschaft das Problem nicht anderweitig lösen:

Die letzte Chance ist der Einsatz einer israelischen Atombombe, um das iranische Atom-Programm zu stoppen. Das ist die Richtung, in die die Welt den Nahen-Osten und Israel drängt, weil es verabsäumt wurde wirksame wirtschaftliche Sanktionen zu verhängen und damit den Iran auf friedlichem Weg zu stoppen. Es reduziert sich also auf die Frage, ob Israel zerstört wird, oder der Iran zerstört wird. Und ich hoffe die Israelis verstehen, dass es besser ist den Iran zu zerstören, als selbst zerstört zu werden.

Bei Benny Morris handelt es sich jedoch nur um einen kritischen Schwarzseher und natürlich nicht um einen Antisemiten.
Seine Befürchtungen sind wahrscheinlich auch schon verjährt. :rolleyes:


2010 spekulierten Experten der regierungsnahen "Denkfabrik" CSIS über den möglichen Einsatz taktischer Atomwaffen durch Israel gegen den Iran, so der Focus. Dies sei wahrscheinlich die einzige Möglichkeit die unterirdischen Atomanlagen vollständig ohne langwierige Kampfhandlungen zu zerstören. Auf die mögliche Verwendung der von Deutschland bereits gelieferten U-Boote der Dolphin-Klasse wird hingewiesen.
In offiziellen Erklärungen der israelischen Regierung wird hingegen der Besitz derartiger Atomwaffen geleugnet. Offiziell hat Israel ja gar keine Atomwaffen. ;)

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