Beschneidungen aus religiösen Gründen sind strafbar

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Ipsissimus
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Di 26. Jun 2012, 21:23 - Beitrag #1

Beschneidungen aus religiösen Gründen sind strafbar

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/religioes-motivierte-beschneidung-von-jungen-ist-laut-gericht-strafbar-a-841084.html

Hamburg - Das Gericht hat Klarheit geschaffen, doch aus der Welt ist das Problem noch lange nicht. Wer in Deutschland einen Jungen aus religiösen Gründen beschneidet, begeht als Arzt eine Körperverletzung - auch wenn die Eltern des Kindes den Eingriff ausdrücklich wünschen. Das Landgericht Köln hat damit eine klare Position bezogen und eine Debatte befeuert, die seit Jahren hitzig geführt wird.

Es geht um nicht weniger als die Frage, was höher wiegt: die Religionsfreiheit der Eltern oder das Recht eines Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Die Kölner Richter haben nun entschieden, dass das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung keinen Vorrang hat gegenüber dem Recht des Kindes auf Selbstbestimmung. Vielmehr kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Beschneidung dem Kindeswohl entgegensteht. Das Urteil ist für andere Gerichte nicht bindend, wird aber wohl die künftige Rechtsprechung beeinflussen.


wie seht ihr das?

Milena
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Di 26. Jun 2012, 21:56 - Beitrag #2

...ist sehr schmerzhaft für jungen, aber nicht unbedingt folgenschwer...
anders darf es wohl in gewissen ländern bei jungen frauen aussehen....

Anaeyon
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Di 26. Jun 2012, 22:05 - Beitrag #3

Es mag für uns kaum negative Folgen haben, es ist aber dennoch in vielen Fällen ein unnötiger, aufgezwungener Eingriff (und damit mmn. Körperverletzung). Frauen sind zwar in der Tat ärmer dran, aber deshalb ist es bei Männern noch lange nicht ok.

Maglor
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Di 26. Jun 2012, 22:07 - Beitrag #4

Die Entscheidung ist aber Grunde nur konsequent. Ein medizinisch nicht notwendiger Eingriff an Kindern ist Körperverletzung.
Zirkumzision ist rituelle Verstümmelung. Sie ist eben nur anders als z. B. angespitze Zähne, gespaltene Lippe etc. in Europa zumindest bei religiösen Minderheiten akezeptiert. Im Gegensatz zur Taufe handelt es sich um einen chirurgischen Eingriff.
(Der Vollständigkeit halber: Die Beschneidung wird nicht nur von Muslimen und Juden praktiziert sondern auch von koptischen, äthiopischen und einigen anderen orientalischen Christen. Zu beachten ist hier, dass die größte in Deutschland betroffene Gruppe - die türkische Muslime - die Beschneidung traditionell nicht bei Kleinkinder durchführen.)

Das ist seit Jahren ein heißes Eisen. Mal sehen, die Sache geht bestimmt noch bis vor das Bundesverfassungsgericht.
In der Praxis bedeutet dies, dass der Eingriff künftig nicht mehr von Ärzten sondern von Rabbinern, Friseuren und anderen zweifelhaften Schnipplern durchgeführt.

Ipsissimus
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Di 26. Jun 2012, 22:57 - Beitrag #5

wenn die deutsche Justiz bei anderen Menschenrechtsverletzungen aus religiösen Gründen nur genauso konsequent sein wollte. Die katholische Kirche ist längst fällig.

ujfalishi
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Mi 27. Jun 2012, 10:52 - Beitrag #6

Wow. Körperverletzung rly? Ich bin zwar nicht beschnitten aber ich meine sämtliche Studien zeigen doch, das eine Beschneidung sehr viele positive Wirkungen hat. Unter andere hygenische Aspekte als auch geringeres Risiko bei Geschlechtskrankheiten. Und schmerz? Ich bitte heute heutzutage passiert das unter Vollnarkose im Krankenhaus...

Lykurg
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Mi 27. Jun 2012, 11:39 - Beitrag #7

Ich finde das problematisch, sowohl aus medizinischen wie aus historischen Gründen. Die jüdische Bechneidung erfolgt durch einen medizinisch dafür ausgebildeten Mohel; bei der islamischen Beschneidung fehlt eine so klare Festlegung anscheinend. In jedem Fall handelt es sich um eine grausame Prozedur, die ich grundfalsch finde; allerdings zweifle ich daran, ob sie sich durch Gerichtsurteile aufhalten läßt; vor allem befürchte ich wie Maglor eine Verlagerung zur Hausbeschneidung (oder zur Beschneidung im Ausland, etwa in der Türkei), was zu weit mehr Komplikationen führen dürfte.

Historisch schwierig finde ich die Regelung, weil bisher Beschneidungsverbote fast ausschließlich zielgerichtet zur Unterdrückung Andersgläubiger (meist der Juden) erfolgten - etwa bei den Römern, in der UdSSR etc. - und ich mir nicht sicher bin, inwieweit unser Selbstbestimmungsdenken aus entfernter Sicht ebenfalls als eine ideologische Programmatik aufgefaßt werden kann. Es ist schwer, sich aus dem eigenen Denkkonzept weit genug zu befreien, um es so weit einschätzen zu können.

Andererseits dürfte es ein paar aufgeklärte Eltern von der Beschneidung abhalten, wenn ein Arzt die Operation nicht vornehmen darf, damit vielleicht auch den Brauch unterminieren (der im Islam nur aufgrund späterer Überlieferung vorhanden ist). Und da man für jedes nicht beschnittene Kind dankbar sein kann, ist es wohl insgesamt doch eine Verbesserung.

@ujfalishi: Ja, Körperverletzung. Es geschieht an einem unmündigen Kind, auf Wunsch seiner Eltern, und ihm wird eine lebenslängliche Verstümmelung zugefügt (selbst wenn es nicht schiefgeht). Ich bin ebenfalls nicht beschnitten, habe mich aber ein bißchen in die Thematik eingelesen. Hygienische Vorteile sind ein Argument, das sich mit dem Vorhandensein von Badezimmern weitestgehend erledigt hat. Wer sich nicht wäscht, wird auch ohne Vorhaut eklig. Und die darüber hinausgehenden 'Vorteile' (etwa eine angeblich geringere Aids-Rate) bewegen sich im Bereich der Legende. Wie massenweise vergleichende Erfahrungsberichte zeigen, ist der Sex von und mit Beschnittenen für beide Seiten schlechter: Für Frauen sehr schmerzhaft, da die Vorhaut eine Polsterung und Gleithilfe bedeutet; für Männer weit weniger intensiv, da an ihr sehr viele Sinnesnerven sitzen. Und diese Sinnesnerven sorgen auch dafür, daß die Entfernung höllisch wehtut. Nicht ohne Grund wird Beschneidung im Westen meist in Vollnarkose durchgeführt, wie du selbst anführst; es handelt sich um einen schweren Eingriff. Glaube aber nicht, daß die Schmerzen beim Erwachen aus der Narkose vorbei wären. Und wie gesagt sind es eben nicht nur Schmerzen beim Beschnittenen. Einer der oben verlinkten Erfahrungsberichte stammt von einer Frau, die sich nach dem Sex mit einem Beschnittenen die Vulva mit einer Kortisonsalbe einrieb, weil er ihr solche Schmerzen zufügte.

e-noon
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Mi 27. Jun 2012, 13:06 - Beitrag #8

Zitat von ujfalishi:Wow. Körperverletzung rly? Ich bin zwar nicht beschnitten aber ich meine sämtliche Studien zeigen doch, das eine Beschneidung sehr viele positive Wirkungen hat. Unter andere hygenische Aspekte als auch geringeres Risiko bei Geschlechtskrankheiten. Und schmerz? Ich bitte heute heutzutage passiert das unter Vollnarkose im Krankenhaus...

Jemand aus meinem Bekanntenkreis musste sich als Kind dieser Behandlung unterziehen (aus medizinischen Gruenden) und ich kann dir versichern, auch wenn die OP NATUERLICH unter Vollnarkose stattfindet, der Betroffene hat die naechsten vier Wochen vor Schmerzen kaum schlafen koennen. Ich wuerde es mir gut ueberlegen, bevor ich meinem Kind so unnoetig Schmerzen und Panik (Krankenhaussituationen sind in der Regel beaengstigend fuer Kinder) antue.

Maglor
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Mi 27. Jun 2012, 17:08 - Beitrag #9

Hygienische Vorteile sind ein moderner Mythos.
Es gibt sie schlicht und ergreifend nicht. Geringfügig geringere Infektionsrisiken sind durchaus umstritten. Unumstritten sind jedoch die Risiken der Beschneidung. Wie bei jedem Eingriff gibt es nämlich gewisse Risiken, im Einzelfall kann dies bis zum Penisverlust gehen.

Zumindest dürfte so ein Überschwappen der anglo-amerikanischen Mode Säuglinge ohne religiösen Hintergrund zu beschneiden Einhalt geboten werden. Die Puritaner übernahmen führten die Beschneidung im Aberglaube ein, so die Masturbation zu verhindern. In weiten Teilen der USA ist die Beschneidung der Regelfall. Heute werden medizinische, sexuelle oder gar ästhetische Argumente hervorgebracht, bis hin zu dem Top-Argument der Penis-Vereinheitlichung, der heranwachsende Knabe solle sich ja später bei den sicherlich zahllosen Gelegenheiten der Zurschaustellung nicht für seine Vorhaut schämen.

Anaeyon
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Mi 27. Jun 2012, 18:37 - Beitrag #10

@ujfalishi: Ich bin beschnitten, aus medizinischen Gründen (mit 6 Jahren) und ich habe dadurch jetzt keine merkbaren Nachteile gehabt. Auch an die OP und die Zeit danach erinnere ich mich kaum. Ich weis, dass es schmerzhaft war, aber ich glaube wenn es so wie bei mir im Krankenhaus mit Narkose gemacht wird, ist das durchaus verkraftbar.
Darum geht es mir nicht bei der Frage, ob das Körperverletzung sein könnte: Es geht mir darum, ob dieser medizinische Eingriff notwendig war oder nicht. Und wenn er medizinisch nicht notwendig ist, dann wird bei der Beschneidung ein Körperteil sinnloser weise dauerhaft entfernt. Die Frage ist also, ob Religion Grund genug ist, den Körper eines Minderjährigen ohne seine Einwilligung so "verletzen" zu dürfen.

Religiöse verdienen keine Sonderrechte. Erst recht keine, die stark in die Freiheit anderer eingreifen.

Maglor
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Mi 27. Jun 2012, 21:55 - Beitrag #11

Vorhautverengung ist ein dehnbarer Begriff. Ob eine Behandlung - gerade von Kleinkindern - m Einzelfall überhaupt notwendig ist, ist umstritten. Hier ist natürlich noch auf einen ideologischen Forschungsstreit hinzuweisen. Zahlreiche amerikanische Ärzte versuchen die im 19. Jahrhundert entstandene Beschneidungssitte nachdrücklich zu begründen und behaupten in der späteren Entwicklung der Vorhaut könnten sich Beschwerden ergeben - in Unkenntnis der tatsächlichen späteren Entwicklung. Eigentlich setzen sie jedoch nur eine Penisnorm, der Abweichung mit dem Messer ausgemerzt wird.
Mittlerweile wurden auch alternative Behandlungsmethoden, in denen die Vorhaut erhalten bleibt. Trotzdem geht es wie bewährt weiter.

Ich glaube im Grunde ist es der gleiche postmoderne Wahnsinn der sich auch bei Zahnspangen, dem vorsorglichen Ziehen der Weisheitszähne oder dem Anlegen abstehender Ohren zeigt. Der menschliche Körper wird genormt und zurechtgeschnitten. Bei Hunden ist das übrigens seit ein paar Jahren verboten.

Die Schwammigkeit der Diagnose dürfte die Chance für Muslime und Juden in Deutschland. Sie müssen demnächst einfach nur behaupten da unten sei etwas nicht in Ordnung.

Ipsissimus
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Do 12. Jul 2012, 16:21 - Beitrag #12

http://www.stern.de/panorama/reaktion-auf-koelner-gerichtsurteil-rabbiner-vergleichen-beschneidungsverbot-mit-holocaust-1856574.html

Das Kölner Beschneidungsurteil wird von der Konferenz Europäischer Rabbiner als schwerster Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust betrachtet. "Ein Verbot der Beschneidung stellt die Existenz der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland infrage", sagte der Präsident des Verbandes, der Moskauer Rabbiner Pinchas Goldschmidt, am Donnerstag in Berlin. "Sollte das Urteil Bestand haben, sehe ich für die Juden in Deutschland keine Zukunft." Er gehe jedoch davon aus, dass die Beschneidung von Knaben aus religiösen Gründen gesetzlich in der Bundesrepublik verankert wird.

Das Schächtverbot der Nationalsozialisten sei ein Zeichen für viele Juden gewesen, "wir müssen weg aus Deutschland", sagte Goldschmidt. Ein Beschneidungsverbot wäre angesichts der Bedeutung dieses Brauchs ein viel stärkeres Zeichen.

janw
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Do 12. Jul 2012, 21:51 - Beitrag #13

Die Reaktion der Konferenz ähnelt inhaltlich der Äußerung eines jüdischen Philosophen im dlf a Tag des Urteils. Die Beschneidung wird als Initiationsritual als zwingende Voraussetzung zum Eintritt in die Gemeinschaft angesehen.
In meinen Augen stellt die Beschneidung klar eine Körperverletzung mit bleibenden Folgen dar und, da an Kindern vollzogen, eine Kindesmißhandlung. Letztlich ist es IMHO nur folgerichtig, wenn der Staat als Sachwalter gerade der Rechte Schwacher eine solche Praxis verbietet, bzw. ein Gericht eine entsprechende Norm setzt.

Andererseits könnte natürlich aufgrund jahrtausendealter Praxis Gewohnheitsrecht geltend gemacht werden.
Die Religionsfreiheit empfinde ich in dem Falle als schwieriges Argument, da hier ein handfester Eingriff mit dauerhafter Wirkung mit einem Glaubensakt verbunden wird, was schon systematisch "hakt".

Ich muss dazu sagen, daß ich mit 4 Jahren eine Phimose-OP hatte, die ich in nich angenehmer Erinnerung habe. Zwischendurch aufwachen und sehen, daß die da an einem rummachen, war nicht so toll, und die Schmerzen danach waren auch nicht übel.

Bleibt natürlich die Gefahr, daß nun mit der Beschneidung ausgewichen wird, wie dies ja auch in Frankreich befürchtet wurde bei der Beschneidung von Mädchen. Indes könnten hier die Ärzte wachsam sein...


Ipsi, ich sehe auch das Problem, daß Übergriffe im christlichen Lager viel zu milde behandelt worden sind - und da wäre noch nicht mal eine Auseinandersetzung mit der Religionsfreiheit nötig gewesen.

Maglor
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Do 12. Jul 2012, 23:04 - Beitrag #14

Das hohe alte des Brauches macht ihn auch nicht besser.
Der Zentralrat der Juden informiert.
[INDENT]
Die Beschneidung wird auch von säkularen Juden durchgeführt und verbindet Juden aller Strömungen, von orthodox bis reform, miteinander. Sie ist nicht nur Brauchtum, sondern zentraler Bestandteil jüdischer Identität. Sie ist von essentieller Bedeutung und konstitutiv für das Judesein. [/INDENT]
Die Beschneidung hat also nicht unbedingt etwas mit Religion zu tun sondern gilt als völkische Initiation.

[INDENT]Es spricht nichts gegen eine (lokale) Betäubung des Kindes. Eine Narkose des Säuglings wird in der Regel nicht durchgeführt und nicht empfohlen, da die Narkose dem kindlichen Körper Schaden zufügen könnte und weniger leicht für den Säugling zu bewältigen ist. [/INDENT]
Betäubung kommt also eigentlich gar nicht infrage?

Dann kommt noch die Legende, die Beschneidung schütze vor HIV. (Darum ist die Krankheit wahrscheinlich auch im Schnitter-Kontinent Afrika kaum verbreitet.)

Die wirklich entscheidene Frage ist jedoch, ob dies alles auch auf das Stechen von Ohrringen bei Kleinkindern übertragbar ist. Mit Religionsfreiheit haben die Ohrringe außerhalb des bajoranischen Sektors zumindest nichts zu tun.

Ipsissimus
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Fr 13. Jul 2012, 11:45 - Beitrag #15

Ein wesentliches Spezifikum des Judentums besteht darin, dass keine dezisive Trennung zwischen Religions- und Volkszugehörigeit gemacht wird. Die Beschneidung ist gemäß des Selbstverständnisses des Rabbinats konstitutiv dafür, als männliches Wesen Jude sein zu können. Die Art und Weise, wie eine Religion sich selbst auffasst, kann laut allgemeinen Menschenrechten nur von innen her geändert werden, alles andere widerspricht dem Grundsatz der Religionsfreiheit.

Für Deutschland kommt noch hinzu, dass es - aus meiner Sicht - eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen wäre, wenn 60 Jahre nach dem Ende eines von uns geführten Ausrottungskrieges gegen das Judentum, deutsche Beamte sich abermals berufen fühlen dürfen, den Juden vorzuschreiben, was es mit ihrer Religion auf sich zu haben müsse. Ich würde es vielen Nationen zubilligen, diese Diskussion mit der jüdischen Religion zu führen - Deutschland gehört nicht dazu.

Lykurg
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Fr 13. Jul 2012, 12:22 - Beitrag #16

So gesehen stimme ich dir zu, hatte ja auch bereits meine Bedenken dahingehend verdeutlicht, daß derartige Verbote bisher gezielt zur Unterdrückung der Juden eingesetzt wurden und es nun en passant tun würden. Und wenn man für die einen Ausnahmeklauseln zuläßt, wird es für die anderen auch nicht anders gehen. Also ein zutiefst fragwürdiges Urteil, so leid es mir auch für die Beschneidungsopfer tut. Man könnte einen anderen Weg suchen, zumindest innerhalb des Islams, dessen Begründung der Beschneidung längst nicht dieselbe Explizitverbindlichkeit hat, für eine Änderung zu werben - das betrifft ja auch hierzulande sehr viel mehr Menschen.

Traitor
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Fr 13. Jul 2012, 13:21 - Beitrag #17

Abstrakt-moralisch sehe ich das Verbot als absolut sinnvoll an; jeder überkommene religiöse Wahn, der zugunsten der Menschenrechte abgeschafft wird, ist ein Fortschritt.

Allerdings ist das hier, praktisch gesehen, doch ein Paradefall für german real politik - die Nachteile einer Verbotsregelung dürften die Vorteile bei weitem überwiegen. Große Probleme mit den lokalen Interessenverbänden, internationale Probleme wegen der leider mal wieder hochkochenden NS-Vergleiche (und nichtmal nur von üblicher interessierter Stelle, auch noch von Neutralen wie Ipsissimus...), und vor allem das Problem mit der Abwanderung in die Illegalität. Zudem handelt es sich den Fakten nach um Körper- und Menschenwürdeverletzung, aber anscheinend um eine, die im Nachhinein vom Großteil der Betroffenen akzeptiert wird.
Daher wäre es meines Erachtens das Vernünftigste, nur eine Änderung an der Rechtslage vorzunehmen: die Ärzte sollten von jeder Verantwortung entbunden werden, die entscheidungstreffenden Eltern und Geistlichen aber im Nachhinein von den betroffenen Kindern jederzeit zivil- und strafrechtlich verklagt werden können. Wenn sie bewusst gegen Grundrechte verstoßen wollen und soviel Terror machen, dass man es ihnen kaum verbieten kann, ohne dem Lande zu sehr zu schaden, dann müssen sie immerhin die volle Verantwortung übernehmen und bereit sein, am Ende für ihre Überzeugungen auch geradezustehen.
(*)

Der wirkliche Skandal an dieser Geschichte ist noch ein ganz anderer: ein Landgericht maßt sich an, eine Grundsatzentscheidung von historischer und internationaler Tragweite fällen zu wollen? Wer hat dem Provinzschuppen denn bitte dafür die Legitimation gegeben? Klar, der Fall wird letztlich eh an höhere Instanzen weiter gehen, aber etwas anderes als eine Sofortweiterverweisung an die höchste und dort ein automatisches Urteil "muss der Gesetzgeber neu regeln" ist in so einem Fall eigentlich nicht zu rechtfertigen.

___
(*)Dass dieses Konzept mit diversen Rechtsgrundlagen unvereinbar ist, ist mir klar. Aber eigentlich wäre es eine "gerechte" Lösung. ;)

Maglor
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Fr 13. Jul 2012, 14:05 - Beitrag #18

Das Landgericht hat keine Grundsatzentscheidung getroffen, sondern eine Einzelfall-Entscheidung. Die Problematik ist eben die, dass in Deutschland keine spezielle gesetzliche Regelung für die rituelle Beschneidung Minderjähriger gibt. Bisher ist es wahrscheinlich keiner Staatsanwaltschaft eingefallen zu ermitteln.
Die gesetzliche Grundlage des Urteil besteht erst seit 12 Jahren. Das LG Köln argumentierte mit § 1631 Abs. BGB, nämlich dem Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung. Die Gesetzesänderung erfolgte erst im Jahr 2000. Körperliche Misshandlung als Teil der religiösen Erziehung ist daher nicht mehr erlaubt.

Zum Kölner Einzelfall:
Die Beschneidung lief hier offensichtlich nicht ohne Komplikationen, was in der öffentlichen Diskussion gehörig ignoriert wird.
[INDENT]Am 04.11.2010 führte der Angeklagte in seiner Praxis in der S-Straße in Köln unter örtlicher Betäubung die Beschneidung des zum Tatzeitpunkt vierjährigen K1 mittels eines Skalpells auf Wunsch von dessen Eltern durch, ohne dass für die Operation eine medizinische Indikation vorlag. Er vernähte die Wunden des Kindes mit vier Stichen und versorgte ihn bei einem Hausbesuch am Abend desselben Tages weiter. Am 06.11.2010 wurde das Kind von seiner Mutter in die Kindernotaufnahme der Universitätsklinik in Köln gebracht, um Nachblutungen zu behandeln. Die Blutungen wurden dort gestillt. Landgericht Köln [/INDENT]
Der Besuch der Notaufnahme - 2 Tage nach der Beschneidung - dürfte wohl hinreichendes Indiz sein, dass der Gesundheit des Knaben mit der Operation zumindest kurzfristig geschadet wurde, obwohl der Arzt keine Fehler begangen hatte. (Wahrscheinlich war dies auch Auslöser dafür, dass irgendjemand die Staatsanwaltschaft Köln eingeschaltet hat.)

Die Straffreiheit des Arztes wurde wie folgt begründet:
[INDENT]Der Angeklagte handelte jedoch in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum und damit ohne Schuld (§ 17 Satz 1 StGB). Landgericht Köln [/INDENT]

Auf das Verbotsirrtum dürfte sich künftig keiner mehr so einfach berufen dürfen.
Je nach dem wie groß der tatsächliche Schaden an der Gesundheit ist, dürfte auch die gerichtliche Beurteilung der jeweiligen Tat ausfallen.

Zitat von Traitor:Klar, der Fall wird letztlich eh an höhere Instanzen weiter gehen, aber etwas anderes als eine Sofortweiterverweisung an die höchste und dort ein automatisches Urteil "muss der Gesetzgeber neu regeln" ist in so einem Fall eigentlich nicht zu rechtfertigen.

Der Bundestag kann auch ohne Auftrag der Verfassungsrichter handeln, aber diese Gedanke ist natürlich seltsam.
Ich empfehle eine Ergänzung zu § 1631 Abs. 2 BGB: Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig, soweit keine religiöse Notwendigkeit besteht. :crazy:
Eine Aufweichung des Sterilisationsverbot (§ 1631c BGB) ist mit Rücksicht auf mögliche Komplikationen ebenfalls notwendig.

janw
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Sa 14. Jul 2012, 01:06 - Beitrag #19

Zitat von Ipsissimus:Ein wesentliches Spezifikum des Judentums besteht darin, dass keine dezisive Trennung zwischen Religions- und Volkszugehörigeit gemacht wird. Die Beschneidung ist gemäß des Selbstverständnisses des Rabbinats konstitutiv dafür, als männliches Wesen Jude sein zu können. Die Art und Weise, wie eine Religion sich selbst auffasst, kann laut allgemeinen Menschenrechten nur von innen her geändert werden, alles andere widerspricht dem Grundsatz der Religionsfreiheit.

Damit kollidiert dann direkt die Religionsfreiheit der Eltern mit dem Rechtsanspruch des Kindes auf körperliche Unversehrtheit.
Wurde nicht in anderen Fällen - Moon-Sekte, Bhagwan oder ähnliches - schonmal eingegriffen, auch wenn die nachteilige Behandlung der Kinder religiös begründet oder gerechtfertigt wurde?

Für Deutschland kommt noch hinzu, dass es - aus meiner Sicht - eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen wäre, wenn 60 Jahre nach dem Ende eines von uns geführten Ausrottungskrieges gegen das Judentum, deutsche Beamte sich abermals berufen fühlen dürfen, den Juden vorzuschreiben, was es mit ihrer Religion auf sich zu haben müsse. Ich würde es vielen Nationen zubilligen, diese Diskussion mit der jüdischen Religion zu führen - Deutschland gehört nicht dazu.

Hinsichtlich des Vorschreibens gebe ich Dir Recht. Allerdings könnte IMHO durchaus in diesem Land eine Diskussion geführt werden, wie diese Sicht auf die Religion mit den heutigen Forderungen nach körperlicher Unversehrtheit überin gebracht werden könnte, in entsprechender Form natürlich auch mit den Moslems.
Mir geht es dezidiert nicht um ein Infragestellen von Religion, sondern darum, der körperlichen Unversehrtheit von Kindern ihren Stellenwert zu sichern.

Letztlich wäre auch zu sehen, daß Erwachsene gegen die ihnen zugefügte Verstümmelung klagen könnten.
Insofern finde ich auch die jetzt eilig angestoßene gesetzliche Regelung schwierig, die das unterbinden soll.

Ipsissimus
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Sa 14. Jul 2012, 11:36 - Beitrag #20

nehmen wir ein analoges Beispiel, das Impfen. Auch da wird die körperliche Unversehrtheit eines Kindes angetastet, im Namen eines höheren Guts, das in diesem Fall allerdings staatlicherseits als solches deklariert wird. Wenn wir Religionsfreiheit unangetastet lassen wollen, bleibt uns gar nichts anderes übrig, die Riten einer Religion als höheres Gut aufzufassen.

Wie sinnvoll das ist, darüber habe ich als Atheist eine definitive Meinung. Aber solange das System der Menschenrechte in dieser Form bestehen bleiben soll, sehe ich keine Alternative.

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