Bundeswehreinsatz im Innern

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Traitor
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Sa 18. Aug 2012, 00:05 - Beitrag #1

Bundeswehreinsatz im Innern

Überraschenderweise hat das Bundesverfassungsgericht heute einen alten Grundsatz gekippt - die Bundeswehr darf im Inneren kämpferisch eingesetzt werden, wenn auch nur in "extremen Notfällen" (genauerer Wortlaut: "von katastrophischen Dimensionen"), bei Beschluss der ganzen Regierung statt des Verteidigungsministers und definitiv nicht zum Flugzeugabschuss. (Spiegel-Artikel)

Im Grundsatz habe ich ein sehr mulmiges Gefühl dabei, der Bundeswehr Polizeiaufgaben zu delegieren, da sie noch schlechter als die Polizei zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn sie überreagiert. Wenn man es von einer vernünftigen Abwägung von Grundrechten und Menschenleben (die das Verfassungsgericht ja kraft seiner erhabenen Weltfremdheit kategorisch ablehnt, die aber letztlich trotzdem Grundlage jeder politischen und moralischen Entscheidung ist, egal wie man das wegzudiskutieren versucht) her betrachtet, ist es unter angemessen strikten Entschluss- und Kontrollinstrumenten und in klar begrenzten Fällen wohl unvermeidlich.

Womit sich aber die Frage nach der praktischen Umsetzung stellt.
Sind die Fälle klar genug begrenzt? Nein, es wurde ein neuer Wischi-Waschi-Begriff eingeführt, den die jeweils amtierende Regierung relativ frei auslegen kann.
Gibt es angemessene Entschlusswege? Nein, "die ganze Bundesregierung" ist aufgrund als weitgehend identisch anzunehmender Zielsetzungen gegenüber dem Verteidigungsminister keine qualitative Vergrößerung der Entscheidungsbasis. In Zeiten moderner Kommunikationsmittel wäre es auch allmählich mal sinnvol, aufzuhören, Bundestagsentscheide bei Dringlichkeit für unnötig zu erklären. Eine Mehrheit der innerhalb einer gewissen Frist erreichbaren Abgeordneten wäre eine Möglichkeit. Mit Ausnahmeregel nur für den Fall, dass die Kommunikationsmittel ausfallen oder die Dringlichkeit wirklich im Minutenbereich liegt (was der Erfahrung nach selbst bei Terror- und Kriegssituationen aber selten der Fall zu sein scheint).
Gibt es angemessene Kontrollinstrumente? Nein, sowohl Bundeswehr als auch Bundesregierung sind weitgehend immun gegen Verfolgung von Fehlentscheidungen. In Verbindung mit standardmäßig vorgeschriebener Bundestagsentscheidung müsste die Regierung, wenn sie sich über diese hinweg setzt und die Gründe dafür im Nachhinein für nicht stichhaltig befunden werden, automatisch abgesetzt werden. Und die Bundeswehr müsste ganz normal zivil- und strafrechtlich behandelt werden, aber das geht ja über diesen Anwendungsfall hinaus.

Anaeyon
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Sa 18. Aug 2012, 01:30 - Beitrag #2

Sind große Mengen von Menschen, die mit der Regierung unzufrieden sind, eigentlich auch Katastrophen? Definiert die aktuelle Regierung, was eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellt?

Solchen Gesetzen kann ich nichts abgewinnen, selbst wenn sie realistisch betrachtet derzeit kaum eine Gefahr darstellen dürften und auch nicht mit überwachunsstaatlicher Absicht verfasst wurden. Was soll dieser schwammige Begriff in einer Entscheidung, die gerade in unserem Land historisch nun keine Belanglosigkeit ist? Bild

Karlsruhe macht zwar nicht alles falsch, aber für mich sind die oft quasi die letzte Firewall vor freidrehenden Uhls und Friedrichs. Würde mich freuen, wenn die Richter sich in eben jener Position begreifen würden. (aber vll. ist das jetzt schon ein wenig unfair von mir..)

Lykurg
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Sa 18. Aug 2012, 08:22 - Beitrag #3

Anaeyon, dazu hat sich das Bundesverfassungsgericht eindeutig und in deinem Sinne geäußert (auch wenn am Ende des Artikels schon wieder Zweifel daran aufkommen):
"Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen", stellten "keinen besonders schweren Unglücksfall" dar, der es rechtfertigen könnte, Streitkräfte einzusetzen.
Das Unzufriedensein an sich ist ja auch kaum etwas, wogegen man die Armee einsetzen kann (die russische Lösung, die entsprechenden Unzufriedenen dienstzuverpflichten, mal ausgenommen), es kommt schon darauf an, wie die Bevölkerung ihren Unmut äußert. Eine der US-Milizbewegung vergleichbare 'Äußerungsform' finde ich schon deutlich eher Sache der Bundeswehr, wenn sie zur Gewalt greift.

Die Schwammigkeit der Begriffe finde ich dabei mäßig aufregend. In einem Ernstfall könnte man dankbar dafür sein, wenn eine bestimmte Möglichkeit, an die man zuvor nicht gedacht hat, dadurch erlaubt ist. Versenkung eines herrenlosen Schiffs, das bei Sturm auf die Nordsee-Windkraftfelder zutreibt? Bau von Pionierbrücken mit Hilfe von Schwimmpanzern bei Hochwasser? Ich weiß nicht, ob die als Kriegsgut zählen.

Automatische Absetzung führt zu genau der Form von Unregiertheit, die das Grundgesetz zu vermeiden versucht (Konstruktives Mißtrauensvotum etc.). Ich denke schon, daß man sich da was einfallen lassen sollte, aber etwas weniger.

Traitor
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Di 21. Aug 2012, 10:44 - Beitrag #4

@Anaeyon: Im Zweifel dürfte sich das Verfassungsgericht vorbehalten haben, im Einzelfall im Nachhinein angerufen zu werden und über die Korrektheit der Regierungsentscheidung zu befinden. Nur wird das weder die Nebenwirkungen des Einsatzes beheben noch der Regierung ernsthafte Strafen zufügen.

Friedrich ist klar; Hans-Peter Uhl? Wegen Vorratsspeicherung? Oder was hat der sonst verbrochen / von sich gegeben?

@Lykurg: Gerade gegen einen Einsatz gegen soetwas wie diese "Milizen" dürfte sich das Inneneinsatzverbot doch historisch begründet richten, um 1918/19 nicht zu wiederholen.

Die "katastrophischen Ausmaße" dürfte dein Schiff nicht erreichen. Schiff wie Brücke würden sich aber gut mit einer klar formulierten Klausel fassen lassen, dass Einsätze ohne menschlichen Gegner immer erlaubt sind.

Das konstruktive Misstrauensvotum ist eine gute Regelung für den politischen Normalbetrieb. Wenn Parlament oder Gericht der amtierenden Regierung aber einen schweren Verfassungsbruch im Range eines "Angriffes auf die demokratische Grundordnung" nachweisen (was ein unberechtigter Bundeswehreinsatz im Innern für mich ganz klar wäre), sollte auch ein destruktives Absetzen erlaubt sein. Das wird wohl kaum mehrfach hintereinander passieren und zur Unregierbarkeit führen, würde die Hemmschwellen für Selbstermächtiger aber enorm erhöhen.

Ipsissimus
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Di 21. Aug 2012, 11:05 - Beitrag #5

sollte auch ein destruktives Absetzen erlaubt sein
was schwebt dir vor? Polizei gegen Bundeswehr? Oder Polizei mit Bundeswehr gegen andere destruktiv Absetzende? Wer könnte das sein? Empörte Bürger? In welchem Staat der Welt hast du schon mal beobachtet, dass sich Militär oder Polizei zugunsten der normalen Bürgerschaft gegen ihre Regierung gestellt hätten und nicht etwa zur Überführung und Etablierung ihrer eigenen Macht auf politischer Ebene?

nee, dieses Urteil ist ein Dammbruch. Und wenn ich sehe, wie ohnehin an der parlamentarischen Demokratie genagt wird, kann mir bei einem derartigen Urteil eigentlich nur schlecht werden.

Traitor
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Di 21. Aug 2012, 11:22 - Beitrag #6

Ich ging schon noch von dem Fall aus, dass die Bundesregierung weitgehend der Grundordnung verpflichtet bleibt und nur in einem einzelnen Fall oder Themengebiet groben Mist baut. Der Bundeswehreinsatz also sagen wir mal im Januar mit 1000 toten Zivilisten beendet wurde, die Truppe wieder brav in der Kaserne ist, im Juni Parlament oder Verfassungsgericht die Sache aufarbeiten und sich Kanzler und Minister brav nach Hause trollen, sobald das Urteil ergangen ist.
Wenn die Regierung sich mit Hilfe von Polizei und/oder Bundeswehr gegen Legislative, Judikative und/oder Volk stellt, helfen Verfassungsklauseln und Verfahrensregeln irgendwann natürlich nicht mehr. Die können nur mit harter Bestrafung kleiner Verfehlungen dazu führen, dass gar nicht erst jemand mit den entsprechenden Plänen lange genug oben bleibt.

Nominell stärkt das Urteil die Demokratie ja sogar, da bisher "der Verteidigungsminister entscheidet alleine" anscheinend als akzeptable informelle Regelung galt. Nur dass dann auf "die gesamte Regierung" statt auf das Parlament erweitert wurde, ist nicht gerade eine Stärkung der parlamentarischen Demokratie, korrekt.

Ipsissimus
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Di 21. Aug 2012, 11:25 - Beitrag #7

ich fürchte zunehmend das System der Einzelfälle. Oder wie man bei uns sagt: "Steter Tropfen höhlt den Stein."

Traitor
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Di 21. Aug 2012, 11:45 - Beitrag #8

Genau das fürchte ich auch, und daher meine Hoffnung, den Tropfen mit verschärften Sanktionen Einhalt gebieten zu können. Nur müsste es jemanden mit Macht und Interesse, diese zu erlassen, geben.

Ipsissimus
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Di 21. Aug 2012, 11:55 - Beitrag #9

müsste
immer dieser Conditionalis^^

Anaeyon
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Di 21. Aug 2012, 18:17 - Beitrag #10

Ja, Traitor, der Uhl. Und Menschen seines Schlages. Ich halte solch Gedankengut für äußerst gefährlich, ganz egal welche Motivation dahintersteckt. Man beachte den oft zitierten zweiten Satz aus dem ersten Quote. Vll. ist es ein unfaires Vorurteil von mir, aber für mich war das kein Versprecher sondern ein Wunsch.

Traitor
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Sa 25. Aug 2012, 12:35 - Beitrag #11

Ist halt schon verwirrend, wenn es drei Politiker-Uhls gibt, einen Franz Xaver, einen Hans-Jürgen und eine Hans-Peter. ;) Noch entlarvender ist das in der WP zitierte "Da bin ich gern obrigkeitsstaatlich"...
Zur Bundeswehr scheint er aber keine sonderlich relevante Meinung zu haben, vermutlich sind ihm die Geheimdienste sympathischer.

Traitor
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Fr 19. Apr 2013, 22:11 - Beitrag #12

Anscheinend gab es nochmal einen Nachtrag zu dieser Entscheidung, aber was jetzt konkret der Unterschied zur Erstfassung sein soll, ist mir nicht klar...


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