Zitat von Ipsissimus:Das Judentum war über Jahrtausende hinweg in der Situation, über kein Land, kein geografisches Zentrum zu verfügen. Trotzdem gelang es diesen Menschen, sich über die Zeiten hinweg als Einheit zu definieren und diese Einheit aufrecht zu erhalten. Die Beschneidung war in diesem Kontext sicher nur ein Werkzeug von mehreren, aber sie war das Werkzeug, das im Rahmen der Gruppendefinition konstituent wirkte und bis heute wirkt.
Es gibt viele Legenden über das Judentum.
Die hartnäckigste ist jene von der Jahrtausende alten Geschichte des Judentums. Man könne eben jene Religionsgemeinschaft bis auf Adam und Eva oder wenigstens 5000 Jahre zurückverfolgen. Genesis liefert natürlich einschlägige Belege. Tatsächlich entstand jedoch der Talmud, die große Schrift des rabbinischen Judentums, erst um 500 n. Chr. und ist jünger als die Evangelien und gerade einmal 100 Jahre älter als der Koran.
Eine Einheit des Judentums besteht keineswegs. Es zerfiel schon in der Vorgeschichte in unterschiedliche verfeindete Strömungen. Eine allgemeine zumindest politische Anerkennung als Judent der seit über 1000 Jahren isolierten Splittergruppen der Samaritaner, Karäer und der Juden Äthiopiens erfolgte erst im 20. Jahrhundert unter dem Eindruck des neoisraelitischen Nationalismus.
Die Beschneidung taugt im Morgenland kaum zur Gruppenidentifikation. Sie ist in Nordafrika und im Nahen Osten ebenfalls bei koptischen und syrischen Christen, Muslime und allen anderen Religionsgruppen verbreitet. Bei allen beruht sie auf der Abrahams-Legende, die teilweise auch für die weibliche Beschneidung als Begündung herhalten muss. (Nicht desto trotz ist die Beschneidung auch bei zahlreichen Volksgruppen Ostafrikas unabhängig von abrahamitischen Traditionen verbreitet.)
Es gab nicht einmal unter den Juden Europas eine kulturelle Einheit. Im ehemals russisch später sowjetischen Einflussgebiet gab es neben den jiddisch sprachigen Aschkenasiern und einigen Sepharden noch die turk-sprachigen Karäer, georgische Juden, und Bergjuden im Kaukasus. Eine Einheit bestand weder in der Sprache, noch in der Religion. Selbst für die Nutzung des Hebräischen entwickelten sie jeweils eigene Normen.
Die größte Legende ist jedoch die von deutschen Juden. Tatsächlich hat es einmal sehr viele deutsche Juden, diese wurden jedoch bekanntlich in jenen 12 Jahren nahezu restlos vernichtet oder vertrieben. Nur wenige deutschen Juden verblieben nach 1945 oder kehrten zurück. Verstärkt wurde diese wenigen Überlebenden jedoch bald schon durch aus Polen geflohene Juden, sogenannte displaced persons
, sodass es Anfang der 90er wieder ca. 30.000 Juden in Deutschland kam. Nach Zusammenbruch des UdSSR kamen über 100.000 Kontigentflüchtlinge, die sich als Juden ausgaben, aus Sibirien, dem Kaukasus oder Moldawien nach Deutschland.
Als Charlotte Knoblauch vorschlug den "Zentralrat der Juden in Deutschland" in "Zentral der deutschen Juden" umzunennen, sorgte dies für reichlichen Widerspruch in den eigenen Reihen, da es sich nur bei einer Minderheit der Vertretenen um Deutsche im Sinne des Grundgesetzes handelt und diese unter Umständen auch keine Deutschen sein oder werden wollen. (Nicht zuletzt findet man hier auch noch Vorzeuge-Deutschrussen wie Vladimir Kaminer.) Vielleicht hat auch der Zentralrat es selbst noch nicht eingestanden, dass er mittlerweile ein Migrantenverband ist. Wahrscheinlich gibt prozentual sogar mehr Muslime mit deutschem Pass als Juden.
Zuletzt möchte ich noch den Mythos entlarven, die Diaspora sei etwas besonders. Es wäre ein einmaliger Fall, dass ein Volk oder eine Religionsgemeinschaft über den Erdball oder wenigstens das Mittelmeer seit antiken Zeiten zerstreut sei.
Es gibt jedoch dutzenden Beispiele ...
Das armenische Volk und die armenische Kirche ist von der Ukraine im Westen über den Kaukasus bis weit in den Iran verbreitet, ehemalige Siedlungsgebiete in Anatolien und Ägypten sind bekannt.
Gleich gilt für die Griechen und die griechische Orthdoxie. Es gibt eine weit verstreute Diaspora zwischen Sizilien und Syrien, deren Wurzeln teilweise bis in hellenistische Zeit wenigstens aber bis in byzantinische Zeit zurückzuverfolgen sind.
Sie alle bewahrten eine gemeinsame Religion und Kultur trotz eines fehlenden geografischen Zentrums