Zum Tod von Hugo Chavez

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Do 7. Mär 2013, 12:29 - Beitrag #1

Zum Tod von Hugo Chavez

... Zehn Jahre später versuchte Hugo Chávez zum ersten Mal, durch einen Putsch die Regierung zu stürzen. Was misslang, ihm jedoch viel Popularität eintrug, die Werte zwischen 60 und 70 Prozent erreichte. Der damalige Präsident Rafael Caldera von der christdemokratischen COPEI hatte Vertrauen eingebüßt, weil es ihm nicht gelungen war, die sozialen Missstände wenigstens einzudämmen, die zum Volksaufstand, dem El Caracazo, im Februar 1989 geführt hatten. Die Armenviertel von Caracas begehrten gegen steigende Lebensmittelpreise auf. Als es zu Plünderungen kam, ließ der sozialdemokratische Staatschef Carlos Andrés Perez den Aufruhr kurzerhand zusammenschießen. Bis heute konnte nicht endgültig ermittelt werden, wie viele Opfer es damals gab. Mindestens 1.000 Tote sollen es gewesen sein. Vielleicht viel mehr, fast 3.000, sagen manche Quellen. Für Hugo Chávez war dieses Aufbegehren der letzte, entscheidende Anstoß, alles zu tun, um die Venezuela seit Jahrzehnten beherrschenden Oligarchien zu entmachten. Auf legalem demokratischen Wege gelang ihm das schließlich mit der Präsidentenwahl vom Dezember 1998, als er mit 56 Prozent triumphierte und keine Stichwahl brauchte – was auch für alle weiteren Voten galt, die ihn 2000, 2006 und zuletzt im Oktober 2012 im Amt bestätigten.

Die 1999 beginnende Bolivarische Revolution kam übrigens nie vom Weg der demokratischen Tugend ab. Gewalt kam von Chávez' Gegnern. Damit sind nicht nur die Putschisten vom 12. April 2002 gemeint, die ihn aus dem Weg räumen wollten und im Namen schuldbeladener Eliten handelten, denen die Privilegien abhanden kamen. Einem ökonomischen Gewaltakt kam auch eine Kapitalflucht gleich, der sofort mit der ersten Chávez-Präsidentschaft Ende 1998 begann und mit 90 Milliarden Dollar damals das Dreifache der Auslandsverschuldung Venezuelas betrug, während zwei Drittel der Venezolaner unter der Armutsgrenze lebten. Um so mehr verdienen die ersten Maßnahmen aus dem Jahr 1999 erinnert zu werden: Es gab Rentenzahlungen für alle Venezolaner über 65, einen besseren Kündigungsschutz, eine Begrenzung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden und eine medizinische Grundbetreuung, die fortan nichts mehr kostete. Dafür musste es sich Chávez gefallen lassen, im Namen eines abendländischen Wertekanons als „Sozialdiktator“ diffamiert und mit Muammar al-Gaddafi oder Benito Mussolini verglichen zu werden. ...

Lutz Herden, https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/revolutionaer-aus-berufung

Lykurg
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Do 7. Mär 2013, 22:01 - Beitrag #2

Die Sichtweise ist massiv rosarot eingefärbt, auf Stalin könnte man auch so eine schöne Hymne schreiben, der ist immerhin auf den Tag genau sechzig Jahre früher gestorben. Nicht daß ich die beiden wirklich vergleichbar fände, weder in ihrer Größe noch in ihrer Finsternis - höchstens in einem Detail, nämlich dem Personenkult. Was Stalin in Denkmälern und Benennungen von Städten, Fabriken etc. betrieb, war für Chavez das Fernsehen. Tägliche Sendungen, sonntags bis zu acht Stunden Chavez-Reden am Stück, prasselten auf das Volk ein, oppositionelle Sender und Zeitungen wurden erst zensiert, dann eine nach der anderen geschlossen. Merkwürdig, daß das dem Artikelschreiber so völlig entgangen ist. Bild

Achso, und die Wahlen, die er hochhält - schon klar.^^ Zum einen hat er es verstanden, seine Anhänger in großer Zahl gut zu bezahlen, zum anderen klar gemacht, daß er an der Macht zu bleiben wünsche. Als es endlich zu einem Referendum gegen ihn kam, drohte er, ohne ihn würde im Land das Chaos ausbrechen. Er hätte auch präziser sagen können: der Bürgerkrieg, dafür hatte er schließlich gut vorgesorgt, indem er seinen Milizen etwa hunderttausend Kalaschnikows beschafft hatte. Und die Vormachtstellung in Lateinamerika erreichte er durch massive Ausbeutung der venezuelanischen Ölreserven zu seinen eigenen Zwecken, im Wesentlichen für die 'Bruderstaaten' - mit dem Ergebnis, daß die Wirtschaft seines Landes massiv geschwächt und von Importen abhängig ist, die Eliten abwandern und die Kriminalitätsrate eine der höchsten in Lateinamerika ist. Aber klar, ein toller Mann, einfach weil er links war.

Das heißt allerdings nicht, daß ich seine Vorgänger besser gefunden hätte. Wer tausende Demonstranten zusammenschießt, ist sicher nicht demokratischer als ein Putschist, und zweifellos hat er viel für die Armen des Landes getan, wobei ich mich trotzdem frage, warum es ihnen in einem so irrsinnig reichen Land (mehr Ölreserven als in Saudi-Arabien) nicht besser geht.

Ipsissimus
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Do 7. Mär 2013, 23:13 - Beitrag #3

natürlich^^ etwas anderes hätte mich auch sehr verwundert.

Chavez ist nicht deswegen einer der Großen, weil er links gewesen war, sondern weil er im Gegensatz zu deinen tollen "Eliten" etwas getan hat, was die Lebensgrundlagen armer Menschen dramatisch verbessert hat. Wenn er dazu die armen Rohölreserven Venezuelas ausbeuten musste - na und? Dann besser zu diesem Zweck, als zu dem, die Gier von Firmen und Eliten zu bedienen, die für die Hungerleider nur Hohn und Spott übrig hatten, und das über viele Jahrzehnte hinweg. Du verwechselst da etwas massiv. Zu eigenen Zwecken wurden diese Vorräte von seinen seinen Vorgängern im Amt missbraucht, im Zusammenspiel mit deinen heißgeliebten Eliten. Chavez war derjenige, der mit diesen Vorräten den Armen ein menschenwürdigeres Dasein verschaffte.

Nun gut, seine Methoden waren möglicherweise nicht zu jedem einzelnen Zeitpunkt und in jedem einzelnen Detail so, dass man sie hiesigen Kirchchorjungfern zumuten könnte. Aber das ist nun mal Leiteinamerika. Freiwillig sind die Schweinehunde dort nie gegangen. Und sie sind auch noch längst nicht endgültig besiegt.

Maglor
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Fr 8. Mär 2013, 00:29 - Beitrag #4

Chávez war zumindest ein aufrichtiger Volkstribun und das ist schon selten genug. Seine wirtschaftlichen Experimente mit Planwirtschaft wirken zwar anachronistisch, sind aber immerhin eine Alternative zur Bananenrepulbik.

Was ist der Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus?
Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus. Im Kommunismus ist es genau umgekehrt. :crazy:

Seine Methoden war sicherlich teilweise semidemokratisch, vergleichbar mit Berlusconi, Putin oder ... naja, wenn soll ich noch nennen?
Leider hat von ihm nur seine außenpolitischen Manöver mitbekommen, die genauso provokant wie inhaltsleer waren. Eigentlich ist es ja viel bedeutender, was im Land passiert, als seine bedeutungslosen Kommentar zu Israel oder dem Iran. Vater seiner Gedanken waren sicherlich Größenwahn und Geltungssucht - der Wunsch, dass nicht nur die Augen Venezuelas auf ihn gerichtet sind.

Traitor
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Fr 8. Mär 2013, 01:01 - Beitrag #5

Zitat von Herden:Die 1999 beginnende Bolivarische Revolution kam übrigens nie vom Weg der demokratischen Tugend ab.
Es hat wohl einige Wahfälschungen und andere Unregelmäßigkeiten gegeben. Ich glaube sogar tatsächlich, dass er auch ohne diese alle Wahlen gewonnen hätte, aber dass es sie nicht gab, ist kaum zu glauben. Dazu dann noch die Mediengleichschaltung und Verfassungsumschreibungen - nein, ein "Weg der demokratischen Tugend" war seiner sicher nicht.
Zitat von Herden:Gewalt kam von Chávez' Gegnern
Auch, aber genauso von ihm, siehe die von Lykurg erwähnte Milizenbewaffnung und auch so einige direkt niedergeschlagene Aufstände oder Demonstrationen.

Dass ein gescheiterter Putschist damals auf so breite Zustimmung stieß, verdeutlicht aber auch, wie übel es um das Land gestanden haben muss, und gab ihm damit durchaus eine gewisse Legitimation. Und ja, die sozialen Reformen haben wohl teilweise angeschlagen, wenn auch Lykurgs Frage, warum bei angeblicher höchster Priorität darauf mit all dem Geld nicht noch mehr geleistet wurde, und stattdessen z.B. das Militär hochgerüstet wurde.

Zitat von Ipsissimus:Du verwechselst da etwas massiv. Zu eigenen Zwecken wurden diese Vorräte von seinen seinen Vorgängern im Amt missbraucht [...] Chavez war derjenige, der mit diesen Vorräten den Armen ein menschenwürdigeres Dasein verschaffte.
Ob dies immer der dominierende Zweck war, oder nicht zumindest in seinen späten Jahren der eigene Machterhalt wichtiger war, ist schwer zu beurteilen. Dass es nur Dienst an den Armen und kein eigener Zweck war, kann bei einem solchen Charakter aber wohl ausgeschlossen werden.

Insgesamt war mir Chavez sicher lieber als ein rechter Miltärdiktator, aber vom eigenen Flügel machen beispielsweise seine Epigonen Morales und Correa einen deutlich verträglicheren Eindruck, und Brasiliens Lula zeigte z.B., dass linkes Volkstribunentum dort unten sogar in weitgehend demokratischen Bahnen verlaufen kann. Gut, bei letzterem kann man sehr darüber streiten, ob es nur Geste war, oder sich wirklich noch in der Politik zeigte.

Zitat von Maglor:Seine Methoden war sicherlich teilweise semidemokratisch, vergleichbar mit Berlusconi, Putin oder ... naja, wenn soll ich noch nennen?
Das verharmlost ihn zu sehr - bei Putin mag einiges erfolgreich unter den Teppich gekehrt sein, aber zumindest Berlusconi hat, so furchtbar er politisch und menschlich auch ist, keinen Unterdrückungsapparat betrieben.

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Fr 8. Mär 2013, 09:25 - Beitrag #6

Zitat von Traitor:Dass ein gescheiterter Putschist damals auf so breite Zustimmung stieß, verdeutlicht aber auch, wie übel es um das Land gestanden haben muss, und gab ihm damit durchaus eine gewisse Legitimation. Und ja, die sozialen Reformen haben wohl teilweise angeschlagen, wenn auch Lykurgs Frage, warum bei angeblicher höchster Priorität darauf mit all dem Geld nicht noch mehr geleistet wurde, und stattdessen z.B. das Militär hochgerüstet wurde.
Es muß schlimm um ein Land stehen, damit es so kommt, völlig neu ist die Konstellation uns allerdings auch nicht (wenn auch bei geringer Zustimmung zur Zeit des gescheiterten 'Putschversuchs'). Bild

Das Militär mußte selbstverständlich hochgerüstet werden, um die jederzeit zu erwartende Invasion der US-Imperialisten abzuwehren, und um den Kolumbianern zu zeigen, wo die Harke hängt (wenn die den florierenden Drogenschmuggel und Entführungstourismus im Grenzgebiet bekämpften).

Zitat von Ipsissimus:weil er im Gegensatz zu deinen tollen "Eliten" etwas getan hat, was die Lebensgrundlagen armer Menschen dramatisch verbessert hat. Wenn er dazu die armen Rohölreserven Venezuelas ausbeuten musste - na und?
Meines Erachtens hat er einen Großteil davon eben nicht dazu eingesetzt, und was, scheint er äußerst schlecht getan zu haben. Erstens hat er es wesentlich zu politischen Zwecken billig abgegeben, um damit linke Systemwechsel herbeizuführen bzw. Regierungen am Leben zu halten, insbesondere in Kuba, das ohne die Hilfe aus Venezuela längst zusammengebrochen wäre. Dabei handelt es sich um eine zutiefst undemokratische und nebenbei auch imperialistische^^ Handlungsweise; das Fortbestehen des 'Sozialismus' in Kuba ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zweitens hat er aus irrationalen Ängsten und zur Steigerung nachbarschaftlicher Rivalitäten die Armee hochgepäppelt, vielleicht auch aus alter Verbundenheit.

Zweifellos hat er den Armen viel davon zukommen lassen, und hier ist die Bilanz durchaus eindrucksvoll - die Armutsquote hat sich im letzten Jahrzehnt halbiert, das Pro-Kopf-Einkommen ist massiv gestiegen, es gibt Programme zur kostenlosen Ernährung in Armenvierteln und in der Schule, kostenlose medizinische Versorgung etc. Trotzdem gibt es in Venezuela weiterhin dieselben Slums wie in anderen lateinamerikanischen Ländern, dazu aber eine exorbitante Kriminalitätsrate, insbesondere Morde und Vergewaltigungen. Besonders die Sterblichkeit unter Leuten, die Chavez nicht so recht mögen, scheint unter der einfachen Bevölkerung recht hoch zu sein, was aber mit der vergleichsweise guten technischen Ausstattung seiner Anhänger durchaus zusammenhängen könnte.

Und hier frage ich mich eben wirklich, warum das sein muß. Das ölreichste Land der Erde schafft es offenkundig nicht, seinen Armen akzeptable Lebensbedingungen zu schaffen, und verzettelt sich stattdessen im regimegeschürten Bürgerkrieg? Die Einwohnerzahl stimmt mit der von Saudi-Arabien überein, die Lebensbedingungen sind deutlich freundlicher - was muß man alles falsch machen, damit es so bleibt?

Traitor
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Fr 8. Mär 2013, 10:26 - Beitrag #7

Ja, die Parallelen sind da (und in beiden Fällen frage ich mich, warum die Haftstrafen für Putschisten eigentlich so lächerlich kurz sind). Ich hatte auch kurz überlegt, bei Hugos Verfassungsänderungen von "Ermächtigung" zu reden, fand das dann aber doch der Verhältnismäßigkeit unangemessen.

Beim Bevölkerungsvergleich mit Saudi-Arabien muss man allerdings die dortigen ca. 6 Millionen Gastarbeiter beachten, die wohl nicht in Armutsstatistiken etc. einfließen dürften.

Ipsissimus
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Fr 8. Mär 2013, 11:17 - Beitrag #8

Lykurg, ich verstehe dich beim besten Willen nicht, und Traitor, dich nur zum Teil. Ihr prügelt auf den ersten Politiker ein, der in diesem Land überhaupt irgendetwas zugunsten der wirklich Bedürftigen unternommen hat, und werft ihm vor, dass er dabei Maßstäben nicht gerecht wird, die selbst bei uns nur Theorie sind, ganz zu schweigen davon, dass es nur auf Hörensagen beruht, ob er diese Maßstäbe wirklich gebrochen hat. Evidente Gewalt ist von ihm nicht ausgegangen, ganz im Gegensatz zu seinen politischen Gegnern, deren Aussagen ihr traut, obwohl von ihnen offene Gewalt ausging.

Und ihr hättet es also lieber billigend in Kauf genommen, dass da weiterhin Millionen in Elend verbleiben, immer in der Hoffnung auf soziale Reformen, die diese "Eliten" - seit Jahrzehnten an der Macht - schon seit Jahrzehnten hätten beschließen und durchführen können, wenn sie denn auch nur die Spur einer Absicht dazu gehabt hätten? Was erlaubt euch die Annahme, dass von diesen Eliten jemals irgendetwas zugunsten der Bedürftigen ausgehen würde? Beobachtungen des aktiven Gutmenschentums dieser guten Menschen können es nicht sein.

Lateinamerika und auch Venezuela ist kein Country Club, bei dem Menschen, die einander nicht wehtun und ja nicht die Stimmung verderben wollen, zum Sonntagskaffee zusammen treffen. Dort herrschten Schweinehunde, und wie schon gesagt, deren Macht ist längst nicht gebrochen. Und einem der wenigen Politiker, die sich diesen Schweinehunden effektiv entgegengestellt haben, werft ihr vor, dass er sich in seinen Methoden nicht auf "bitte, bitte, seid doch endlich mal nett" begrenzt hat? Und ignoriert die vielfältigen Erleichterungen, die er für Bedürftige bewirkt hat. Ihr seid wirklich nicht zu verstehen.

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Fr 8. Mär 2013, 12:04 - Beitrag #9

Ich habe doch eigentlich genügend relativierende Formulierungen eingebaut, dass man das nicht als "einprügeln" lesen können sollte. Aber wenn es für dich schon "einprügeln" ist, nicht zu glauben, dass er an unseren Maßstäben kein bisschen mehr scheitert als unsere hiesigen Politiker, dann sind das wohl mal wieder unüberbrückbare Unterschiede auf der Realpolitik-Ideologie-Skala.

"Hörensagen" ist unser "Wissen" über seine Verfehlungen auch nicht mehr oder weniger als dein Vertrauen in seine sozialen Erfolge, beides speist sich aus unseren Medien, die wiederum mit einer diffusen Mischung aus Propaganda beider Seiten mit vermutlich erschreckend wenigen echten Vorortrecherchen arbeiten. Oder hast du direktere Kanäle? Ich kenne, und auch das nur über Ecken, leider nur Kolumbianer, keine Venezuelaner.

Zum zweiten Absatz ganz einfach: nein, hätte ich nicht. Chavez war sicher nicht das schlechteste, was dem Land passieren konnte. Aber auch bei weitem nicht das beste. Oder vielleicht war sein Andiemachtkommen sogar das beste (unter realen Umständen machbare), aber er hätte dann bei Aufkommen zu starker Führertendenzen halbwegs schnell wieder abgelöst werden müssen, um eine gesunde demokratische Entwicklung zu erlauben.

"Eliten" wandeln sich übrigens, und im chavistischen Venezuela gibt es nun eben neue Eliten, so wie in jedem Land einer "institutionalisierten Revolution".

Das Südamerika von heute ist auch nicht mehr das von 1900 oder auch nur das von 1980, die Länder dort haben nicht nur wirtschaftlich Fortschritte erzielt, sondern auch gesellschaftlich wäre durchaus das Potential da. Ja, alte und neue Schweinehunde haben noch, schon und wieder viel Macht, aber es bringt wenig, sie nur des Brechens wegen zu brechen und durch neue zu ersetzen.

Lykurg
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Fr 8. Mär 2013, 13:04 - Beitrag #10

Mein Vater ist so einige Male in Venezuela gewesen, allerdings nicht mehr seit Chavez, da beschränken sich meine Kenntnisse im Wesentlichen auf Medienberichte. Wie Traitor zweifle ich an deren Stichhaltigkeit im Einzelnen, wobei immerhin ein recht konsistentes Gesamtbild entsteht. Daß das aus der Innenperspektive noch einmal anders wirkt, bezweifle ich nicht, sonst wären derartige Staaten auch kaum existenzfähig. Offene Gewalt seiner Anhänger ist jedenfalls Alltag, sicher auch die seiner Gegner, aber wie andernorts auch du neige ich in linken Diktaturen dazu, der Opposition ein Existenzrecht einzuräumen.^^

Freie Wahlen sind eine bessere Grundlage für Veränderungen aller Art als jede gewaltsame Machtergreifung. Die Entwicklung in Brasilien könnte da ein Vorbild für die ganze Region sein - Lula hat ebenfalls viel für die Lebensbedingungen der Armen getan, aber auf einer nachhaltigen Basis und ohne sozialen Unfrieden zu schüren. Die Verbesserungen, die Chavez erreicht hat, können durch Mißwirtschaft und Korruption seiner Anhänger und Nachfolger (über ihn selbst weiß ich es nicht) schnell zunichte gemacht werden oder in folgenden Unruhen untergehen.

Ich verstehe es wirklich nicht, wie du immer noch dem Traum anhängen kannst, ein Ursupator könne den ganzen Laden einmal aufräumen und damit eine stabile Ordnung schaffen, in der alle gleich und alle glücklich sind. Gewalt erzeugt Gegengewalt, so einfach ist es. Und wer eine Tyrannis stürzt, nachher aber die Macht nicht freiwillig aufzugeben bereit ist und alles dafür tut, die Mittel zur Freiheit zu zerschlagen, ist selbst ein Tyrann.

Traitor
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Fr 8. Mär 2013, 21:30 - Beitrag #11

Gegenseitiges Unverständnis in alle Richtungen - nun bin ich an der Reihe und verstehe das Etikett "Ursupator" nicht, zumindest der erste Wahlsieg müsste doch allgemein als fair anerkannt gewesen sein...? (Oder geht es hier doch um Bären? ;))

Lykurg
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Sa 9. Mär 2013, 09:04 - Beitrag #12

Ja, er ist formal frei gewählt worden, auch wenn damals schon Teile der Armee sich deutlich für ihn ausgesprochen haben. Die Wiederwahlen waren dann zunehmend unfrei, inklusive der Verfassungsänderungen, damit er im Amt bleiben konnte, und der Medienkontrolle. Tatsächlich trifft der Begriff des Usurpators es insofern nicht, als er seinen Vorgänger nicht illegitim verdrängt hat, allerdings eben das System zu seinem Machterhalt verändert und die staatliche Ordnung aufgelöst. Tyrann trifft es eher, ja.

Ipsissimus
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Sa 9. Mär 2013, 16:57 - Beitrag #13

Ja, er hat die Verfassung geändert, damit er sich wieder zur Wahl stellen durfte. Und du glaubst es nicht, er wurde wieder gewählt. Wie konnten die nur, die venezolanischen Wähler, obwohl er doch die Fassung geändert hatte? Ich meine, dass er wiedergewählt werden konnte nach der Verfassungsänderung heißt doch noch lange nicht, dass er wiedergewählt werden würde. Oder sollte die Mehrzahl der Wähler etwa doch verstanden haben, warum er das getan hat, warum er die Verfassung geändert hat, und das für wichtiger gefunden haben als sich über einen politischen Akt, zu dem er übrigens die demokratisch legitimierte Mehrheit hatte, aufzuregen?

Übrigens, in Deutschland konnten ein Konrad Adenauer und ein Helmut Kohl viermal zum Kanzler gewählt werden, eine Angela Merkel strebt demnächst ihre zweite Wiederwahl, also ihre dritte Legislaturperiode als Kanzlerin an. In Deutschland wird die Wiederwählbarkeit also gar nicht erst begrenzt, vielleicht in weiser Voraussicht der Mentalität unser potentiellen Kanzler und Kanzlerinnen? Deutsches Grundgesetz, ein einziges moralisches Debakel also, gemäß dieses Kriteriums?

In Deutschland gibt es tatsächlich keinen Militärputsch, dafür aber Misstrauensvoten, die mit gewählten Mehrheiten nichts, mit opportun zusammengestellten Mehrheiten - aka Koalitionen zum Bruch des Wählerwillens - aber alles zu tun haben. Ich meine, der Chavez gewann seine Wahlen in Größenordnungen von 55% der Stimmen. Erinnert sich noch jemand daran, wann in Deutschland das letzte Mal eine Partei derart legitimiert wurde? 1957, zum ersten und letzten Mal, mit einer hauchzarten absoluten Mehrheit der CDU/CSU.

Ich meine, wir haben hier in Deutschland die Situation, dass eine Partei nicht beauftragt wird, die Regierung zu bilden, nicht von den Wählern jedenfalls. Und dann haben wir noch eine Partei, die nicht beauftragt wird, die Regierung zu bilden. Und dann tun die sich zusammen, eventuell mit noch einer dritten Partei, die auch nicht beauftragt wurde, die Regierung zu bilden, und plötzlich sagen die, sie wären beauftragt, eine Regierung zu bilden. Geile Auffassung von Demokratie.

Und wer sich noch an den Kohl-Putsch, pardon, an das Misstrauensvotum gegen Schmidt erinnert, das hatte sogar was Gewalttätiges. Aber Deutschland ist gut und Chavez ist nun mal (per definitionem unserer amerikanischen Freunde) Scheiße.

eine interessante Perspektive bietet

http://blogs.faz.net/stuetzen/2013/03/08/wie-mich-hugo-chavez-vom-elefantenhocker-geworfen-hat-3315/

insbesondere auch einige seiner Antworten auf bestimmte Kommentare

Lykurg
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Sa 9. Mär 2013, 18:32 - Beitrag #14

Soweit ich weiß, haben Adenauer und Kohl für ihre Herrschaften weder bewaffnete Milizen gebraucht noch vollständig gleichgeschaltete Medien. Auch die Einschüchterung, Mißhandlung und Ermordung Andersdenkender war und ist in Deutschland nicht ganz so verbreitet wie Venezuela. Du verweist selbst auch auf die Kommentare zu dem tatsächlich lesenswerten Blogeintrag - schon der erste rückt da einige Dinge sehr gut zurecht.

Für mich macht es einen erheblichen Unterschied aus, ob jemand innerhalb der Grenzen des Rechtsstaats agiert oder außerhalb, bzw. diese aufweichend. In diesem Sinne ist mir Jelzin näher als Berlusconi und Brandt näher als Strauß. Klar hat Kohl sich einiges zuschuldenkommen lassen (worunter ich das Mißtrauensvotum gegen Schmidt allerdings nicht zähle, das war im demokratischen Rahmen), die Größenordnung erreicht er aber bei weitem nicht. Darüber hinaus, unabhängig von der Legitimität, ist in einem Präsidialsystem nach amerikanischem und lateinamerikanischem Muster die Befristung auf zwei Amtszeiten auch deutlich notwendiger als in unserer Parlamentsdemokratie.

Grundsätzlich finde ich es nicht in Ordnung, wenn Mächtige die Regeln für sich selbst festsetzen; bei uns trifft diese Kritik vor allem Parlamentsbeschlüsse über Diäten und die Größe des Parlaments - meines Erachtens sollten diese immer erst für die nächste Legislaturperiode gelten und mindestens unabhängig geprüft werden. Eigenmächtige 'Laufzeitverlängerungen' wie in Venezuela, Rußland und Simbabwe sind jedoch weit schlimmer als das.

Maglor
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Sa 9. Mär 2013, 22:01 - Beitrag #15

Als ich Chavez als aufrechten Volkstribun bezeichnete, meinte ich dies in Abgrenzung zu den zahlreichen unaufrichtigen Volkstribunen, die den Sozialismus zur persönlichen Kleptokratie erhoben. Sicher war und ist Enteignung auf dem Programm der venezuelischen Partei, aber Chavez war eben noch lange nicht so ein Typ Kommandante wie Breschnew, der in seiner Freizeit Sportwagen sammelte, oder Saddam Hussein oder Kim Jong Il, die ihr Amt schamlos zur Bereicherung ihrer selbst ausnutzen.

Ich habe auch mal versucht mich näher zu informieren, zum Thema Chavez gibt es allerdings nicht zuletzt aufgrund verbohrter Ideologien irgendwie geteilte Meinungen und es ist sehr schwer das zu durchschauen.
Halbwegs brauchbar und untendenziös erscheint mir dieser alte Artikel (2010) aus der FAZ.

In der Außenpolitik und bei der Wirtschaft erinnert Venezuela erschreckend an Libyen. Der Reichtum an Erdöl finanziert nicht die militärische Aufrüstung, sondern auch Geschenke an befreundete Länder, wobei Grundlage der Freundschaft in erste Linie die Feindschaft zum Klassenfeind USA ist. Beides dient in erster Linie Größenwahn und Geltungssucht. Gleichzeitig gleicht der Ölreichtum natürlich auch die Einführung jener anachronistischen Misswirtschaft.

Den Begriff des Usorpators halte ich bei Chavez für ziemlich fehl am Platz.
Chavez wurde rechtmäßig zum Präsidenten gewählt und das mehrmals hintereinander. Internationale Wahlbeobachter waren im Lande. Die Verfassungsänderungen wurden soweit auch verfassungsgemäß durchgeführt.
Meines Wissens ist es das einzige Mal in der Geschichte der Welt, dass eine Regierung einen Quasistaatssozialismus einführte ohne gleichzeitig die Demokratie als solche abzuschaffen. Das ist sicherlich auf der Grund, warum er soviel Aufsehen oder auch Bewunderung bei sogenannten Linke außerhalb Venezuelas erregt, weil eben demokratischer Sozialismus bisher nur Theorie war. (Davon ab sind Kriminalität, Korruption und ein unterentwickeltes Justizsystem alte, nach wie vor ungelöste Probleme. Offensichtlich hatte Chavez auf immer wichtigeres zu tun, etwa merkwürdige Ölgeschenke ins Ausland oder unfreiwillig komisch Kriegsdrohungen.)
Natürlich gibt es da bedenkliche Tendenz wie eitwa ein oktroiertes Alkoholverbot an Wahltagen. Das Problem des Missbrauches staatlicher Medien zur Wahlpropaganda ist, sagen wir mal altbekannt - und gerade an der Stelle sehe ich eine gewisse Nähe zum System Berlusconi.

Zitat von Lykurg:Darüber hinaus, unabhängig von der Legitimität, ist in einem Präsidialsystem nach amerikanischem und lateinamerikanischem Muster die Befristung auf zwei Amtszeiten auch deutlich notwendiger als in unserer Parlamentsdemokratie.

Eigentlich hättest du da durchaus Recht, wenn der Präsident einfach nur irgendein Mensch wäre und nicht Teil einer Partei oder Bewegung. Die Frage, wer Präsident ist, ist eigentlich ziemlich unbedeutet. Putin hat ja gezeigt, dass man nach zwei Amtszeiten auch abtreten kann ohne die Macht auch nur ansatzweise abzutreten. Stalin war sogar nie Präsident der Sowjet-Union, sondern hatte da immer nur Strohmänner.

Zitat von Lykurg:Wer tausende Demonstranten zusammenschießt, ist sicher nicht demokratischer als ein Putschist, und zweifellos hat er viel für die Armen des Landes getan, wobei ich mich trotzdem frage, warum es ihnen in einem so irrsinnig reichen Land (mehr Ölreserven als in Saudi-Arabien) nicht besser geht.

Welchen Putschist meinst du?
Und warum sollte es den Menschen in Saudi-Arabien besser gehen als denen in Venezuela? Das ist doch offensichtlich nicht der Fall.

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So 10. Mär 2013, 10:21 - Beitrag #16

Maglor, verlinkt hast du (möglicherweise irrtümlich) einen Artikel aus der Süddeutschen, der meine Auffassung bestätigt. Chavez selbst scheint, ich hatte ja bereits gesagt, daß ich darüber nichts wisse, keine persönliche Bereicherung betrieben zu haben (lesenswert: Zeit), dafür hat die Korruption im Land immens zugenommen, auf den (bislang) ihm nachgeordneten Ebenen muß ungeheuer viel beiseitegeschafft worden sein.

Das Alkoholverbot an Wahltagen sehe ich nicht als großes Problem, weit eher die Gewalt und Gewaltandrohung durch Chavezanhänger im Vorfeld der Wahlen, und die Tatsache, daß er sich die Zuneigung der Wähler schlicht kaufte. Handelte es sich um den einzigen demokratischen Sozialismus bislang, dann auch nur, weil ein gewaltiger Reichtum es ermöglichte, Problemlösungen einzukaufen - und es ist ihnen trotzdem gelungen, das Land herunterzuwirtschaften. Einigermaßen differenziert etwa hier. Die Mordrate lag 2006 fast doppelt so hoch wie in Südafrika, dreimal so hoch wie in Rußland. Chavez scheint das über lange Jahre geduldet zu haben, im Sinne von privater Umverteilung, deren Richtung er durch Waffenverteilung immerhin auch sicherstellen konnte.
Eigentlich hättest du da durchaus Recht, wenn der Präsident einfach nur irgendein Mensch wäre und nicht Teil einer Partei oder Bewegung. Die Frage, wer Präsident ist, ist eigentlich ziemlich unbedeutet. Putin hat ja gezeigt, dass man nach zwei Amtszeiten auch abtreten kann ohne die Macht auch nur ansatzweise abzutreten. Stalin war sogar nie Präsident der Sowjet-Union, sondern hatte da immer nur Strohmänner.
Gerade die Gefahr skrupelloser charismatischer Führer, die das Land nach ihrem Gutdünken umkrempeln können, wird damit reduziert. Chavez war weniger Teil einer Bewegung als vielmehr ihr Initiator und Zentrum. Seine Leistung war zweifellos eine sehr persönliche, die kaum ein anderer so hätte bringen können. Der Stalin-Einwand zieht nicht, das ist nur eine Benennungsfrage - in sozialistischen Systemen dieses Typs war der Generalsekretär (des ZK) der herrschenden Partei die zentrale Figur, der Präsident nur eine Pappfigur - genauso in der DDR oder in China. Dort gilt auch dein "Partei, nicht Person"-Gesichtspunkt - zumindest in Maßen, denn zwischen Chruschtschow und Stalin war der Unterschied doch beträchtlich - nicht jedoch im von Chavez proklamierten "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela.

Maglor
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So 10. Mär 2013, 11:40 - Beitrag #17

Irrtümlich habe ich die Süddeutsche als FAZ verlinkt, der Artikel ist aber schon gewollt. Wie gesagt haben wir da verschiedene Ansichten. Für mich sagt der Artikel ja aus, dass sowohl Chavéz als Präsident als auch die Verfassungsänderungen von der Mehrheit des Volkes gewollt waren. So ist eben die Demokratie. Im Grunde kann man da nichts machen, wenn das dumme Volk den Falschen wählt - außer natürlich putschen.

Korrupton und Kriminalität halte ich für ein Versagen der Venezuelaner und nicht für das Versagen des Präsidenten.
Die gespannte innenpolitische Lage mit der Gefahr einer gewaltsamen Explosion, ist sicherlich eine tickende Zeitbombe, erscheint in der Landesgeschichte eher als normaler Zustand.

Sein früher Tod kommt Chavéz in der Geschichtsschreibung sicherlich zu Gute. Den Zerfall seines Systems und die gewissermaßen unausweisliche Implosion der Misswirtschaft musste er nicht mehr erleben. So ist er wenigstens als Sieger gestorben. Sein Mythos wird daher überdauern. Ein Scheitern des Sozialismus des 21. Jahrhunderts wird man seinen Anhängern zur Last leben. Da ergibt es natürlich durchaus Sinn ihn einzubalsmieren und für künftige Generation ohne Commandante zu bewahren.

Traitor
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So 10. Mär 2013, 13:36 - Beitrag #18

@Lykurg: Der Zeit-Artikel erweckt den recht interessanten Eindruck, die meisten Probleme kämen daher, dass Chavez selbst sich nicht um sie kümmern wollte oder konnte und seine Untergebenen dafür zu inkompetent sind. Das wäre vermutlich auch so die positivste Interpretation, zu der ich mich in Unkenntnis der genauen internen Abläufe durchringen könnte. Bösere Interpretationen sind aber durchaus möglich, von der naheliegenden, dass die Gewaltkriminalität gerne geduldet wurde, bis zur eher bodenlosen, aber auch nicht unglaubwürdigen, dass ein vollständiges Beheben der Armut ihn ja seiner Wählerschaft beraubt hätte.

@Ipsissimus: Dass dein Verständis von "Demokratie" nicht mit dem der Mehrheit übereinstimmt, ist ja bekannt, das möchte ich in diesem Thread nicht wieder diskutieren. (Bezogen auf parlamentarische Demokratie im Besonderen würde ich es sogar (demonstratives) Unverständnis nennen, wenn auch sicher nicht aus Mangel an Verständnisfähigkeit, sondern vermutlich aus Unwillen, die eigentliche Intention als gerechtfertigt anzuerkennen.)
Die Wiederwahlklauselabschaffung finde ich inhaltlich nichtmal so schlimm - ja, wie Lykurg sagt, ist die Klausel in einer Präsidialdemokratie viel wichtiger als in einer parlamentarischen, aber trotzdem gilt dein "er musste ja nicht wiedergewählt werden. Stilistisch zeigt sie aber bereits klar den Stil eines Autokraten.
Eher geht es mir um das Gesamtbild der Zentralisierung und Gleichschaltung von Parlament und Gerichten - allerdings bin ich mir nicht sicher, wieviel davon tatsächlich Verfassungsrang hat und wieviel nur offiziell oder inoffiziell im bestehenden Rahmen stattfand. Es gab übrigens auch ein gescheitertes Referendum 2007, mit dem er sich noch mehr Macht gegeben hätte - das spricht einerseits in der Intention gegen ihn, andererseits für ihn, weil er es durchgeführt und akzeptiert hat. Wie groß die Überschneidungen mit dem Erfolg von 2009 sind, überblicke ich ohne Quellenstudium leider nicht.

@Maglor:
Ich dachte, Chile unter Allende sei allgemein als demokratischste Variante des Sozialismus anerkannt. Die Laufzeit des Projektes war aber natürlich deutlich kürzer.

Die Bedeutung des Alkoholverbots erschließt sich mir gerade nicht, senkt das den kollektiven Zusammenhalt der Opposition...?
Und warum sollte es den Menschen in Saudi-Arabien besser gehen als denen in Venezuela? Das ist doch offensichtlich nicht der Fall.
Die Antwort hängt stark davon ab, ob Frauen als Menschen definiert werden... ;) Wenn nicht, sprechen die Wirtschaftsdaten eine klare Sprache für Arabien, bei der individuellen Freiheit würde ich "Unentschieden" sagen. Wenn ja, kippt die politische und mediale Freiheit mehr als klar, und man muss sie nur noch gegen Sicherheit abwägen.
Korrupton und Kriminalität halte ich für ein Versagen der Venezuelaner und nicht für das Versagen des Präsidenten.
Bei so einer Machtfülle? Da muss er sich ja wohl auch verantwortlich fühlen.
Zustimmung zur Geschichtsschreibung.

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So 10. Mär 2013, 14:28 - Beitrag #19

Traitor, das sehe ich ähnlich - und ja, bei Teilen des Zeit-Artikels kam mir auch die einst bei Erwähnung von Mißständen gängige Redewendung "Wenn das der Führer wüßte..." in den Sinn. Möglicherweise generieren Autoritätsstaaten sich ein solches Immunisierungsverhalten selbst. Ob der mit allen wesentlichen Vollmachten ausgestattete Präsident die allgegenwärtige Korruption seiner Untergebenen duldet oder nicht bemerkt, ist im Ergebnis gleichgültig; bei der Volksnähe, mit der er sich schmückte, dürfte er aber schon davon gewußt haben.

In der Abwägung zwischen den beiden Ländern stimme ich in allen bereits genannten Punkten zu, offensichtlich ist aber (falls dies für die Bewertung eine besondere Bedeutung haben sollte) auch die Verfügbarkeit von Alkohol in Venezuela besser (außer an Wahltagen). Bild

Maglor, vergleichbar instabile Konfigurationen sind in Lateinamerika typisch; Figuren wie Chavez aber und die von ihnen durchgeführten Veränderungen am politischen Gefüge und Manipulationen der Verfassung sind es aber, die es dann wieder auf Jahrzehnte destabilisieren, und in seinem Fall halt auch in diversen Nachbarländern.

Ipsissimus
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So 10. Mär 2013, 16:08 - Beitrag #20

und es ist ihnen trotzdem gelungen, das Land herunterzuwirtschaften.
das sehe ich eben völlig anders. Heruntergewirtschaftet haben das Land die sogenannten Eliten, die allen Reichtum des Landes für ihre privaten Zwecke missbrauchten und dabei Hungersnöte und alle möglichen Nachteile, wie fehlende Rente, fehlende Gesungheitsfürsorge und fehlende Sozialversicherungen für Leute, die nicht aus ihren Zirkeln stammten, in Kauf genommen haben. Die haben das Land in einen desolaten Zustand gebracht, selbst wenn sich 10 Prozent der Bevölkerung Luxus nach amerikanischem Vorbild leisten konnten und Carracas eine top Shopping-Adresse war.

Die Eliten hatten auch bereits ihre Schlägertrupps und Todesschwadronen. Chavez hat das alles beendet und den Reichtum des Landes auf eine wesentlich größere Anzahl Menschen verteilt. Dass er dabei mit den vorherigen Eliten nicht unbedingt handzahm umgegangen ist, liegt in der Natur der Sache. Wie der misslungene Putsch gegen ihn zeigt, bestehen die Eliten durchaus aus Leuten, die Demokratie nur solange fordern, wie sie glauben, Wahlen zu gewinnen.

Ich glaube nicht, dass es um Demokratie nach westlichen Standards gehen kann, solange Menschen verhungern. Ganz davon zu schweigen, was von diesen westlichen Standards im Westen übrig bleibt, wenn man ein bisschen tiefer bohrt.

Selbstverständlich ist die Umverteilung des Reichtums auch eine Aufgabe, die kaum innerhalb einer Generation zu schaffen ist, wenn man alle problematischen Aspekte lösen möchte. Aber Chavez hat wenigstens angefangen. Bei dir, Lykurg, habe ich immer das Gefühl, du würdest es bevorzugen, wenn um der Ruhe im Lande willen alles so bleibt, wie es ist, und dann blenden wir die Hungersnöte und die allgemeine Lage der Bevölkerung einfach mal aus. Die sind dort vorher im Ernst gestorben, in Folge der Politik der Eliten. Das hat Chavez beendet.

Auch mich stört die mangelhafte Ästhetik seiner politischen Umwandlungen. Aber wenn ich wählen müsste zwischen Verhungern und fehlender Eleganz, würde auch ich immer die fehlende Eleganz nehmen.

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