Erweitertes Wahlgeheimnis - "Wer hat gewählt?"

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Traitor
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Do 14. Mär 2013, 23:43 - Beitrag #1

Erweitertes Wahlgeheimnis - "Wer hat gewählt?"

Im Zusammenhang mit dieser Untersuchung hatte ich mich schonmal sehr gewundert, dass in den USA nach einer Wahl öffentlich einsehbar zu sein scheint, wer gewählt hat und wer nicht. (Nicht, was jemand gewählt hat, aber ob er gewählt hat.) Aus aktuellem Anlass einer (wissenschaftlich-internen) Wahl, bei der ebenfalls (intern-)öffentlich einsehbar ist, wer gewählt hat, habe ich dann nochmal darüber nachgedacht und bin für mich zu dem Schluss gekommen, dass das nicht mit meinem Verständnis von "Wahlgeheimnis" kompatibel ist.
Einer der Gründe, warum ein Wahlgeheimnis eine so gute Idee ist, ist ja, dass dem Wähler keine Diskriminierung aufgrund seiner bekanntgewordenen Entscheidung widerfahren soll. Das gleiche lässt sich aber für die reine Wahl-Nichtwahl-Information sagen, es ist leicht genug, sich Fälle vorzustellen, in denen ein Nichtwähler von staatlicher, betrieblicher oder privater Seite diskriminiert wird - oder in gewissen Umfeldern auch umgekehrt ein Wähler.

Nun ging ich eigentlich immer implizit davon aus, dass das deutsche Wahlgeheimnis diese Frage miteinschließt und klar geregelt sein müsste, dass die abgehakten Wählerverzeichnisse bzw. -listen ausschließlich bei der Auszählung verwendet werden dürfen, und das nur von den entsprechend vereidigten Personen. Leider konnte ich mit mittlerem Rechercheaufwand dazu bisher nichts konkretes finden, weder im Bundes- noch diversen lokalen Wahlgesetzen. Lediglich ein paar Kommentare und Gerichtsurteile zu Betriebsratswahlen etc. habe ich gefunden, wobei es teilweise auch nur um die Einsicht während einer laufenden Wahl ging - dass die nochmal bedenklicher ist, ist klar.

Daher zwei Fragen:
Erstens, kann mir jemand eine Quelle nennen, wie das hierzulande geregelt ist - sowohl de jure als auch in der Praxis (also wie die Wählerverzeichnisse nach der Wahl gelagert werden und so)?
Zweitens, wie seht ihr es persönlich, gehört zu einer echten freien Wahl dazu, dass nicht öffentlich bekannt wird, ob man gewählt hat?

Eine ziemlich obskure Geschichte zu dem Thema ist übrigens diese hier von 1970 - die SPD wollte ein eigenes Wählerverzeichnis mit erschreckendem Umfang anlegen und nutzen, u.a., indem Wahlhelfer während der Wahl die Hakenlisten nach draußen weitergeben. Zumindest dass letzteres explizit illegal war und ist, hoffe ich doch sehr.

PS: Ich weiß, dass ich hier in der Vergangenheit auch schon mal eine Wahlpflicht, auch mit Sanktionen bewehrt, gefordert habe, was natürlich auf den ersten Blick mit Wahl-/Nichtwahlgeheimnis kollidiert - aber einerseits nur auf den ersten Blick, es sind technische Umsetzungen denkbar, die den Konflikt auflösen, und andererseits wäre die Einführung einer solchen Pflicht eh eine so große Änderung des Systems, die mit einer starken Prioritätenverschiebung einherginge (und mit entsprechend guten Argumenten begründet sein muss), dass sie (aus Befürworterperspektive) das Nichtdiskriminierungsgebot abschaffen bzw. einschränken würde - also kein Konflikt in der Folgerung, sondern eine Änderung der Axiome. Und ob ich das derzeit noch so fördern würde, muss ich nochmal ergründen.

PS2: Wie üblich findet man das entscheidende Fundstück kurz nach Bekanntgabe der eigenen Fundunfähigkeit doch noch selbst. Die Regelung scheint sich nicht im Bundeswahlgesetz, sondern nur in der Bundeswahlordnung zu finden:
§ 89 Sicherung der Wahlunterlagen
(1) Die Wählerverzeichnisse, die Wahlscheinverzeichnisse, die Verzeichnisse nach § 28 Abs. 8 Satz 2 und § 29 Abs. 1, die Formblätter mit Unterstützungsunterschriften für Wahlvorschläge sowie eingenommene Wahlbenachrichtigungen sind so zu verwahren, dass sie gegen Einsichtnahme durch Unbefugte geschützt sind.
(2) Auskünfte aus Wählerverzeichnissen, Wahlscheinverzeichnissen und Verzeichnissen nach § 28 Abs. 8 Satz 2 und § 29 Abs. 1 dürfen nur Behörden, Gerichten und sonstigen amtlichen Stellen des Wahlgebiets und nur dann erteilt werden, wenn sie für den Empfänger im Zusammenhang mit der Wahl erforderlich sind. Ein solcher Anlass liegt insbesondere bei Verdacht von Wahlstraftaten, bei Wahlprüfungsangelegenheiten und bei wahlstatistischen Arbeiten vor.
(3) Mitglieder von Wahlorganen, Amtsträger und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete dürfen Auskünfte über Unterstützungsunterschriften für Wahlvorschläge nur Behörden, Gerichten und sonstigen amtlichen Stellen des Wahlgebiets und nur dann erteilen, wenn die Auskunft zur Durchführung der Wahl oder eines Wahlprüfungsverfahrens oder zur Aufklärung des Verdachts einer Wahlstraftat erforderlich ist.

Bleiben die Frage danach, was ihr persönlich davon haltet, und die, warum so eine durchaus grundrechtsrelevante Regelung nur eine "Ordnung", aber kein "Gesetz" ist.

Ipsissimus
Dämmerung
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Fr 15. Mär 2013, 11:37 - Beitrag #2

Die Regeln sichern einen Missbrauch durch Unbefugte ganz gut ab; bleibt die Frage nach Missbrauch durch Befugte. So könnte durchaus expliziert werden, was genau unter "wahlstatistische Arbeiten" zulässig ist und was nicht.

Im Sinne meiner Nichtwahl-Strategie ist Nichtwählen genauso eine Wahl wie Wählen auch. Von daher ist es selbstverständlich unverzichtbar, dass auch die Frage des "ob" unter das Wahlgeheimnis fällt. Ob mit der Aufnahme ins Grundgesetz wirklich ein höherer Schutz verbunden ist, könnte diskutiert werden, aber ich bin diesbezüglich nur wenig gesonnen, idealistischen Erwägungen zu vertrauen^^ eigentlich müsste verlangt werden, dass entsprechende Sicherungsmaßnahmen so im Verarbeitungsprocedere integriert sind, dass sie nicht "mal eben" übergangen werden können.

Traitor
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Sa 16. Mär 2013, 09:58 - Beitrag #3

Bei den Befugten lässt sich nur anmerken, dass das im Zweifel noch einer der harmloseren Wahlrechtsverstöße wäre, wenn sie denn Böses im Schilde führen. ;) Zur Wahlstatistik bin ich z.B. auf einen Fall gestoßen, bei dem angeblich Geschlecht und Alter auf dem Wahlzettel erhoben wurden - aber nur in einem Meckerblog, nochmal suchen, ob es dazu reputable Quellen gibt.

Unser Unterschied ist, dass ich das Nichtwählen nicht wie du als politische Äußerung für schützenswert erachte, sondern es mir nur um das Verhindern eines unnötigen Repressionsanlasses geht. Aber im Effekt, dass die Wahlentscheidung geheim sein sollte, stimmen wir dann ausnahmsweise mal überein.

Aufnahme ins Grundgesetz, wurde das mal diskutiert? Allgemein stehen erschreckend wenige Wahlregelungen dort drin...

Inzwischen habe ich auch mal Spanier und Italiener gefragt, die teilen die deutsche Perspektive (Einsicht verboten). Jetzt bin ich mal noch auf Briten gespannt.

Lykurg
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Sa 16. Mär 2013, 16:42 - Beitrag #4

Ich sehe nicht recht, warum Detailausführungen zum Wahlrecht unbedingt ins Grundgesetz müssen. Für mich regelt das eher die Rahmenbedingungen, die dann in Form von Gesetzen und Verordungen nachgebildet werden müssen. Über die Angemessenheit davon läßt sich ggf. das Bundesverfassungsgericht vernehmen. Wenn, könnte das Grundgesetz spezifizieren, daß die Entscheidung, zu wählen, frei und damit Teil einer freien Wahl ist. Mehr als das, besonders eine Erklärung, wie das zu gewährleisten sit, finde ich dort fehl am Platze, sehe darin auch tatsächlich eher einen Gegenstand von Ausführungsbestimmungen als eine gesetzlich festzulegende Maßnahme.

nazgul
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Mo 18. Mär 2013, 19:56 - Beitrag #5

Ich würde jedem der wählen geht 50€ Steuernachlass gewähren. Das tut nicht weh, die leute können immernoch UNgültig wählen wenn ihnen das Angebot nicht passt.

Der Gang zur Urne ist nicht nicht nur ein Recht sondern auch eine Pflicht des Einzelnen gegenüber der Gesellschafft.

Traitor
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Di 19. Mär 2013, 00:54 - Beitrag #6

@Lykurg: Sicher gehören ins GG keine zu kleinteiligen Details. Allerdings ist auch immer zu bedenken, dass jede Entscheidung, eine Regel nicht explizit dort rein zu schreiben, bedeutet, sie letztlich der Richterwillkür zu überlassen. Und manches, was auf den ersten Blick eine recht technische Verfahrensregel zu sein scheint, kann doch ein allgemein als essentiell anerkannter Teil unseres Demokratieverständnisses sein.
Beispielsweise erschiene es mir als sehr nützlich, das Verhältniswahlrecht festzuschreiben, damit der nächste Versuch zu seiner Aushöhlung zumindest eine besonders große Mehrheit braucht.
Auch das hier diskutierte Problem scheint ja, wie der US-Vergleich zeigt, eine sehr grundlegende Mentalitätsfrage zu sein, und eine Spezifizierung, dass "geheime Wahl" auch das "Geheimnis, ob man gewählt hat" beinhaltet, sollte wohl durchaus in ein möglichst grundlegendes Gesetz, nicht nur in eine Anordnung.

@nazgul: Ungültigwählen halte ich auch für die deutlich sinnvollere Alternative zur Nichtwahl, wenn jemand aktiv einen Protest ausdrücken will. Noch besser ein explizites "ich lehne alle Kandidaten ab"-Kästchen.
Auch nur milde Wahlanreize stehen aber schon vor dem gleichen Grundproblem wie drakonische Nichtwahlstrafen, eben der mehr oder weniger öffentlichen Bekanntmachung, ob jemand gewählt hat. Akzeptabel wäre soetwas für mich nur bei technisch sichergestellter anonymer Abwicklung.

Traitor
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Do 7. Nov 2013, 15:51 - Beitrag #7

Padreic, da du gerade eine Gouverneurswahl in Virginia erlebt hast - weißt du Hintergründe zu diesem Thema beizutragen?

Padreic
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Sa 9. Nov 2013, 18:04 - Beitrag #8

@Traitor: Nein. Meine Erfahrungen bzgl. der Wahl gehen nur wenig über frei im Internet verfügbares Material hinaus.


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