Gegen 2/3-Mehrheiten in Regierungshand!

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janw
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Di 14. Mai 2013, 11:29 - Beitrag #1

Gegen 2/3-Mehrheiten in Regierungshand!

Verfassungen stellen in politischen Systemen das Grundgerüst der Staats- und Rechtsordnung dar. Sie dienen als staatliche Letztbegründung und als letzte Versicherung des Bürgers gegen staatliche Eingriffe.
In allen mir bekannten Staaten erfordern Änderungen der Verfassung eine 2/3-Mehrheit.
Damit können Regierungen, die eine solche Mehrheit besitzen, in kurzer Zeit die Grundausrichtung des Staates ändern.

Mir kam vor einigen Tagen der Gedanke, daß dies eigentlich ein Risiko für eine Staatsordnung, gerade auch eine Demokratie, darstellt, gerade zu beobachten in Ungarn.

Wäre es da nicht angebracht, 2/3-Mehrheiten in Regierungshand auszuschließen, oder entsprechende Mehrheiten bei entsprechenden Abstimmungen als aus dem gesamten Parlament zusammen gesetzt zu fordern?

Traitor
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Di 14. Mai 2013, 13:00 - Beitrag #2

Inwiefern kann eine Verfassung eine "Begründung" des Staates sein? Ich denke, sie kann höchstens in einer Präambel die angenommene Begründung (Gott, "das Volk", Gesellschaftsvertrag, "war schon immer so") zitieren.

Zur Sache: Wie soll das in der Praxis aussehen?
Deinen ersten Vorschlag interpretiere ich als "Wenn eine Partei oder Koalition 2/3 der Stimmen holt, wird so lange neu gewählt, bis das nicht mehr der Fall ist"? In Kombination mit Ipsis 50,x%-Minimum wäre am Ende also immer nur ein Wahlausgang mit (50-66,6..)% legal...? Dann kann man sich die Wahlen auch fast schon sparen...
Den zweiten verstehe ich als "normale Wahlauswertung und Regierungsbildung, aber bei Verfassungsabstimmungen werden die Mehrheitsverhältnisse manipuliert"? Wie genau? Die Regierungsstimmen über 50%, über 33%, über 0% verfallen? Wo läge dann der Unterschied dazu, statt 2/3 einfach 90% oder 100% zu verlangen? Außer darin, dass plötzlich eine Minderheit aus der Opposition die Verfassung ändern könnte?

Die eigentliche Lösung ist, die Kernaspekte der Verfassung für unveränderlich zu erklären (bzw. nur per Volksentscheid, der die gesamte Verfassung ablöst), das ist meines Wissens im deutschen Grundgesetz auch ganz gut umgesetzt.

janw
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Di 14. Mai 2013, 13:19 - Beitrag #3

Zitat von Traitor:Inwiefern kann eine Verfassung eine "Begründung" des Staates sein? Ich denke, sie kann höchstens in einer Präambel die angenommene Begründung (Gott, "das Volk", Gesellschaftsvertrag, "war schon immer so") zitieren.

Vielleicht war es etwas krude formuliert, ich meinte etwas wie "Letztbegründung staatlichen Handelns".

Die Unveränderlicherklärung zentraler Normen ist ein Weg, der in Deutschland gegangen wurde, setzt aber voraus, daß er irgendwann mal gegangen worden ist.
Er hilft aber auch nur so weit, wie sich eine Verfassungsänderung als mit diesen Normen kollidierend nachweisen lässt, was nur durch entsprechende Gerichtsbefassung mit Überwindung entsprechender Hürden zu klären ist.
Wenn nicht entsprechend Leute nach Karlsruhe gegangen wären, hätten wir z.B. den präventiven Abschuss gekaperter Flugzeuge als rechtliche Praxis.

Über das Wie wäre zu diskutieren, ich bin mir da auch nicht sicher.

Ipsissimus
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Di 14. Mai 2013, 19:55 - Beitrag #4

es ist extrem schwierig, politische Systeme für die Ewigkeit zu stricken; wer es versucht, möge zusehen, dass ihn nicht der nächste Windstoß in Form einer Völkerwanderung oder einer neuen Religion davon weht. Eine andere Frage ist, ob es überhaupt wünschenswert wäre, gesetzt den Fall, es ginge. Ich gestehe, mir wäre es unangenehm, heute noch den Gesetzen des imperium romanum zu unterliegen, nur weil es irgendeinem politischen Genie gelungen wäre, die damaligen Gesetze zu verewigen.

Eines Tages werden wir Vergangenheit sein. Wenn die Vergangenheit der Zukunft allzu weit voraus vorschreiben will, wie diese zu sein hat, erwürgt sie die Zukunft. Es muss andere Möglichkeiten als Ewigkeitsparagraphen geben. Oder wie die Engländer so schön sagen: Der Preis der Freiheit ist ewige Wachsamkeit.

Traitor
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Di 14. Mai 2013, 20:24 - Beitrag #5

@Jan: Bei so einer Idee ist das "Wie" nicht ein zu diskutierendes technisches Detail, sondern definiert überhaupt erst das "Was". Wie gesagt, die möglichen Interpretationen deiner Idee gehen von "formeller Augenwischerei" bis zu "Demokratie abschaffen".

@Ipsissimus: Dann ist ja gut, dass wir den hier haben:
146 Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Andererseits ist zu erwarten, dass dies erst genau dann zur Anwendung kommt, wenn die (große) Mehrheit die Grundwerte des GG nicht mehr teilt, und so wird es eben doch daran scheitern müssen, diese über sich selbst hinaus zu perpetuieren...

Maglor
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Di 14. Mai 2013, 20:58 - Beitrag #6

Eine Verfassung ist auch nur ein Stück Papier. Papier kann zerrissen oder verbrannt werden.

Im Zweifel bevorzuge ich jedoch natürlich die Nazi-Methoden. Man muss eine Verfassung gar nicht abändern oder abschaffen, es genügt schon auf sie zu scheißen. :crazy:
Dann reichen natürlich auch 43 %!

Mein Lieblingsartikel im Grundgesetz ist übrigens Nr. 140.
Tabula rasa wäre sicher spannender.

Zitat von janw:Damit können Regierungen, die eine solche Mehrheit besitzen, in kurzer Zeit die Grundausrichtung des Staates ändern.

Deswegen gab es größere formaljuristische Einführungen einer neuen Verfassung auch nur in der DDR, Nordkorea, Sowjet-Union ... :rolleyes:

janw
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Di 14. Mai 2013, 21:49 - Beitrag #7

Maglor, schau Dir nur mal Ungarn an...

Ipsi, Ewigkeitsparagraphen sind sicher in historischer Entwicklungsperspektive nicht optimal. Aber eine Regel, daß eine Verfassungsänderung nur mit 2/3 aus Regierung und Opposition, möglichst breit gestreut, erfolgen kann, also nicht handstreichmäßig durch eine Regierungsfraktion, wäre vielleicht ein Weg, oder?

Ipsissimus
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Di 14. Mai 2013, 22:01 - Beitrag #8

Jan, was hältst du von einfacher Mehrheit, ermittelt durch eine Volksabstimmung mit Wahlpflicht?


Der Paragraph ist nicht schlecht (wenn auch unvollständig), Traitor, aber ich stimme Maglors Analyse zu: alles scheitert, wenn die richtigen Personen drauf scheißen

janw
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Mi 15. Mai 2013, 00:18 - Beitrag #9

Ipsi, schwierig...
Die öffentliche Meinung ist so abhängig von aktuellen Geschehnissen...
Zum anderen stimmt ein Parlament nicht nur ab, sondern arbeitet vorher an der Formulierung mit.

Ipsissimus
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Mi 15. Mai 2013, 00:38 - Beitrag #10

Das führt aber zu einer Grundsatzdiskussion darüber, was Demokratie ist. Wenn nicht nur verhindert werden muss, dass über bestimmte Dinge abgestimmt wird, sondern sogar, dass überhaupt über bestimmte Dinge abgestimmt werden kann, heißt das, dass eine Nation im Grunde nicht demokratiefähig ist und dass die Macht besser in der Hand von Eingeweihten aufgehoben ist, die wissen, was nötig ist. Oder was übersehe ich?

Lykurg
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Mi 15. Mai 2013, 08:40 - Beitrag #11

Einerseits amüsiert mich, daß gerade du Wahlpflicht befürwortest, Ipsissimus, andererseits wäre mir die einfache Mehrheit auch bei einer Volksabstimmung zu wenig. 2/3 sollten es schon sein, eben um weniger anfällig gegenüber Stimmungen zu sein, und keine extrem kontroversen Entscheidungen in so wichtigen Fragen zu haben.

janw, die 'Opposition' hätte z.B. in der DDR-Volkskammer sicher auch sämtliche Entscheidungen der SED mitgetragen, wenn es dort eine solche Koalitionsanforderung gegeben hätte.

Traitor
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Mi 15. Mai 2013, 09:55 - Beitrag #12

@Maglor: Ohne "Nichtamtlichen Hinweis" wäre 140 natürlich viel informativer. "Seelische Erhebung" ist aber auch eine tolle Formulierung...

Zitat von janw:2/3 aus Regierung und Opposition, möglichst breit gestreut
Ich habe immer noch nicht die geringste Vorstellung, wie du das umsetzen und begründen willst. Nimm mal an, eine Partei/Koalition hat tatsächlich eine 2/3-Mehrheit. Eine "möglichst breit gestreute" 2/3-Mehrheit hieße, dass diese Mehrheit als Nebenbedingung hälftig aus Regierung und Opposition besteht, also 1/3+1/3 - entweder müsste die Hälfte der Regierung plötzlich gegenstimmen, oder es wäre einfach eine 100%-Mehrheit. Alternativ könntest du so viele Regierungsparlamentarier aussperren oder ihres Stimmrechts berauben, bis 2/3 des Rumpfparlaments nur noch mit Anteil aus der Opposition erreichbar wäre. Aber bei Forderung von "möglichst breit gestreut" ergäbe das wieder genau das gleiche Rechenbeispiel, bei Zwischenstufen ziemliche Willkür.
Außerdem müsstest du erstmal "Regierung"/"Koalition" strenger definieren, als das derzeit gehandhabt wird. Entweder müsste sich bei Regierungsbildung jeder Parlamentarier dauerhaft als "für" oder "dagegen" registrieren lassen und entsprechend beschränkte Stimmrechte bei "für" hinnehmen - Gleichheit des Mandats nicht mehr gegeben, Gewissensentscheidung stark eingeschränkt. Oder du müsstest jede Verfassungsänderungsabstimmung mit einer Vertrauensfrage kombinieren, auch sehr, sehr fragwürdig und deinen Wünschen auch noch kontraproduktiv, per totaler Gleichschaltung der Regierungsfraktion(en).

@Ipsissimus: Der Wahlpflicht-Vorschlag überrascht mich auch, gilt aber vermutlich auch nur bei Vorhandensein einer "gegen den alten wie den neuen Vorschlag"-Wahloption?
Die Details der vom GG geforderten "freien Entscheidung" sind nirgends ausgeführt; lustigerweise bedeutet sie wohl nichtmal eindeutig eine Wahl. Wenn die auf dem GG gegründete Ordnung vor dem Versuch einer Neuverfassung noch nicht zusammengebrochen ist, dürfte aber davon auszugehen sein, dass dessen sonstige Normen auf die Abstimmung angewendet werden, u.a. eine 2/3-Mehrheit.

Ipsissimus
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Mi 15. Mai 2013, 10:38 - Beitrag #13

ich befürworte keine allgemeine Wahlpflicht, Lykurg^^ es ging nur um das Problem, eine große, dramatische Verfassungsänderung auf die Schultern der Mehrheit zu stellen, der echten Mehrheit, nicht einer anteiligen. Damit führt kein mir offensichtlicher Weg an der Wahlpflicht für derartige Situationen vorbei. Mein Vertrauen darin, dass gewählte Abgeordnete ihre Wähler vertreten ... ist eher begrenzt.^^

gemeint ist Wahlpflicht bei dramatischen Verfassungsänderungen, die z.B. das Gepräge eines Staates ändern können, Traitor.

janw
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Mi 15. Mai 2013, 21:31 - Beitrag #14

Zitat von Ipsissimus:Das führt aber zu einer Grundsatzdiskussion darüber, was Demokratie ist. Wenn nicht nur verhindert werden muss, dass über bestimmte Dinge abgestimmt wird, sondern sogar, dass überhaupt über bestimmte Dinge abgestimmt werden kann, heißt das, dass eine Nation im Grunde nicht demokratiefähig ist und dass die Macht besser in der Hand von Eingeweihten aufgehoben ist, die wissen, was nötig ist. Oder was übersehe ich?

Du wirst lachen, aber gestern las ich auf der dlf-Seite ein Interview über Frau Noelle-Neumann, in dem darauf verwiesen wurde, daß sie maßgeblich den Gedanken der erst zu entwickelnden Demokratiefähigkeit von Menschengruppen entwickelt und verbreitet habe - der heute auch im Entwicklungsdiskurs immer wieder angewandt wird.
Ich bin da etwas unentschlossen.

Das Problem ist, daß ein Parlament erst in zweiter Linie Abstimmungsgremium ist, vorher ist es maßgeblich daran beteiligt, die jeweilige Regelung zu fassen und zu formulieren.
Das ist etwas, das bei Plebisziten bisher fehlt, es geht dort nur um eine Ja/Nein-Entscheidung.
Ich bin skeptisch, ob es möglich wäre, dies durch Bürgerausschüsse mit entsprechend breiter Beteiligung zu ändern]janw, die 'Opposition' hätte z.B. in der DDR-Volkskammer sicher auch sämtliche Entscheidungen der SED mitgetragen, wenn es dort eine solche Koalitionsanforderung gegeben hätte.[/QUOTE]
Das war ja nun auch eine besonders lupenreine Demokratie^^

Zitat von Traitor:Ich habe immer noch nicht die geringste Vorstellung, wie du das umsetzen und begründen willst. Nimm mal an, eine Partei/Koalition hat tatsächlich eine 2/3-Mehrheit. Eine "möglichst breit gestreute" 2/3-Mehrheit hieße, dass diese Mehrheit als Nebenbedingung hälftig aus Regierung und Opposition besteht, also 1/3+1/3 - entweder müsste die Hälfte der Regierung plötzlich gegenstimmen, oder es wäre einfach eine 100%-Mehrheit. Alternativ könntest du so viele Regierungsparlamentarier aussperren oder ihres Stimmrechts berauben, bis 2/3 des Rumpfparlaments nur noch mit Anteil aus der Opposition erreichbar wäre. Aber bei Forderung von "möglichst breit gestreut" ergäbe das wieder genau das gleiche Rechenbeispiel, bei Zwischenstufen ziemliche Willkür.
Außerdem müsstest du erstmal "Regierung"/"Koalition" strenger definieren, als das derzeit gehandhabt wird. Entweder müsste sich bei Regierungsbildung jeder Parlamentarier dauerhaft als "für" oder "dagegen" registrieren lassen und entsprechend beschränkte Stimmrechte bei "für" hinnehmen - Gleichheit des Mandats nicht mehr gegeben, Gewissensentscheidung stark eingeschränkt. Oder du müsstest jede Verfassungsänderungsabstimmung mit einer Vertrauensfrage kombinieren, auch sehr, sehr fragwürdig und deinen Wünschen auch noch kontraproduktiv, per totaler Gleichschaltung der Regierungsfraktion(en).

Naja, sieh Dir Ungarn an: Regierungskoalition hat 2/3 und stimmt damit Änderungen ab, die kaum je wieder zurück gederht werden können, weil die dann dazu nötige 2/3-Mehrheits-Regierung kaum erreichbar ist.
Wenn wirklich 2/3 des gesamten Parlaments zustimmen müssten, vielleicht die 2/3 sogar mindestens hälftig aufgeteilt, wäre eine derart handstreichartige Änderung der Verfassung durch ein politisches Lager nicht so leicht möglich.

Maglor
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Mi 15. Mai 2013, 21:56 - Beitrag #15

Die Änderungen in Ungarn sind doch die ganze Aufregung nicht. Das eigentliche Problem ist ungarische Regierung und das die in Europa keiner mag.
Dass ausgerechnet die EU nun versucht die Ungarn eines besseres zu belehren, ist schon sehr grotesk. Die EU selbst ist ja das beste Beispiel, was mit einem Konstrukt passiert, dessen Verfassungsgebungsprozess zu kompliziert und schwierig ist.

janw
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Sa 18. Mai 2013, 15:21 - Beitrag #16

Maglor, ich bin recht froh, daß die in Europa keiner mag.

Was die Regierung dort beschlossen hat, wird nur schwer wieder revidiert werden können.
Mit Konsequenzen für alle Ungarn, auch für Andersdenkende und Angehörige von Minderheiten.

Ich fürchte einfach, daß derartiges auch anderswo passieren könnte.


Das Verfassungsdebakel der EU ist ein Thema für sich, ein echter Tiefschlag für die demokratische Kultur in Europa.

janw
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So 19. Mai 2013, 17:37 - Beitrag #17

Ich hege im Übrigen seit einiger Zeit auch zunehmendes Unbehagen mit der Praxis tiefgreifender Gesetzgebungen durch Regierungsmehrheiten gegen Oppositionsminderheiten.
Kaum ein gut gemachtes Gesetz dürfte in meinen Augen in derart scharf gezogenen Meinungsbildern verfangen, und in der Tat steht dahinter ein Fraktionszwang, der mittlerweile zur unhinterfragten Regel geworden ist.
Das widerspricht in meinen Augen der grundgesetzlich geforderten alleinigen Gewissensverantwortung der Abgeordneten.

Maglor
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Mo 20. Mai 2013, 11:19 - Beitrag #18

Zitat von janw:Das Verfassungsdebakel der EU ist ein Thema für sich, ein echter Tiefschlag für die demokratische Kultur in Europa.

Ja, stimmt, diese Volksentscheide in Irland etc. waren demokratisch echte Tiefschläge.


Am Ende wird man Ungarn an Europa messen müssen, eben an Bulgarien, Italien oder eben Deutschland.
Das Entsetzen der Europäer über die bösen Ungarn wirkt da geradezu lächerlich, bedenkt man, was sich die anderen Mitglieder alles geleistet haben.
Gerade Deutschland muss mit seinem Sicherheitsverwahrungsdebakel und der ausgewiesenen Unfähigkeit des eigenen Verfassungsgerichts ja eigentlich mal schön vor der eigenen Haustüre kehren.

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Mo 20. Mai 2013, 11:52 - Beitrag #19

Maglor, bezüglich der EU-Verfassung hatte ich mehr an das Gesamt-Prozedere gedacht, insbesondere daß es den Ländern überlassen blieb, wie viel Bürgerwillen sie zulassen wollten.
Die Volksentscheide der Iren und anderer finde ich gut.

Meine Skepsis bezüglich Volksentscheiden bei Gesetzen beruht im Wesentlichen auf zwei Aspekten:
- Volksentscheidung müsste sich auch auf die Formulierungsfrage erstrecken, um parlamentsanalog zu sein
- Problematik populistischer Beeinflussung der Meinungsbildung:
Die Homo-Ehe wäre weder hier noch in Frankreich duch Plebiszit eingeführt worden, und bezüglich der Sicherungsverwahrung wären wir noch auf dem Stand von anno dazumal. Verstoß gegen Menschenrechte? Seit wann sind Sextäter Menschen?^^
Wenn ich es richtig sehe, ist es die allgemeine Meinungsströmung, befeuert durch Tea Party und bestimmte Medien, die Obama daran hindert, Guantanamo aufzulösen.

Ungarn ist so weit, daß manche Menschen auswandern, um nicht von Jobbik-Leuten angegriffen zu werden.
Natürlich haben wir auch einiges auf dem Kerbholz, das soll damit nicht bestritten werden.

Ipsissimus
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Mo 20. Mai 2013, 14:17 - Beitrag #20

Problematik populistischer Beeinflussung der Meinungsbildung
dieses Argument, so sehr ich die sachliche Berechtigung der Befürchtung nachvollziehen kann und teilweise teile, empfinde ich als extrem problematisch, weil in ihm die prinzipielle Ablehnung der Befolgung des Bevölkerungswillens zugunsten einer Elitenmeinung formuliert ist. Im Grund ist darin die Nichteignung von Demokratie zur Führung eines Staatswesens ausgedrückt.

Natürlich muss es allen interessierten Gruppierungen möglich sein, auf egalitärer Basis auf die Stimmung in der Bevölkerung einzuwirken. Wenn dann aber die Bevölkerung mit Mehrheit entscheidet, dass sie die Todesstrafe will, ist das als gültiger Ausdruck des Willens der Mehrheit einer Gesellschaft zu respektieren. Und anstelle des Populismus der Mehrheitsmeinung sollten die Unterlegenen dann besser ihre Unfähigkeit beklagen, der eigenen Position das Verständnis zu sichern, das sie verdient.

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