Das wertvollste Bürgerrecht

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Di 11. Jun 2013, 15:24 - Beitrag #1

Das wertvollste Bürgerrecht

http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/lob-der-polizeigewerkschaft-fuersprecher-in-deutschland-fuer-obamas-netz-spionage/8319284.html

Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, hat sich wohlwollend zur Überwachung von Telefon- und Internetdaten in den USA geäußert und Ähnliches auch für Deutschland angeregt. „Ich habe die große Hoffnung, dass wir uns in Deutschland nicht länger auf unser Glück verlassen, sondern der Bevölkerung klipp und klar sagen, was zur Verbesserung polizeilicher Analysekompetenz nötig ist“, sagte Wendt Handelsblatt Online. Das „wertvollste“ Bürgerrecht sei immer noch der Schutz vor Terror und Kriminalität. „Präsident Barack Obama argumentiert mutig, entschlossen und er hat fachlich hundertprozentig recht“, betonte Wendt. „Diese Politik wünschte ich mir auch in Deutschland und Europa.“


dazu der User "anonym":

Man sollte sich in den Innenministerien mal die Frage stellen, warum es so viele Polizisten zu geben scheint, die Probleme mit den verfassungsmäßig garantierten Grundrechten der Bevölkerung haben.

Padreic
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Di 11. Jun 2013, 22:04 - Beitrag #2

Verfassungsmäßige Grundrechte sind in manchen Fällen eindeutig, aber beispielsweise beim Datenschutz kommt es doch sehr auf die Interpretation der Verfassung an. Beim Datenschutz kommt es, wie bei vielen Dingen, auf das richtige Maß an.
Wenn man den Datenschutz zu Gunsten der Effizienz von Behörden lockern will, sollte man aber erstmal anfangen, die Daten, die Behörden schon haben, zu teilen mit Hilfe von Zentralregistern, wo Informationen über Personen gespeichert werden.
Generelle Datensammlung aus Internet- und Telefon finde ich aber schon aus praktischen Gründen als schwierig an. Irgendwer muss die auswerten oder man muss Computersysteme haben, die das können. Finanzierung von Polizei ist aber üblicherweise nicht unbedingt reichlich und mit neuen Computersystemen wurden auch nicht immer gute Erfahrungen gemacht...darüberhinaus wird selbst bei praktisch erfolgreicher Arbeit dabei auch mir etwas mulmig.

Ich denke, momentan sind wir in Deutschland nicht sehr nah an einem Überwachungsstaat (höchstens in der Fantasie von einige Datenschützlern und den Hoffnung einiger Innenminister und Polizeitypen). Auch muss man sich bei Überwachungsstaat vor Augen halten, dass die Überwachung selbst bei einem solchen üblicherweise nur ein kleines Problem ist; es kommt immer darauf an, was mit den vorhandenen Daten gemacht wird. Natürlich, ein Spitzelsystem wie beispielsweise in der DDR würde selbst bei anderweitig besten Absichten, so viel Vertrauen untergraben, dass es unter allen Umständen intolerabel wäre. Und auch natürlich lädt eine große Datensammlung auch immer zu Missbrauch ein. Aber ich sehe eigentlich nicht, dass in Deutschland selbst eine große Datenmenge zu politischer Verfolgung und dergleichen führen würde. Genauso kann man in den USA fragen: Leute mögen zwar ein mulmiges Gefühl haben, wenn andere Leute ihre Daten auslesen; wer hat aber konkreten Schaden von diesen Aktionen gehabt?

Anaeyon
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Di 11. Jun 2013, 22:23 - Beitrag #3

Gab es nicht im zweiten Weltkrieg in einem der Länder nördlich von uns Listen mit Religionszugehörigkeit, die dann von den Nazis zweckentfremdet wurden, nachdem sie womöglich tatsächlich mit guten Absichten ins Leben gerufen wurden?

Man muss sich im Informationszeitalter langsam die Frage stellen, ob man bestimmte Datenbanken nicht als Waffe ansieht, die nicht existieren darf, egal aus welchem Grund.

Letztendlich ist es völlig egal wer sowas aus welchem Grund macht, es wird missbraucht werden. Ob durch den eigenen Staat, durch einen anderen, oder durch Hacker, die das ins Netz stellen. Desweiteren dürfen wir bei solchen Fragen nicht mehr nur über das eigene Land denken, nehmen sich unsere Staaten doch ständig das Handeln anderer Staaten als Argument, nachziehen zu müssen.

Ich verstehe nicht, warum es immer erst knallen muss, bis man die Gefährlichkeit einer Sache aussprechen darf, ohne den Vorwurf ernten zu müssen, man übertreibe.

Seit Jahrzehten warnt die Hackerszene, dass Regierungen zugriff auf nahezu allen digitalen Verkehr haben. Jetzt plötzlich leaked es einer und wir sind alle überrascht.

janw
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Di 11. Jun 2013, 22:33 - Beitrag #4

Padreic, die Sache wird spätestens dann ungemütlich, wenn irgendjemand, mit dem Du Kontakt gehabt hast, als näher zu beobachten eingestuft wird.

Das Wissen, wann jemand wo und mit wem gewesen ist oder kommuniziert hat, muss allein diesem und Kommunikationspartnern vorbehalten sein können, um die Freiheit der Kommunikation vor der "Schere in Kopf" zu bewahren.


Ipsi, mensch wird nicht zufällig Polizist^^

Maglor
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Di 11. Jun 2013, 23:01 - Beitrag #5

Ein kleiner Überlebenstipp:
Wenn man schon auffälliges Material telefonisch oder internetzisch verstreut, sollte man auf keinen Fall die EU verlassen.

Ein Beispiel:
Der Algerier Laid Saidi wurde dabei abgehört, wie er auf arabisch ins Telefon grummelte. Als er sich in Tansania aufhielt, was wohl als rechtsfreier Raum gilt, wurde er gefangen genommen in ein amerikanischen Geheimgefängnis in Afghanistan verschleppt und dort
16 Monate verhört.
[INDENT]In einem anderen Gefängnis wollten englisch sprechende Beamte von ihm etwas über ein Telefonat wissen, das er mit seinem Schwager in Kenia geführt habe und in dem es um Flugzeuge gegangen sei. Saidi behauptet, man habe über Autoreifen gesprochen, die sein Schwager verkaufen wollte. Seine Vermutung: Weil er in einer Mischung aus Arabisch und Englisch statt von "tires" von "tirat" gesprochen habe, hätten lauschende Agenten "tayarat" verstanden, arabisch für Flugzeuge. Spiegel 2006 [/INDENT]
Der deutsche Khaled al Masri wurde sogar von Mazedonien vom CIA nach Afghanistan verschleppt.

Anaeyon
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Di 11. Jun 2013, 23:30 - Beitrag #6

Man muss nichtmal Terrorverdacht erwecken, um bespitzelt zu werden und auch konkret unter den Folgen zu leiden.
Wohlgemerkt dreht es sich hier um private Nachrichten, nicht Pinnwandeinträge.

Padreic
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Di 11. Jun 2013, 23:47 - Beitrag #7

Maglors Beispiel ist zwar schaurig, wäre ohne ein weite Telefonabhörung nicht passiert, ist aber auch keineswegs direkt darauf zurückzuführen. Jemanden aufgrund minimaler Indizien zu kidnappen und monatelang zu foltern folgt aus keiner Datensammlung. Zugegeben sind aber Leute, die eine massive Datensammlung und Geheimgefängnisse befürworten, häufig von ähnlicher Gesinnung...

@janw: Nicht zwangsläufig wird es dann ungemütlich. Meine Eltern hatten auch schonmal die Mordkommission vor der Haustür, weil sie ein längeres Telefongespräch mit der Ehefrau eines Mordverdächtigen geführt hatten. Dann führt man eben ein Gespräch mit den Ermittlungbeamten. Bei einem konkreten Verdacht können schon längst Telefondaten eingesehen werden; was im Gespräch ist, ist ja gerade eine Ausweitung auf nicht-Verdächtige.

Übrigens schränke ich meine Äußerungen hier nicht ein, weil der Staat hier mitlesen kann...

@Anaeyon
Missbrauch von beispielsweise Zentralregistern in gewissen Maße ist nahezu sicher; das ist klar. Genauso wie die Gewalten von Polizisten häufiger mal missbraucht werden; dies ist genauso wenig ein Anlass die Polizei abzuschaffen wie Hammer zu verbieten, weil damit jemand ab und an erschlagen wird. Es gilt immer abzuwägen und diese Abwägungen können verschieden getroffen werden. Bei dieser Abwägung im Kontext alle Telefondaten zu überwachen würde ich dir aber wohl durchaus zustimmen.

Und wer war bitteschön überrascht, dass die USA den Datenverkehr überwachen?

Edit: Auch wenn ich, wie gesagt, eine solche Überwachung der Kommunikation nicht gutheiße, muss man schon sagen, dass sie unter falschen Angaben in die USA einreisen wollte. Man kann durchaus der Meinung sein, dass es ok ist, das rigide us-amerikanische Einreisegesetz durch Betrug zu umgehen, aber einen Anspruch hat darauf auch nicht...

Ipsissimus
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Mi 12. Jun 2013, 11:28 - Beitrag #8

aus meiner Sicht ist ein Recht auf Schutz vor Terror und Kriminalität eine Art contraditio in adjectu, weil es zum Wesen von terroristischen und kriminellen Gewalttaten gehört, rechtsbrechend zu sein. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit würde, in der Weise verstanden, wie Wendt das anscheinend tut, etwas versprechen, was niemand halten kann, auch keine staatliche Organisation. Das m.M.n. relevante Verständnis dieses Grundrechts garantiert den Bürgern eines Staates vielmehr die körperliche Unversehrtheit in Bezug auf staatliche Maßnahmen, sprich, der Staat garantiert seinen Bürgern, nicht von staatlichen Organen gefoltert oder misshandelt und außer im Fall von unabdingbaren Notwehrmaßnahmen nicht verletzt oder getötet zu werden.

Damit fällt meines Erachtens der Kern von Wendts Argumentation in sich zusammen; es gibt schlicht keinen Konflikt zwischen einem Grundrecht auf Schutz gegen Terror und einem Grundrecht auf Schutz der persönlichen Daten, einfach weil ersteres nicht existiert. Die Pflicht des Staates andererseits, seine Bürger vor nichtstaatlichen Gewaltmaßnahmen zu schützen, ist damit auf einer deutlich untergeordneten Ebene angesiedelt.

Padreic
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Mi 12. Jun 2013, 12:02 - Beitrag #9

Ich halte den Schutz vor nicht-(eigen-)staatlichen Übergriffen für eine der essentiellen Aufgaben des Staates (oder anderer Gemeinschaften, die regelrechte Staaten ersetzen können), vielleicht sogar für dessen wichtigste. Dieser Schutz kann niemals vollständig sein, ist aber in weiten Teilen Deutschlands doch recht gut.
Die Unterscheidung zwischen Pflichten des Staates gegenüber seinen Bürgern und Rechten seiner Bürger, die diese in ihrer Funktion als Bürger haben, finde ich etwas haarspalterisch. Die Rechtfertigung von staatlicher Gewalt überhaupt (in Form von Polizei vor allem) ist gerade der Schutz gegen nicht-staatliche Übergriffe; in einem halbwegs berechtigten Staat würde ohne das die Möglichkeit zu staatlichen Übergriffen gar nicht bestehen.

Ipsissimus
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Mi 12. Jun 2013, 12:15 - Beitrag #10

Ich halte den Schutz vor nicht-(eigen-)staatlichen Übergriffen für eine der essentiellen Aufgaben des Staates
das sehe ich im Wesentlichen genauso; allerdings mache ich einen deutlichen Unterschied zwischen dem Verfassungsrang der Pflichten des Staates und der Rechte der Bürger. Wenn einem Staat erlaubt wird, mit seinen Pflichten das Aushebeln der Bürgerrechte zu begründen, kommen wir in des Teufels Küche. Als allermindestes muss m.E. verlangt werden, dass ein Staat nicht pauschalisiert. Wobei das, was in den USA passiert, weit darüber hinausgeht.

Traitor
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Mi 12. Jun 2013, 13:20 - Beitrag #11

@Ipsissimus:
Die Grundrechte stehen nicht umsonst im Grundgesetz, einem staatlichen Dokument, bzw. dem staatlichen Dokument, und nicht in einem Text, den sich "die Bürger" auf irgendeinem abstrakten Weg selbst gegeben haben und der dann dem aus dem nichts entstehenden oder von außen kommendem Staat zur Kontrolle seiner ebenso aus dem Nichts kommenden Machtfülle aufgezwungen wurde.

Wie Padreic sagt, ist ein moderner Rechtsstaat in erster Linie ein Garant der Grundrechte der Menschen untereinander und gegenüber äußeren Einflüssen (menschlichen und natürlichen). Oder er ist zumindest dazu gedacht. Dass es überhaupt denkbar ist, dass der Staat selbst Rechte verletzen kann, ist erst eine sekundäre Verfeinerung des Prinzips aufgrund realweltlicher Nonidealitäten (wenn auch natürlich eine sehr naheligende), und somit die Verteidigung von Rechten gegenüber dem Staat oder Einführung neuer Rechte, die erst durch eine staatliche Bedrohung nötig werden, ein sekundärer Kontrollmechanismus.
Das sieht man auch schon daran, wie selbstwidersprüchlich die historisierende Version "der Staat wurde geschaffen, um den Bürger vor dem Staat zu schützen" wirkt.

Somit hat Wendt auf analytischer Ebene völlig Recht, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit gegenüber Dritten grundlegender ist als das auf Datenschutz gegenüber dem Staat. Sein offensichtlicher Fehlschluss ist aber, dass aus dieser analytischen Priorität eine Bedeutungspriorität automatisch folgt. Diese kann nur unter Hinzuziehung vielfältiger moralischer und statistischer Aspekte proponiert oder widerlegt werden, und dass da ein Polizist eine nicht mehrheitsfähig verzerrte Perspektive hat, ist naheliegend.

Ach ja, ein Staat muss pauschalisieren, erstens aus Praktikabilitätsgründen, zweitens aber auch aus Gerechtigkeitsgründen.

Und er muss andauernd zwischen mehreren eigentlich jeweils unverletztlichen Grundrechten abwägen und entscheiden, welches zu verletzen eher verkraftbar ist - das ist die Realität, die Karlsruhe nicht wahrhaben will, du vielleicht auch nicht, der aber in einer komplexen Welt nunmal nicht zu entkommen ist. ("nicht wahrhaben wollen" hier nicht als "Ignoranz" gemeint, sondern als "wissentlich anderen die eigenen höheren Prinzipien vorhalten, die man vermutlich selbst aufgeben müsste, wenn man in deren Situation wäre" - was nicht inhärent schlecht ist, manche würden es sogar "edel" nennen, ich halte es aber für unfair.)

@Padreic: So logisch die Ansicht "die Datensammlung an sich richtet ja keinen Schaden an" ist, so gefährlich ist sie auch. Nicht nur, weil die Verfügbarkeit bei unabhängig von ihr aufkommenden bösen Absichten Missbrauch ermöglicht, sondern auch, weil die Verfügbarkeit an sich zum Aufkommen dieser Bosheit verführen kann. (Mehr Details vielleicht später.)

Auch ein Grund, warum mir Prism schlimmer erscheint als Standard-Mailfilterung - weil menschengeeigneter Vollzugriff auf Datensammlungen hergestellt wird, zudem verdachtsunabhängig zumindest auch ermöglicht, anstatt "nur" automatische Filter laufen zu lassen, die nur bei Anschlag auch weiter auswertbare Daten abzweigen. (Was vermutlich eine naive Annahme ist, wer weiß, ob nicht doch auch große Mengen Mails auf Vorrat gespeichert werden. Und die Filterschwelle dürfte auch unangemessen niedrig liegen. Also sagen wir, ich beziehe mich hier auf einen "ideal-datenschutzkompatiblen" automatischen Filter als Referenz.)

@Anaeyon: Sehr interessanter Fall, der, obwohl die Betroffene wohl im Unrecht war, doch ganz nebenbei zumindest für Facebook mal so eben den Beweis für die bisher noch abgestrittene verdachtsunabhängige Datenerhebung liefert... (Es sei denn, sie oder der Gastvater hätte aus irgendeinem Grund unter Vorbeobachtung gestanden.)
Passt ansonsten aber besser in den Prism-Thread. (Dessen Titel ich gerade mal angepasst habe, damit das klar wird.)

Ipsissimus
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Mi 12. Jun 2013, 15:09 - Beitrag #12

Und er muss andauernd zwischen mehreren eigentlich jeweils unverletztlichen Grundrechten abwägen und entscheiden, welches zu verletzen eher verkraftbar ist - das ist die Realität, die Karlsruhe nicht wahrhaben will, du vielleicht auch nicht, der aber in einer komplexen Welt nunmal nicht zu entkommen ist.
vielleicht kennst du den Film "Remo - unbewaffnet und gefährlich", amüsanter Trash, in dem der Organisator einer staatlichen Killerbrigade den Satz sagt (Gedächtniszitat): "Die amerikanische Verfassung ist wundervoll, man kann nur keinen Staat damit regieren".

Wenn die Bürger aller befallenen Staaten nach Offenlegung und detaillierter Erklärung der Bedeutung aller Sachverhalte, wenn ihnen klar gemacht würde, dass sie zuhause beim Sex nicht mehr unbeobachtet stöhnen können, darüber abstimmen können, ob sie sich in ihrer Gesamtheit einer derartigen Überwachung unterwerfen wollen, dann wäre eine derartige Überwachung abgesehen von der irrelevanten Metakritik durch die Menschenrechte legitimiert. So wie der Stand der Dinge ist, maßen sich aufgrund ihres tic de métier voreingenommene Experten an, für die Mehrheit zu entscheiden, wofür sie über keinerlei Legitimation verfügen. Offensichtlich ist dies die Realität. Es ist genau die Art von Realität, die ihre eigenen Monster gebiert, denn besagte Experten bemerken auch in ganz anderen Kontexten nicht die Wut der Schafe.

Ipsissimus
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Mi 12. Jun 2013, 16:14 - Beitrag #13

"Noch existiert der Unterdrückungsstaat nicht", zitiert Slate-Autor Fred Kaplan den ehemaligen Militär und Sicherheitsexperten Brian Jenkins, der seit 1971 für die Regierung Daten über internationale Terroristen sammelt. "Aber wenn der Präsident in diese Richtung gehen will, 'stehen die Werkzeuge dafür jetzt bereit'. Die Entscheidung dafür 'kann unter Umständen fallen, die sie höchst vernünftig erscheinen lassen', erklärt er weiter. 'Demokratie verhindert nicht, dass wir uns freiwillig dem Despotismus ergeben. Wenn die Bevölkerung genug Angst hat, kann das Parlament Bürgerrechte so ebenso einfach abschaffen wie Tyrannen Macht hinzugewinnen. Genau das scheint gerade angefangen zu haben. [...] 'Wenn es das ist, was wir wollen, dann ist das Demokratie', so Jenkins. 'Das Problem ist nur, dass es keine Struktur gibt, die sicher stellt, dass es das ist, was wir wollen.'"
http://www.perlentaucher.de/blog/361__privatheit_war_mal.html

Lykurg
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Mi 12. Jun 2013, 17:07 - Beitrag #14

Zitat von Traitor:@Padreic: So logisch die Ansicht "die Datensammlung an sich richtet ja keinen Schaden an" ist, so gefährlich ist sie auch. Nicht nur, weil die Verfügbarkeit bei unabhängig von ihr aufkommenden bösen Absichten Missbrauch ermöglicht, sondern auch, weil die Verfügbarkeit an sich zum Aufkommen dieser Bosheit verführen kann. (Mehr Details vielleicht später.)
Ziemlich krasser permanenter Mißbrauch von Datensammlungen spricht aus diesem Artikel. Mich erinnern die dargestellten Zustände hinsichtlich des systematischen Machtmißbrauchs an die Geschehnisse in Abu Ghraib - auch wenn hier niemandem unmittelbarer Schaden zugefügt wurde, ist der Eingriff in die Privatsphäre ungeheuerlich und zeigt, wie unverantwortlich damit umgegangen wird.

Traitor
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Do 13. Jun 2013, 10:22 - Beitrag #15

@Ipsissimus: Den Film kenne ich nicht, aber das Zitat ist bekannt. Es beschreibt aber das Extrem, in das der Staat eben nicht abgleiten darf, nicht schon den pragmatischen Mittelweg. Der muss immer wieder neu verhandelt werden und jeder Entscheidungsträger, der sich über den Konsens hinwegsetzt, oder auch nur einen falschen Konsens umsetzt, muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

Eine direkte Volksabstimmung über Überwachungssysteme ist doch gar nicht nötig, die existierenden Gesetze und Grundrechte regeln doch eigentlich hinreichend, dass sie in diesem Ausmaß nicht legal sind. Das müsste nur so auch umgesetzt werden.

@Lykurg: Die auch schon im Artikel gezogene Abu-Ghraib-Parallele halte ich für recht weit hergeholt - beides ist illegal, beides ist Machtmissbrauch, aber da hört es auch auf. Typisch aber auch wieder, dass ABC als Hauptskandal ausmachte, dass "Americans talking to Americans" belauscht werden.

Lykurg
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Do 13. Jun 2013, 10:53 - Beitrag #16

@Traitor: Beides beinhaltet schwerwiegende Verletzung der Intimsphäre von Wehrlosen aus Langeweile und zur Befriedigung eigener, großenteils sexueller, 'Bedürfnisse'. Beides wurde über einen längeren Zeitraum im Kollektiv durchgeführt von Vertretern der Staatsgewalt (wahrscheinlich unter Duldung ihrer Vorgesetzten), die unter dem Vorwand des Schutzes vor Terrorismus operieren, übrigens beides im Irakkrieg. Weitere Parallelen erwünscht?

Edit: Ok, in Abu Ghraib waren die Opfer Irakis, hier sind es US-Soldaten. Ich sehe ein, die beiden Fälle sind absolut und überhaupt nicht zu vergleichen. Bild
Eine direkte Volksabstimmung über Überwachungssysteme ist doch gar nicht nötig, die existierenden Gesetze und Grundrechte regeln doch eigentlich hinreichend, dass sie in diesem Ausmaß nicht legal sind. Das müsste nur so auch umgesetzt werden.
Zumindest auf reddit sind ziemlich viele auch massive NSA-Gegner der Meinung, daß die zutage getretene Praxis sowohl legal als auch verfassungsmäßig sei (einige von ihnen sehen darin das wirklich Verstörende) - der vierte Verfassungszusatz spricht von "unreasonable searches", und das ist auslegungsbedürftig. Darüber hinaus wird der Privatstatus von unverschlüsselten Mails und Telefonaten bezweifelt - die anscheinend nicht unter das US-Postgeheimnis fallen, das derartige Durchsuchung für Briefe verbietet.
Das ist höchst relevant für die Fragestellung, ob Snowden als Whistleblower amnestiefähig ist - denn das entsprechende Gesetz greift nur, wenn er eine illegale Praxis aufgedeckt hat.

Nach deutschem Recht ist das eindeutig anders, und entsprechend die NSA-Praxis hier illegal, das sollte aber Geheimdienste noch nie gestört haben. Und daß die US-Öffentlichkeit den Rest der Welt, ähm...

Traitor
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Do 13. Jun 2013, 11:25 - Beitrag #17

Ah, du bezogst dich auf die sekundären Skandale vor Ort, nicht auf die Existenz einer solchen Anlage an und für sich... ja, im individuellen Verhalten der niederen Dienstgrade gibt es stärkere Parallelen.

Mit der US-Verfassung kenne ich mich unzureichend aus, aber wäre bei dieser Interpretation nicht schon der 4. Zusatz selbst verfassungswidrig zum 1.?
Congress shall make no law [...] abridging the freedom of speech, or of the press; [...]
Oder ist "freedom of speech" bei denen nur "public speech", keine private Kommunikation?

e-noon
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Do 13. Jun 2013, 11:40 - Beitrag #18

Leute mögen zwar ein mulmiges Gefühl haben, wenn andere Leute ihre Daten auslesen; wer hat aber konkreten Schaden von diesen Aktionen gehabt?

Wenn jemand meine Telefongespräche abhört, meine E-mails liest und jederzeit mein Tagebuch einsehen kann (wenn ich dies beispielsweise in meinen Mails verfasse, um es immer präsent zu haben), dann ist das für mich ein Schaden, der kaum wieder gutzumachen ist. Meine Privatsphäre wird geopfert zugungsten einer gefühlt höheren Sicherheit... Verdachtsmomente werden völlig umgekehrt und auf einmal bin ich nicht mehr der schützenswerte Bürger, sondern der potentielle Feind. Nichts ist daran gut. Wenn man Geld für Verbrechensbekämpfung ausgeben will, sind andere Wege weit effektiver, insbesondere Prävention; damit werden nicht nur potentielle Opfer gerettet, sondern sogar potentielle Täter. Effektiver geht es kaum.

Ich möchte nicht, dass jemand heimlich irgendetwas von mir ausspähen kann, auch wenn ich nur zuhause sitze und lerne, oder wenn ich mich am Telefon mit meinem Friseur streite. Wenn man das Recht auf Privatsphäre nicht stärker etabliert, wird es bei zunehmenden technischen Möglichkeiten bald inexistent sein.


Edit: Zu Abu Ghraib finde ich den Text etwas präziser:
"This story is to surveillance law what Abu Ghraib was to prison law," Turley said.

janw
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Do 13. Jun 2013, 18:15 - Beitrag #19

Zitat von Traitor:Oder ist "freedom of speech" bei denen nur "public speech", keine private Kommunikation?

Ich denke, es geht um den kleinen Unterschied, daß Prism nach bisher bekanntem Wissen nur auf die Orts- und Zeitdaten der Kommunikationsvorgänge abzielt, nicht auf die Inhalte.
Damit kommt es vielleicht auf die Lesart an, wie weit die Grenze des freedom of speech überschritten sind: über den größten Teil der Geschichte dieser Norm ist das Wo und Wann als weniger relevant betrachtet worden, so daß man bei historisch-kritischer Lesart zu dem Schluss kommen könnte, daß diese Informationen nicht zum bei der Abfassung gedachten Inhalt der Norm rechnen.

Dem wäre entgegen zu halten, daß diese Informationen im Zuge der Ausweitung der Möglichkeiten der Datenanalyse eine eigene Relevanz erhalten, die zu einer mindestens ähnlichen Gefährdung der Freiheit führen, wie der Zugriff auf die Inhalte der Kommunikation.

Maglor
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Do 13. Jun 2013, 22:06 - Beitrag #20

Nach bisher bekanntem Wissen ist das alles geheim.
Es geht dem NSA da auch um die Inhalte und darauf können sie auch zugreifen. Es erfolgt bei den Inhalten jedoch keine pauschale Datenspeicherung.
Die Speicher reichen wahrscheinlich nur für die Verbindungsdaten. :crazy:

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