Antiamerikanismus?

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Malte279
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Fr 28. Jun 2013, 21:01 - Beitrag #1

Antiamerikanismus?

Ich habe eine Frage für die ich keinen Kontext geben möchte um die Diskussion so weit wie möglich zu halten. Wo würde eurer Meinung nach Kritik an den USA aufhören und Antiamerikanismus anfangen?
Was ist eurer Meinung nach Antiamerikanismus?
(Okay, das waren jetzt zwei Fragen).

Ipsissimus
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Sa 29. Jun 2013, 11:45 - Beitrag #2

na ja, um die erste Frage beantworten zu können, sollte die zweite vorher geklärt sein^^

Im Kern solcher Anti...ismen steht wohl immer eine Form von Pauschalisierung, wobei es relativ gleichgültig ist, wie diese Pauschalisierung zustande gekommen ist. "Die sind Amerikaner (Israelis, Muslime, Russen, Bayern, Sozialarbeiter, Männer, Frauen, jede beliebige Feindgruppe ...), die können also per se nur Scheiße bauen" - so ungefähr lautet die Kernüberzeugung, die in einem Anti...ismus zu tragen kommt. Diese Überzeugung ersetzt die Einzelfallbetrachtung, das heißt, ein Anti...ismus arbeitet mit einer vermuteten oder unterstellten Gruppenidentität, von der die individuelle Identität überschrieben wird. Damit ist zugleich die Grenzlinie beschrieben. Solange noch die Möglichkeit eingeräumt und auch wahrgenommen wird, dass sowohl Einzelpersonen als auch Untergruppen von der angenommenen Hauptgruppenidentität abweichen können, ist der Anti...ismus zumindest nicht abgeschlossen und selbststabilisierend

Das ist alles eigentlich relativ klar, vielleicht ein bisschen abstrakt, weil ich versuche, das Problem unabhängig von konkreten Inhalten zu beschreiben, die naturgemäß bei unterschiedlichen Gruppen mit unterschiedlichen Beobachtungen oder Interpretationen belegt sind.

Ein bisschen haarig wird es nur, wenn die behauptete Gruppenidentität auf der Grundlage von Erfahrungen zugewiesen wird, die nicht durch gegenläufige Erfahrungen ausgeglichen werden. Ich könnte mir gut vorstellen, dass ein paschtunischer Hinterwäldler, der die USA immer nur in Form von Dronenangriffen oder als Kriegsmacht, die gegen sein Volk auftritt, erlebt, eine Form von Antiamerikanismus ("alle Amerikaner sind kriegslüstern") entwickelt. Es gibt eben Menschen, die ihre unmittelbaren Erfahrungen nicht anhand geostrategischer Zusammenhänge relativieren, schon allein deswegen nicht, weil sie diese Zusammenhänge nicht kennen.

Eine weitere Schwierigkeit tritt auf, wenn innerhalb der Großgruppe Eigenarten, mit denen der Anti...ismus begründet wird, tatsächlich in einem erheblichen Ausmaß nachweisbar sind. Die übergroße Mehrheit der US-Amerikaner spricht sich bei Befragungen immer wieder für die Todesstrafe, für drakonische Gefängnisstrafen, für laxe Waffengesetze usw. aus. In solchen Fällen kann es schwierig werden, beidem gerecht zu werden, also weder den Blick für den Einzelfall zu verlieren, noch den Blick für die Gruppenproblematik zu trüben.

janw
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Sa 29. Jun 2013, 14:25 - Beitrag #3

Nach meinem Verständnis liegt damit eine Grenze des Anti...ismus darin, ein negativ bewertetes kollektives Gruppenmerkmal zum Wesenskern der Gruppe zu erklären und daraus eine negative Bewertung der Gruppe abzuleiten.

Kritik an der Entität würde damit an der Stelle zum Anti...ismus, wo die einzelnen Kritikpunkte zu solchen negativ bewerteten Gruppenmerkmalen abstrahiert werden:
Der Anti...ismus besteht darin, daß diese Kritikpunkte dadurch, daß sie zu konkreten Ausdrucksformen des Wesenskerns der Gruppe erklärt werden, als quasi "unheilbar" erklärt werden.

Maglor
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Sa 29. Jun 2013, 15:36 - Beitrag #4

Ich finde das fängt bei unnötigen Polemisierungen an.
Ein häufiges Merkmal ist auch der Griff in die Mottenkiste. Das gilt insbesondere dann, wenn heutige US-Politik in einen Kontext mit Sklaverei oder Indianerkriegen gestellt wird.
Die Reinform des Antiamerikanismus hat starke Bezüge zum traditionellen Antisemitismus. Häufig wird dann behauptet irgendein Finanzjudentum würde in Amerika die Fäden ziehen.

Eher ein neues Phänomen ist der unpolitische Antiamerikanismus. Er ist allerdings noch ekelhafter, da er im Grunde nur eine Art rassistische Überheblichkeit ist. Alle Amerikaner seien Kulturbanausen, Kreationisten, Vollidioten, adipöse Ungetüme ...

Ipsissimus
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Sa 29. Jun 2013, 16:28 - Beitrag #5

na ja, um einfach nur ekelhaft zu sein, müssten die darunter subsummierten Phänomene in den USA deutlich seltener nachweisbar sein^^ aber möglicherweise erblicken wir an dieser Stelle bereits ein Beispiel für die Schwierigkeiten, die mit der Begrifflichkeit einhergehen^^ dem einen sein hui ist dem andern sein pfui^^

janw
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Sa 29. Jun 2013, 21:56 - Beitrag #6

Zitat von Maglor:EIn häufiges Merkmal ist auch der Griff in die Mottenkiste. Das gilt insbesondere dann wenn heutige US-Politik in den Kontext mit Sklaverei oder Indianerkriegen gestellt wird.

Vordergründig ist die Herstellung von Bezügen zu Phänomenen der amerikanischen Geschichte des 19.JH von ähnlicher Qualität wie die Herstellung ähnlicher Bezüge zu britischen Phänomenen derselben Zeit - "vom Tellerwäscher zum Millionär", Land der unbegrenzten Möglichkeiten", "Schmelztiegel" usw. vs. "stiff upper lip", "gentleman's understatement", "Londoner Nebel" etc.
Hintergründig ist sie es jedoch nur bedingt: Die englischen Klischees sind Klischees, wenn überhaupt nur für einen kurzen historischen Zeitraum und für einen begrenzten Ausschnitt der Gesellschaft prägend gewesen.
Die der amerikanischen Gesellschaft zugeschriebenen Phänomene aus dem 19.JH waren hingegen gesellschaftlich konstituierend und wirken bis heute fort - die extreme Skepsis gegenüber staatlicher Einflussnahme, die Betonung des Individualismus, das allgemein akzeptierte Recht auf Selbstverteidgung mit Waffen rühren aus der Frontier-Gesellschaft des Mittleren Westens her, in meinen Augen vielleicht auch aus einer gewissen Selektion entsprechender Persönlichkeitstypen bei der Auswanderung aus Europa.

Maglor
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Sa 29. Jun 2013, 22:42 - Beitrag #7

Zitat von Malte279:Wo würde eurer Meinung nach Kritik an den USA aufhören und Antiamerikanismus anfangen?

Bei janw's letztem Post, also genau da fängt Antiamerikanismus an. Die Sache mit der Selektion liest sich geradezu sarrazinös.

Im übrigen macht die beliebte Gleichsetzung der amerikanischen Rechten mit den Konföderierten ungefähr genauso viel Sinn wie der im Ausland beliebte Gleichsetzung von Angie mit Hitler.

janw
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Sa 29. Jun 2013, 23:52 - Beitrag #8

Maglor, mir ging es in dem Beitrag nur darum, herauszuarbeiten, wie die Grenze zwischen Kritik und Anti...ismus in meinen Augen beschaffen ist und wo sie IMHO im Bezug auf usa verortet werden könnte.
Wirklicher Anti...ismus ist es in meinen Augen aber erst, wenn man die entsprechenden Phänomene zum Wesenskern des Betreffenden erklärt, zu etwas, das nur um den Preis zu ändern wäre, daß damit das Betreffende selbst seine Identität verliert.

Und da wird es kniffelig. Das Recht zur bewaffneten Selbstverteidigung ist in der amerikanischen Verfassung verankert, und es rührt aus der Frontiergesellschaft her. Würde mit seiner Aufgabe aber die amerikanische Gesellschaft ihre Identität verlieren? Ich glaube nicht.

Die Sache mit der sozialen Selektion habe ich unter starken Vorbehalt gestellt - ich sehe aus zeitgenössischen Quellen Indizien, daß es eine solche gegeben hat, das können allerdings auch regionale Sonderfälle gewesen sein, die vor der Masse an Auswanderern aus blanker Not (z.B. aus Irland) verschwinden.
Wäre aber zu fragen, ob nicht die Bedingungen der Frontiergesellschaft vielleicht entsprechende Persönlichkeiten gefördert haben.


Andersrum wäre zu fragen, ob diese Focussierung auf ein bestimmtes Phänomen vor einem neutralen Hintergrund zu sehen ist oder nicht vielleicht etwas über die Beobachter-Kultur aussagt.
Gestern sah ich eine Karikatur über die Deutschen als Massengesellschaft:
S.M kommt: "Hoch!"
Revolution: "Nieder!"
Der Führer kommt: "Heil!"
Es gibt Bier: "Prost!"

Padreic
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So 30. Jun 2013, 00:08 - Beitrag #9

@janw:
Die der amerikanischen Gesellschaft zugeschriebenen Phänomene aus dem 19.JH waren hingegen gesellschaftlich konstituierend und wirken bis heute fort - die extreme Skepsis gegenüber staatlicher Einflussnahme, die Betonung des Individualismus, das allgemein akzeptierte Recht auf Selbstverteidgung mit Waffen rühren aus der Frontier-Gesellschaft des Mittleren Westens her, in meinen Augen vielleicht auch aus einer gewissen Selektion entsprechender Persönlichkeitstypen bei der Auswanderung aus Europa.
Die USA sind ein recht heterogenes Land. Beim allgemein akzpetierten Recht auf Selbstverteidigung mit Waffen muss man z.B. deutlich differenzieren. Fasst man es nur im Wortsinne auf, gibt es das auch hier; man muss keinen Waffenschein haben, um sein Leben legal und akzeptiert mit einer Waffe zu verteidigen. Eine allgemeine Zustimmung zu laxem Waffenrecht gibt es natürlich auch in den USA nicht, nur eine recht breite. Die Frontier-Erfahrung ist wohl kaum direkt prägend für die heutige Ostküste.

Anti..ismus kann man sicherlich auf unterschiedliche Weise definieren. Manche mögen sagen, es genügt eine einseitig negative Ansicht darüber zu haben, die jeden neuen negativen Beleg als Bestätigung ansieht, positive Belege auch gern ignoriert. [Ich glaube übrigens nicht, dass 'Kulturbanausen' besonders charakteristisch für Amerikaner ist...]

Malte279
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So 30. Jun 2013, 03:05 - Beitrag #10

Hinzu kommt auch, dass diese Frontiererfahrung zumindest in mancher Hinsicht ein späterer Mythos ist. Der sogenannte "Wilde Westen" war eigentlich überwiegend relativ friedlich und selbst auf den Prozentualen Anteil an der Bevölkerung umgerechnet waren die Aussichten in Tombstone, Deadwood oder einer beliebigen anderen Frontierstadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschossen zu werden deutlich geringer als im heutigen Baltimore, Detroit oder St. Louis. Manch einer der berühmten "Westernhelden" hatte in der Liste seiner Straftaten nicht zuletzt das unerlaubte Waffentragen. In vielen Städten an der Frontier war das Waffentragen nur den Polizeikräften offiziell gestattet.
Erstaunlicherweise ist sogar die heutige Mordrate in Chicago fast drei mal so hoch wie 1928, zu Zeiten Al Capones.

janw
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So 30. Jun 2013, 09:57 - Beitrag #11

Die Frage des Waffenrechts ist interessant, wir sollten sie aber vielleicht gesondert ausdiskutieren.

Padreic, mit der Heterogenität hast Du natürlich recht. Die Frontiergesellschaft hat den Osten sicher weniger geprägt, aber für die usa als Ganzes scheinen mir ihre Muster immer noch wirkmächtig zu sein und manches erklären zu können, was an den usa als Ganzem auffällt.

Für einen Antiamerikanismus ist mir das allerdings zu schwach - man könnte sogar auf weit tieferer Ebene darüber streiten, ob er nicht eher ein Kampfbegriff ist.
Es geht um den Wesenskern, und wer oberflächliche Merkmale zu seinem Wesenskern erklärt, hat in minen Augen schon verloren.

Maglor
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So 30. Jun 2013, 11:12 - Beitrag #12

Zitat von janw:Für einen Antiamerikanismus ist mir das allerdings zu schwach - man könnte sogar auf weit tieferer Ebene darüber streiten, ob er nicht eher ein Kampfbegriff ist.

Mit der Einordnung als Kampfbegriff hast du sicherlich recht. Antiamerikanismus ist genauso ein Kampfbegriff wie Rassismus, Antisemitismus, Populismus usw. In der Regel geht es darum, die Debatte auf der Sachebene zu beenden und zum persönlichen Angriff überzugehen, was mitunter als Metaebene bezeichnet werden kann.

Auf der anderen Seite ist Antiamerikanismus als generalisierte abelehnende Haltung mit fließendem Übergang zum Hass natürlich selbst auf ein rhetorisches Stilmittel, quasi das finale Argument, die Amerikaner waren schon immer so, seit Vietnam, Little Big Horn ...
Der spezielle Fall spielt dann keine Rolle und Argumente hierfür braucht man auch nicht mehr zu tun. Der Antiamerikanist hat sich seine Meinung dazu schon gebildet, bevor er von der Tagespolitik erfahren hat. Voreingenommenheit nennt man so etwas milde ausgedrückt, aber wenn man ihn einen Antiamerikanisten nennt, hat das natürlich mehr Schärfe.

Zur Frontier:
Die Frontier verschob sich in der Geschichte Amerikas immer weiter westwärts. Sehr anschaulich ist das an der das Western-Genre prägenden Lederstrumpf-Reihe. Die erste Teile spiele noch im heutige Bundesstaat New York während, der letzte Teil in der Prärie spielt. Binnen gerade mal zweier Jahrhunderte verschob sich die Frontier von Atlantikküste zum Pazifik. Jetzt bleibt nur noch der lezte große Trek: Space: The final frontier.

Ipsissimus
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So 30. Jun 2013, 11:13 - Beitrag #13

Es geht um den Wesenskern, und wer oberflächliche Merkmale zu seinem Wesenskern erklärt, hat in minen Augen schon verloren.
das empfinde ich als problematisch, weil über einen Wesenskern m.E. - wenn es sowas überhaupt gibt - nur Individuen verfügen. Das Ganze ist aber mehr und anderes als die Summe seiner Teilchen.

Der Rückgriff auf die Frontier-Erfahrung mag ganz interessant sein, scheint mir aber für die heutige Situation nicht wirklich erklärungsmächtig zu sein. Von größerem Belang hingegen wirkt auf mich die kollektive Verdrängung des Genozids an den Ureinwohnern. Mag sein, dass meine Erfahrungen diesbezüglich einseitig sind, aber ich habe bisher noch nie (!) einen Amerikaner kennengelernt, mit dem über dieses Thema hätte unbefangen gesprochen werden können (und ich habe viele kennengelernt, die meisten Wissenschaftler und Ingenieure, ein paar Soldaten). Und einige haben mich explizit gewarnt, dieses Thema in den USA anzuschneiden, falls ich mal rüberkommen sollte, es wäre ein sicheres Mittel, die Stimmung zu verderben. Eine derartige masssive Verdrängung hat mit Sicherheit Auswirkungen, aber die sind natürlich im Detail schwierig greifbar. Immerhin scheint mir damit die Bevorzugung "starker" Lösungen erklärlich. Wenn ich nicht nur echte oder eingebildete Gegner überwinden muss, sondern mich gleichzeitig permanent dazu bringen muss, vorhandene Schuldgefühle ins Nichtexistente umzudeuten, ist Aggressivität unvermeidbar. Desweiteren halte ich den Konflikt zwischen Konförderation bzw. Südstaaten und Yankees bzw. Nordstaaten und den damit angedeuteten Unterschied in der Haltung zur Gleichwertigkeit aller Menschen noch lange nicht für ausgeräumt, auch wenn die Mittel sich geändert haben. Das damit gegebene Schisma spaltet die Gesellschaft und schafft zusätzliche Aggressivität, auch wenn es unter der Decke der Verfassung gehalten wird.

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So 30. Jun 2013, 18:42 - Beitrag #14

@Ipsissimus: Dass ein Gespräch über Genozid Stimmung verderben kann, ist vielleicht nicht gänzlich überraschend. Es ist aber sicherlich an deiner Beobachtung was dran. Es ist ein Land, das für viele seine Bewohner noch immer für gutes Leben und Freiheit steht und auch kein starken Brüche erlebt hat. Dass wir in Deutschland relativ unbefangen über den Nationalsozialismus sprechen können, ist wohl, im internationalen Vergleich, ein kleines Wunder; die Heftigkeit, mit der der zweite Weltkrieg in die deutsche Kontinuität geschlagen hat, war aber sicherlich hilfreich. Dadurch können wir uns viel leichter vom Nationalsozialismus abgrenzen. In der USA verweist man dagegen immer gerne auf die Gründerväter, betont also die historische Kontinuität; man kann also gar nicht sagen: "Unsere USA war das gar nicht mit den USA. Wir waren damals ein ganz anderes Land." -- oder wenn man das tut, hat es etwas leicht schizophrenes.
Es würde aber bestimmt interessant und hilfreich sein, zum Vergleich einmal Bürger anderer Länder auf ihre dunklen Seiten anzusprechen und zu schauen, wie unbefangen sie reagieren. Zur besseren Vergleichbarkeit sollte man hierbei mit Leuten reden, die positiv zur jeweiligen Nation stehen (was in den USA wohl die sehr breite Mehrheit ist). Franzosen auf Algeriermassaker, Türken auf den Armeniervölkermord, Belgier auf belgisch-Kongo, Russen auf Stalinismus und Leninismus, Japaner ihr Wüten in China im zweiten Weltkrieg, Tschechen auf die Vertreibung der Deutschen, ...

Ipsissimus
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So 30. Jun 2013, 21:42 - Beitrag #15

Dass ein Gespräch über Genozid Stimmung verderben kann, ist vielleicht nicht gänzlich überraschend.
Das mag zwar sein, allerdings ist "Stimmung verderben" und "Stimmung verderben" zweierlei. Und was meine amerikanischen Bekannten ausdrücken wollten, war eindeutig, dass ich je nach dem, wo in den USA ich das mache, im seltenen freundlichen Fall rausgeworfen werde und Lokalverbot erhalte und im häufigeren unfreundlichen Fall vorher noch eine in die Fresse bekomme.

Davon abgesehen wird es nicht besser, nur weil andere es auch gemacht haben und es mit der Verdrängung genauso halten. Und es kommt nicht überall mit dieser aggressiven Selbstgefälligkeit daher.

Und nein, das ist kein Antiamerikanismus, weil ich sehr wohl sehe, dass es auch Ausnahmen gibt^^

janw
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Mo 1. Jul 2013, 11:11 - Beitrag #16

Zitat von Ipsissimus:das empfinde ich als problematisch, weil über einen Wesenskern m.E. - wenn es sowas überhaupt gibt - nur Individuen verfügen. Das Summe ist aber mehr und anderes als die Summe seiner Teilchen.

Ich überlege gerade, hat nicht das BVerfG den Begriff des Wesenskerns auch auf die Verfassung angewandt?
Mir ist das Problem schon klar, aber in Ermangelung eines anderen Begriffes erschien er mir brauchbar zur Vermittlung des Gemeinten: das grundlegende Gerüst aus Tatsachen, Faktoren und Selbstzumessungen, das einen Gegenstand so ausmacht, daß der Wegfall einzelner davon das Gerüst gefährdet.

Der Rückgriff auf die Frotier-Erfahrung mag ganz interessant sein, scheint mir aber für die heutige Situation nicht wirklich erklärungsmächtig zu sein. Von größerem Belang hingegen wirkt auf mich die kollektive Verdrängung des Genozids an den Ureinwohnern.

Ein kollektives schlechtes Gewissen als Hintergrund für die Bevorzugung "starker" Lösungen und den Anspruch auf globale Kontrolle? Interessant...
Ich hatte immer den Eindruck, als ob die Anschauung "god's own country" die ultimative Rechtfertigung für die Ausrottung geliefert hat.

Ipsissimus
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Mo 1. Jul 2013, 12:00 - Beitrag #17

Ein kollektives schlechtes Gewissen als Hintergrund für die Bevorzugung "starker" Lösungen und den Anspruch auf globale Kontrolle?
Ein kollektiv verdrängtes schlechtes Gewissen. Wenn das Gewissen schlecht wäre, aber drüber geredet würde, könnten die schlimmsten Neurosen und Soziopathien ja vielleicht vermieden werden. So erleben wir wir dort die Wirkung von behaviorism at its worst.

janw
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Mo 1. Jul 2013, 15:30 - Beitrag #18

"Verdrängtes" hatte ich vergessen, stimmt.
Ich weiß nur nicht, ob es da etwas gab, das zu verdrängen war, für die Siedler war es "god's own country", die damaligen Bewohner vielleicht einfach im Weg bei der sich Untertan-Machung der Erde.
Mir kam heute die Idee, es könnte eher das Ausgewandert-sein sein, die Unsicherheit dieser Entscheidung gegenüber angesichts nicht unbedingt leichterer Lebensumstände in Verbindung mit dem Gefühl, die Fesseln der Grundherrschaft los zu sein und nun alles zu dürfen (bis auf den Sherriff angreifen und Gott lästern).

Ipsissimus
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Mo 1. Jul 2013, 16:27 - Beitrag #19

nenne es eine Art Restnaivität von mir, aber ich bin tendenziell der Ansicht, es ist schwierig bis unmöglich, Genozid zu begehen, ohne dass irgendein Nachfahre der Täter irgendwann zu verstehen beginnt, was so ein Genozid über die Täter wirklich aussagt. Und schon setzt die Verdrängung ein, wenn z.B. keinerlei Absicht besteht, das Unrecht wieder gut zu machen.

Maglor
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Mo 1. Jul 2013, 19:17 - Beitrag #20

Amerika ist ein Einwanderungsland.
Nur wenige US-Amerikaner haben tatsächlich die Cowboys von einst oder gar die Pilgerväter als Vorfahren.
Mittlerweile sind weiße, protestantische Angelsachsen sogar in der Minderheit. Iren und Deutsche sind ihnen an Kopfzahl überlegen.
Die meisten US-Amerikaner stammen gar nicht von Menschen ab, die die Frontier erlebt haben, es sei denn man zieht die Frontier in Mexiko mit. Sie haben gar nichts verdrängt, höchstens ihre Abstammung.

Gerade von den Konföderierten ist nichts geblieben. Den alten Süden mit seine frankophon geneigten Dixies gibt es nicht mehr. Im 19. und 20. Jahrhundert haben sich dort so viele Iren, Deutsche u. a. niedergelassen, dass der eigentümliche Charaktere der Südstaaten - von einem Minimalkonsens in der Folklore abgesehen - weitgehend verloren ging.
Selbst der Ur-Bush war kein Cowboy, ja nicht einmal ein Texaner, sondern ein Bilderbuchnordstaatler.

Da stellt es sich die Frage, welchen Sinn es überhaupt macht diesen Amerikaner die Sklaverei oder Vertreibung und Ausrottung der Ureinwohner vorzuhalten. Das ergibt noch weniger Sinn als eine deutsche Kollektivschuld der gegenwärtigen Deutschen für Holocaust und 2. Weltkrieg.
Die Masseneinwanderung in die USA ist ein Phänomen des ausgehenden 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts. Da war das Thema Indianer quasi schon abgehakt und die Sklaverei auch schon lange Geschichte.

An der Frontier war kaum europäische Einwanderer beteiligt. Die 1. Generation der europäischen Einwanderer verblieb meist an der Ostküste, nicht selten sogar direkt in New York. Die meisten berühmten Revolverhelden sind gebürtige Amerikaner, die eben westwärts gezogen sind. Die echten Cowboys - d. h. Kuhhirten - entstammten häufig einer rassisch diskriminierten Unterschicht aus Indianern, Mexikanern und freien Afroamerikanern.

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