Solidarität in Deutschland

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
Dämmerung
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Di 16. Jul 2013, 13:16 - Beitrag #1

Solidarität in Deutschland

http://www.stern.de/politik/deutschland/studie-zum-zusammenhalt-deutschland-einig-ego-land-2038720.html

Der Zusammenhalt in der deutschen Gesellschaft ist weniger stark ausgeprägt als in vielen anderen Ländern. Lediglich einen Platz im Mittelfeld von 34 untersuchten Gesellschaften belegt Deutschland in einer von der Studie der Bertelsmann-Stiftung durchgeführten Studie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Bevölkerung. Das ist nur Rang 14. Besonders gut schneiden die skandinavischen und angelsächsischen Länder ab.

Lykurg
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Di 16. Jul 2013, 14:00 - Beitrag #2

Ein Freund von mir erforscht in Feldstudien die Methodik und Effizienz von Entwicklungshilfemaßnahmen in verschiedenen afrikanischen Ländern. Er erzählte mir neulich, u.a. bezogen auf Tansania, daß in dörflichen Gemeinschaften, die er dort untersucht hat, der soziale Zusammenhalt extrem gering sei. Gleich ob in der Nachbarschaft ein Verbrechen geschehe, jemand hungere oder sonst in irgendeiner Weise Hilfe benötige, oder auch, wenn es um das Teilen von knappen Ressourcen, etwa gemeinsames Bewirtschaften eines Brunnens gehe, bestehe kaum ein Interesse an gemeinschaftlichem Handeln - zumindest nicht im positiven Sinne. Stattdessen wird nur gemeinschaftlich sanktioniert, wenn jemand z.B. der Hexerei verdächtigt wird - und das kann etwa geschehen, wenn jemand mit den Entwicklungshelfern zusammenarbeitet und infolgedessen erfolgreich ist. Letztlich sei das auch paradox, weil 'schneller Reichtum' ein extrem hoher Wert in dieser Gesellschaft sei, den jeder für sich anstrebe, ihn aber bei anderen beneide und ggf. als Indiz für Hexerei sehe.

Eine wichtige Aufgabe der Entwicklungshilfe wäre letztlich, dort einen allmählichen Bewußtseinswandel herbeizuführen, um effizientere Methoden des Zusammenlebens eben auch im Sinne von Arbeitsteilung und Solidarität herbeizuführen - aber eben schwierig angesichts mangelnder Grundlagen. Bezogen auf die Bertelsmann-Studie, die im Zweifel nicht über den Kreis der Industrieländer hinausgesehen hat, wäre die Frage, inwieweit die beobachteten Unterschiede tatsächlich das Alltagsleben beeinflussen und was etwa durch staatliche Sicherungsmaßnahmen ausgeglichen wird. Mir zeigte das Gespräch jedenfalls, daß der Zusammenhang zwischen privater Solidarität und staatlichen Sozialmaßnahmen geringer ist, als ich zuvor angenommen hatte. Ich hätte auf den ersten Blick eine umgekehrt proportionale Relation naheliegend gefunden, kulturelle Differenzen sind aber offensichtlich ein viel stärkerer Faktor.

Traitor
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Di 16. Jul 2013, 21:00 - Beitrag #3

Natürlich ist ein eindimensionales Ranking völlig ungeeignet, so komplexe Themen darzustellen. Die "Ergebnisse aus neun Bereichen ein: Soziale Netze, Vertrauen in Mitmenschen, Akzeptanz von Diversität, Identifikation, Vertrauen in Institutionen, Gerechtigkeitsempfinden, Solidarität und Hilfsbereitschaft, Anerkennung sozialer Regeln sowie gesellschaftliche Teilhabe" können offensichtlich weitgehend unabhängig voneinander schwanken und die Endplatzierung ist dann eine mehr oder weniger zufällige Folge, zudem stark von der Gewichtung (explizit oder implizit per Skalierung) abhängig und somit subjektiv. Aber auch die Einzelkategorien sind teils schon etwas seltsam, besonders 2.1 und 2.2 (nationale Idenfitikation und Vertrauen in Institutionen) haben für meine Begriffe relativ wenig mit dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand zu tun.

(Nachtrag: wohl nur implizite Gewichtung, sie schreiben "Dafür haben wir einen Gesamt-index Zusammenhalt als Mittelwert aller neun Dimensionswerte berechnet." Macht es aber auch nicht besser.)

Interessanter dürfte sein, tatsächlich die einzelnen "Dimensionen" zu betrachten, und deren Zeitverlauf. Für Deutschland fällt vor allem auf, dass "soziale Netze" und "Gerechtigkeitsempfinden" deutlich gestiegen sein sollen - völlig entgegen des medialen Konsens und wohl auch des persönlichen Eindrucks der meisten. Da müsste man dann aber schon sehr tief in ihre Datengrundlagen herabsteigen, um zu verstehen, wie sie darauf kommen.

(Nachtrag 2: Mist, auf "Lügen mit Statistik" hereingefallen. Die Farbskalen zeigen auch in den Zeitentwicklungsdiagrammen keine Absolutwerte, sondern nur Zugehörigkeit zu Platzierungsgruppen an, siehe den (immerhin ehrlichen und eigentlich auch stark ins Auge fallenden) Infokasten rechts in den Länder"daten"blättern. Also weitgehend aussagelos, man müsste schon an die Rohdaten heran, um wirklich etwas aussagen zu können.)

Maglor
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Di 16. Jul 2013, 21:09 - Beitrag #4

Was hilft denn die Statistik, wenn man nicht mehr Teil der Standardabweichung in asozialen Netzwerken ist?

janw
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Di 16. Jul 2013, 21:51 - Beitrag #5

Eine weitere Aussage ist, daß die Skepsis gegenüber Zuwanderern zugenommen habe und die Wertschätzung gesellschaftlicher Vielfalt abgenommen habe.

Ich kann mir schon vorstellen, daß dem so ist, die Frage ist nur, warum.
Denkbar wäre ein kurzfristiger Effekt im Zuge der Euro-Schulden-Krise, vielleicht auch medial verstärkt - Deutschland ist vergleichsweise erfolgreich, "die anderen" 'haben eben über ihre Verhältnisse gelebt' und deshalb nun den Salat, und manche Äußerungen von Westerwelle klangen so, als seien Schulden eine schlimmere Sünde als jemanden umzubringen. D.h. es herrschte demnach eine Stimmung des "das Eigene zusammenhaltens", "wo es jemandem schlechter geht, da wird es schon Gründe haben".

Denkbar wäre auch ein psychologischer Effekt der demographische Situation einer alternden Gesellschaft - behalten, was man hat, um es dann zu vererben, oder weil die Rentenaussichten nicht allzu üppig sind.

Mir ist allerdings ein relativ "böser" Gedanke gekommen, nachdem eine längerwährende Grundstimmung eine Rolle spielen könnte.
Vielleicht kommt es mir auch nur so vor, aber sind die "solidarischen Phasen" in Deutschland nicht immer Ausdruck kollektiver Gruppenappelle gewesen, und besteht nicht vielleicht eine besondere Affinität zu kollektiven Gruppenansprachen? Ein Hang zur Normierung, Gleichrichtung?

Traitor
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Di 16. Jul 2013, 22:19 - Beitrag #6

Solche Aussagen gibt die Datenpräsentation eben nicht her - wenn Deutschland bei der Diversitätsakzeptanz von der Spitzen- in die Mittelgruppe gefallen ist, kann das auch nur heißen, dass der Wert bei anderen Ländern (stärker) gestiegen ist.

Was für "solidarische Phasen", und was für "kollektive Gruppenapelle"? Meinst du z.B., genug Leute hätten Herzog ernstgenommen, um tatsächlich (oder zumindest "statistisch gefühlt") einen "Ruck" zu bewirken?

Lykurg
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Mi 17. Jul 2013, 08:24 - Beitrag #7

Ich vermute eher, janw bezieht sich auf die gemeinsamen Anstrengungen der Weltkriege (als Gruppenappell z.B. die Sportpalastrede) und vielleicht noch Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. - Ob da nun eine besondere Affinität vorliegt, finde ich schwer zu beurteilen, sowohl was die Totalitarismen andernorts angeht, als auch die Ruckreden eines Pim Fortuyn oder Jörg Haider; im positiven Sinne und wesentlich wirkungsmächtiger Martin Luther King oder Mahatma Gandhi... auch da hat eine gesellschaftliche Solidarisierung aufgrund von Reden bzw. Ideen stattgefunden, nicht sofort, aber auf lange Sicht.

Auffällig finde ich an den Daten der Studie einerseits, wie stark 'Identifikation mit dem Gemeinwesen' unabhängig von den restlichen Daten ist - teilweise gegenläufig, aber nicht immer; andererseits einige Einzelwertungen, die gefühlt gar nicht mit medialem Konsens oder dem, was man meint, von der Stimmung im Land mitbekommen zu haben, übereinstimmt (insbesondere gesellschaftliche Teilhabe, Diversität uvm. in den USA). Allerdings liegt die Datenerhebung sicher schon längere Zeit zurück, eventuell hat dort eine Veränderung stattgefunden, die sich erst in den nächsten Daten niederschlägt.

Ipsissimus
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Do 18. Jul 2013, 11:31 - Beitrag #8

Für mein Empfinden ist "Solidarität" in Deutschland seit je eine "gut Wetter"-Geschichte gewesen, und blieb selbst in diesen Phasen in aktiver Form auf die eigene Referenzgruppe begrenzt - bei "gutem Wetter" wurden Ansprüche anderer Gruppen bloß geduldet, nicht aber gefördert.

Die Wertschätzung von kultureller Vielfalt begrenzt sich in der Praxis auf ein gewisses Faible für - bitte nicht zu drastisch ausgeprägtes - Lokalkolorit. Ich kenne (junge) Eltern, die ihrer Eigenwahrnehmung nach mit allem und jedem solidarisch sind, aber ihre Kinder kommen bitte nicht auf eine Schule mit vielen Migrantenkindern, das "sehen sie doch eher kritisch". Und freiwillig in Gegenden mit vielen Migranten wohnen - nie im Leben.

Traitor
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Do 18. Jul 2013, 20:43 - Beitrag #9

@Lykurg: "solidarische Phasen" also als ganz böser Sarkasmus verstanden? Naja, mal abwarten, was die Primärquelle sagt.

Die Diversität dürfte Hauptquell des guten Abschneidens der angelsächsichen (Immigrations-)Länder sein. Jenachdem, wie die entsprechende Note genau zustandekommt, ist es vermutlich logisch, dass Länder mit mehr Immigration dort auch automatisch besser abschneiden, egal, ob es vor Ort tatsächlich noch Probleme gibt.
In Sachen "gesellschaftliche Teilhabe" in den USA darf man nicht die deren "Charity"-Tradition vergessen, auch die stärkere Religiösität dürfte sich in dieser Rubrik "positiv" auswirken. Eher wundert mich, dass das "Gerechtigkeits"empfinden dort hoch sein soll, die Spaltung in Fraktionen von "die da unten wollen uns alles wegnehmen" und "die da oben geben uns nichts ab" ist dort nach Innen- wie Außenwahrnehmung ja eigentlich besonders stark.
Der letzte Datennahmezeitraum reicht ja angeblich bis 2012, seitdem sind keine so großen Veränderungen mehr zu erwarten. Aber die Quellen dieser Metastudie sind halt auch sehr heterogen, daher ist es ohne ausführliches Studium schwer zu beurteilen, welche Daten genau von wann stammen.

@Ipsissimus: "Aktive Solidarität" liegt dem Menschen halt nicht, daher ist ein Sozialstaat so wichtig.
Das mit den Wohnvierteln ist wohl stärker mit sozialem Status als mit Herkunft korreliert, deutschstämmige Prolls schaden der Attraktivität ähnlich stark.


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