Ein Freund von mir erforscht in Feldstudien die Methodik und Effizienz von Entwicklungshilfemaßnahmen in verschiedenen afrikanischen Ländern. Er erzählte mir neulich, u.a. bezogen auf Tansania, daß in dörflichen Gemeinschaften, die er dort untersucht hat, der soziale Zusammenhalt extrem gering sei. Gleich ob in der Nachbarschaft ein Verbrechen geschehe, jemand hungere oder sonst in irgendeiner Weise Hilfe benötige, oder auch, wenn es um das Teilen von knappen Ressourcen, etwa gemeinsames Bewirtschaften eines Brunnens gehe, bestehe kaum ein Interesse an gemeinschaftlichem Handeln - zumindest nicht im positiven Sinne. Stattdessen wird nur gemeinschaftlich sanktioniert, wenn jemand z.B. der Hexerei verdächtigt wird - und das kann etwa geschehen, wenn jemand mit den Entwicklungshelfern zusammenarbeitet und infolgedessen erfolgreich ist. Letztlich sei das auch paradox, weil 'schneller Reichtum' ein extrem hoher Wert in dieser Gesellschaft sei, den jeder für sich anstrebe, ihn aber bei anderen beneide und ggf. als Indiz für Hexerei sehe.
Eine wichtige Aufgabe der Entwicklungshilfe wäre letztlich, dort einen allmählichen Bewußtseinswandel herbeizuführen, um effizientere Methoden des Zusammenlebens eben auch im Sinne von Arbeitsteilung und Solidarität herbeizuführen - aber eben schwierig angesichts mangelnder Grundlagen. Bezogen auf die Bertelsmann-Studie, die im Zweifel nicht über den Kreis der Industrieländer hinausgesehen hat, wäre die Frage, inwieweit die beobachteten Unterschiede tatsächlich das Alltagsleben beeinflussen und was etwa durch staatliche Sicherungsmaßnahmen ausgeglichen wird. Mir zeigte das Gespräch jedenfalls, daß der Zusammenhang zwischen privater Solidarität und staatlichen Sozialmaßnahmen geringer ist, als ich zuvor angenommen hatte. Ich hätte auf den ersten Blick eine umgekehrt proportionale Relation naheliegend gefunden, kulturelle Differenzen sind aber offensichtlich ein viel stärkerer Faktor.
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