Urteil gegen Manning

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Mi 21. Aug 2013, 22:53 - Beitrag #1

tja, Manning geht für 35 Jahre in den Knast. Länger als ein normaler Kriegsverbrecher. Und diejenigen, die er verpfiffen hat, diejenigen, die Counterstrike mit echten Helikoptern gespielt und echte lebende Menschen gehetzt und getötet haben, bleiben unbehelligt.

Ein Beweis, zumindest ein starkes Indiz, dass die USA ein protofaschistischer bis faschistischer Staat sind? Oder ist das antiamerikanisch, weil grundlos behauptet?

Abgetrennt aus "Antiamerikanismus" - Traitor

009
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Do 22. Aug 2013, 01:29 - Beitrag #2

Zumindest definitiv wieder ein Beleg dafür, dass die USA wohl nur bei sehr entsprechender (interessengeleiteter?) Definition als Rechtsstaat durchgehen.
Udo di Fabio kann ich immer wieder nuir zu gut verstehen.

janw
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Do 22. Aug 2013, 01:43 - Beitrag #3

In den Nachrichten ersten wurde angemerkt, daß er bei guter Führung nach 8 Jahren entlassen werden könnte.

Ich denke, die usa sind einfach ein wenig betriebsblind, vielleicht zu sehr in den internen Diskurs verstrickt, daß sie ganz natürlich die Besten sind, als die Besten zu gelten haben und sie die Maßstäbe in der Welt setzen, daß ihnen entgeht, daß ihr Anspruch, abgesehen von seiner inhaltlichen Fragwürdigkeit, vielen anderen furchtbar auf den Nerv geht und ihre Art, ihren Anspruch durchzusetzen, insbesondere ihre dabei geübte Doppelmoral, diese anderen zur Gegenwehr veranlasst.
Es sind nicht die Fotos, die amerikanische Soldaten gefährden, sondern die tatsächlich verübten Verbrechen sind das beste, was den Extremisten passieren konnte.

Maglor
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Do 22. Aug 2013, 21:11 - Beitrag #4

Hochverrat kam noch nie gut an und wurde höchstens nach Untergang des Regimes im Rahmen einer Damnatio memoriae gutgeheißen.

Ipsissimus
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Do 22. Aug 2013, 21:28 - Beitrag #5

das heißt, Staatsräson geht vor Unrecht, Maglor?

Maglor
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Do 22. Aug 2013, 21:46 - Beitrag #6

Keine Ahnung - die Staatsräson bestimmt doch, was Recht und was Unrecht und da es im Irak keinen richtigen Staat gibt, ist das sowieso rechtsfreier Raum.
Was dort (in den USA oder überhaupt im Ausland) rechtens ist, ist hier Unrecht. Das hat mit Antiamerikanismus rein gar nicht zu tun.
Und am Ende ist auch egal, was recht oder unrecht ist, denn aber entscheidet das Schwert und der Sieger nimmt alles.

janw
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Do 22. Aug 2013, 22:13 - Beitrag #7

Ipsi, nach einem heutigen Urteil aus England geht die Staatsräson vor, die britische Justiz darf die bei dem Partner von Snowdens Mitarbeiter beschlagnahmten Unterlagen in dem Falle durchsehen, wenn sich Anhaltspunkte auf sinngemäß staatsgefährdende Inhalte ergeben.

Systemlogisch ist das IMHO auch nicht ganz unsinnig, da der Staat nach der herrschenden Staatstheorie die rechtssetzende Instanz mit Gewaltmonopol ist, die von daher ein Recht auf Selbstverteidigung hat, siehe auch die damalige Abwicklung der RAF-Prozesse (und des NSU-Prozesses?) vor einem Staatsschutzsenat.

Was ich davon halte...nun, ich schwanke, vielleicht mal ein eigenes Thema.

Der Clou ist in meinen Augen nur, daß Mannings Veröffentlichungen nicht wirklich staatsgefährdend sind, vielmehr hat er Dinge öffentlich gemacht, die, weil sie so sind, staatsgefährdend sind - die Army hat sich mit ihrem Vorgehen die Feinde selbst geschaffen.

Maglor
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Do 22. Aug 2013, 22:55 - Beitrag #8

Im Grunde sind leben wir mittlerweile in einer Welt, in der es - von Nordkorea einmal abgesehen - keine Geheimnisse mehr gibt. Alles wird fotografiert, gesendet, gepostet ... (Da frage ich mich noch, wie man in diesen Zeiten noch an Verschwörungstheorien glauben kann.)
Hätten die Soldaten in früheren Kriegen auch alles mit dem Handy gefilmt, gebe es sicher jede Menge Aufnahmen.
Ich wäre ja auch Handy-Bilder von der Belagerung Leningrads, aber dieser Horror bleibt mir leider verwehrt. :crazy:

Ipsissimus
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Do 22. Aug 2013, 23:26 - Beitrag #9

Hinsichtlich der macht-/realpolitischen Dimension sind wir uns wohl einig, Macht macht, was sie will und gegen andere Macht durchsetzen kann. Wo auch immer diese andere Macht zu suchen ist, bei den Bürgern sicher nicht.

Wenn es aber um eine Bewertung geht, interessiert mich vorrangig nicht die machtpolitische Perspektive, ich frage mich z.B. vielmehr: Was sagen die Handlungsweisen der involvierten Personen über ihre persönliche Ethik, letztlich über ihren Wert als Mensch aus? Was sagen die gerichtlichen Entscheidungen über die moralische Situation des Staates USA aus?

Solche Dinge^^ die angesichts der Realpolitik bedeutungslos sind, aber vielleicht doch helfen, einen klaren Blick auf die Dinge zu bewahren oder zu bekommen.

janw
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Do 22. Aug 2013, 23:58 - Beitrag #10

Zitat von Ipsissmus:Wenn es aber um eine Bewertung geht, interessiert mich vorrangig nicht die machtpolitische Perspektive, ich frage mich z.B. vielmehr: Was sagen die Handlungsweisen der involvierten Personen über ihre persönliche Ethik, letztlich über ihren Wert als Mensch aus? Was sagen die gerichtlichen Entscheidungen über die moralische Situation des Staates USA aus?

Das Ende des Römischen Reiches wird von einigen auch mit Vernachlässigung der eigenen Werte in Verbindung gebracht, mir drängen sich im Bezug auf usa manchmal Parallelen auf.
Mir kommt es dabei so vor, als sei das Problem mit "moralische Verwahrlosung" fast noch zu milde ausgedrückt, es geht für mich in Richtung moralischer Illiteralität.
Die Verfassung ist für diese Richter und Beamten umsonst erdacht und geschrieben worden, analog Einsteins Äußerungen zur Marschmusik.

Ipsissimus
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Fr 23. Aug 2013, 00:21 - Beitrag #11

Das ist auch eine Sache, die mich verwundert: Sind Verfassungen, hier also die amerikanische, tatsächlich so auslegungstolerant verfasst, dass sie derart in den Dreck gezogen werden können? Oder läuft es darauf hinaus, dass alles geht, wenn nur genügend viele relevante Leute bei Verfassungsbruch mit den Schultern zucken?

Padreic
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Fr 23. Aug 2013, 01:07 - Beitrag #12

Es ist ja keinesfalls so, dass Manning nur gezielt Dokumente über amerikanisches (und sonstiges) Fehlverhalten in Umlauf gebracht hat. Das hat er auch gemacht. Daneben hat er aber auch einfach massiv und ungefiltert diplomatische Dokumente veröffentlicht (bzw. an wikileaks weitergegeben).
Ich finde es durchaus in Ordnung, dass diplomatischer Schriftverkehr nicht grundsätzlich öffentlich ist. Und seien aus nur Dossiers über ausländische Politiker, die manchmal wenig schmeichelhaft sein mögen. Hinzu kommen Namen von Informanten und Geheimdienstmitarbeitern, die durch dessen Offenlegung gefährdet werden können (was auch geschehen ist, wenn auch nicht im großen Ausmaße).
Insofern finde ich es korrekt, dass Manning zu Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Die Staatsräson ist wichtig. Meines Erachtens hätte die Strafe auch deutlich niedriger sein können, aber ein Zeichen zu setzen, dass ein solches Verhalten nicht tolerabel ist, halte ich für wichtig. Geheimnisverrat unter Strafe zu stellen, halte ich auch keinesfalls für der amerikanischen Verfassung widersprechend...

Ich möchte darauf hinweisen, dass selbst die gezielte Offenlegung von Fehlverhalten nicht unkritisch ist. In jedem Krieg passieren Kriegsverbrechen; in jedem Krieg passieren auch Versehen. Es kann tatsächlich passieren, dass man eine Kamera für einen Granatwerfer hält. Aber gerade die Offenlegung davon kann zusätzlichen Hass und zusätzliche Gewalt schüren.
Manche sagen auch, dass die weitere Offenlegung der Korruption arabischer Machthaber mit zum sogenannte arabischen Frühling geführt hat. Dass der nicht nur positive Seiten gehabt hat, muss ich wohl nicht betonen....

Wie Orson Scott Card Valentine (sinngemäß) sagen lässt: Ich dachte immer, wenn man nicht Sprache benutzen müsste, sondern direkt einander in die Gedanken schauen könnte, wäre die Welt viel friedlicher. Nun aber sehe ich, wieviel durch Sprache abgemildert wird und wieviel Schrecken es brächte, die Gedanken ungefiltert abzubekommen.

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Fr 23. Aug 2013, 12:13 - Beitrag #13

na ja, da stehen wir definitiv auf verschiedenen Seiten der Linie, Padreic. Wenn Staatsräson Vorrang unabhängig vom Unrechtsstatus zukommt, sind der Willkür Tür und Tor geöffnet, genau das, was wir derzeit erleben.

Natürlich verzichtet in der Praxis kein Staat auf seine Staatsgeheimnisse, aber das heißt noch lange nicht, dass es legitim ist, den Bürgern wesentliche Informationen zur Einschätzung der Politik vorzuenthalten. Und nein, nicht die Offenlegung von begangenen Kriegsverbrechen führt zu Hass, begangene Kriegsverbrechen führen zu Hass. Zu mehr Hass führt dann nur noch der Versuch der Verschleierung und der Deckung der Scheißkerle. Insofern hätte Mannings Aktion auch als Chance für die USA begriffen werden können, bestünde nicht die Absischt, die militärische Willkür immer weiter zu betreiben.

Auch das Offenlegen diplomatischer Akten sehe ich nicht sonderlich kritisch. Diese Herren und Damen wissen doch ohnehin, was sie voneinander zu halten haben und trauen einander soweit, wie sie einander werfen können. Das wurde jetzt ein bisschen gelüftet. Schulterzuck. Man kann schamlosen Menschen nicht damit weh tun, dass man ihnen Schamlosigkeit nachweist.

Valentines Gedanke ist in diesem Kontext natürlich ein starkes Argument, es kommt mir allerdings vor, als könne es durch eine Betrachtung des Gültigkeitsbereiches entschärft werden. Menschen, für die moralische Erwägungen nur Mittel zum Zweck oder gänzlich lachhaft sind, werden in ungefilterten Reaktionen nur ein weiteres Mittel zu ihren Zwecken sehen.

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Fr 23. Aug 2013, 13:09 - Beitrag #14

Ich habe das mal abgetrennt.

Mannings Schuldfrage ist für mich in Analogie zur alten Tyrannenmord-Frage zu sehen. Er hat zweifelsohne etwas nach den gültigen Gesetzen illegales getan. Auch moralisch kann man sehr wohl zum Schluss kommen, dass die Tat an sich falsch war, siehe Padreic. Aber er hat das aus hehren Beweggründen getan und zumindest ein Teil der Folgen ist gut - Offenlegung von weit schlimmeren illegalen Taten der Herrschenden. Dann muss man abwägen, ob mehr Schaden durch die Geheimnisverletzung an sich plus eventuelle negative Folgen (Informantenaufdeckung meinetwegen) entstanden ist oder mehr Nutzen durch die Aufklärung.
Aus Menschenrechts-, Demokratie- und internationaler Sicht ist für mich das Urteil ganz klar, dass er mehr genutzt als geschadet hat und somit in der Sache schuldig gesprochen, aber aus höheren Gründen begnadigt gehört.
Dass die Begnadigungsbefugten, also die Richterin per Strafmaß unterhalb der bereits verbüßten U-Haft oder Obama per Dekret, dem nicht folgen, ist leider mindestens so klar, fehlt ihnen doch die internationale Perspektive komplett und ist ihre Priorisierung von Menschenrechten und Demokratie wohl als eher niedrig einzustufen.

Zitat von Ipssisimus: ich frage mich z.B. vielmehr: Was sagen die Handlungsweisen der involvierten Personen über ihre persönliche Ethik, letztlich über ihren Wert als Mensch aus? Was sagen die gerichtlichen Entscheidungen über die moralische Situation des Staates USA aus?
Dass sie weder die Größe noch auch nur Schlauheit haben, Fehler des eigenen Apparats einzugestehen und eine Chance in der Entschuldigung zu suchen. Und auch nicht die Integrität, Grundrechte nicht nur als Minimalbasis zu sehen, sondern als höheres Gut, sodass deren Verteidigung auch mal als wichtiger gilt als Regelbefolgung.

@Padreic: Umgekehrt fände ich es wichtig, ein Zeichen zu setzen, dass so ein Verhalten tolerabel und wünschenswert ist. Zumindest generell, nicht unbedingt in dieser Ausführung. Mündige Bürger (auch, wenn die Verteidigung es wohl zuletzt so darstellen wollte, als sei Manning eben keiner...) müssen in der Verantwortung stehen, extreme Rechtsbrüche ihrer Vorgesetzten oder des Staates insgesamt aufzudecken. Und Hoffnung haben, damit durchzukommen - zumindest, wenn sie es schaffen, die schädlichen Nebeneffekte dieser Veröffentlichungen zu minimieren. Dafür, letzteres nichtmal versucht zu haben, würde ich Manning bei genauer Kenntnis der Faktenlage vielleicht verurteilen wollen; für den Akt des Geheimnisbruchs an sich auf keinen Fall.

@009: Was meint di Fabio denn so?

Padreic
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Sa 24. Aug 2013, 07:05 - Beitrag #15

Wie hehr die Motive waren, lässt sich für mich schwer beurteilen. Chelsea/Bradley Manning hat wohl zu dieser Zeit verschiedenste Symptome psychischer Instablität gezeigt, darf man Wikipedia trauen. Inwieweit man sein/ihr Verhalten als heroisch, als wohlüberlegten Beschluss zu Wohle der Menschheit betrachten kann, ist für mich eher unklar.

Der Vergleich zum Tyrannenmord ist sicherlich nicht ganz falsch, aber vielleicht ein bisschen hoch gegriffen. Selbstjustiz ist wohl ein anderes Wort dafür. Nehmen wir mal als Beispiel den folgenden Fall an: Person A hat vergewaltigt, gemordet oder was auch immer welches schlimme Verbrechen begangen, wird aber aufgrund der Korruption eines Richters nicht verurteilt. Person B hält Beschwerden bei übergeordneten Stellen etc. nicht für aussichtsreich und erschießt Person A oder schlägt ihn zusammen. Sollte Person B bestraft werden?
Meine Antwort heißt ja. Die mildernden Umstände sollten stark zur Geltung kommen, die Strafe sollte nicht hoch sein, aber bestraft werden sollte Person B.
Manchmal gibt es quasi zwingende Gründe, Gesetze zu brechen, übergesetzliche Notstände wie man sagt - wo man Leute nicht bestrafen würde/sollte. Wenn aber jemand nur recht gute Gründe hat, ein Gesetz zu brechen und man ihm das durchgehen lässt, kann eben der nächste kommen und ebenfalls ein Gesetz brechen, obgleich seine Gründe nicht so gut waren.

@Traitor:
@Padreic: Umgekehrt fände ich es wichtig, ein Zeichen zu setzen, dass so ein Verhalten tolerabel und wünschenswert ist. Zumindest generell, nicht unbedingt in dieser Ausführung. Mündige Bürger (auch, wenn die Verteidigung es wohl zuletzt so darstellen wollte, als sei Manning eben keiner...) müssen in der Verantwortung stehen, extreme Rechtsbrüche ihrer Vorgesetzten oder des Staates insgesamt aufzudecken. Und Hoffnung haben, damit durchzukommen - zumindest, wenn sie es schaffen, die schädlichen Nebeneffekte dieser Veröffentlichungen zu minimieren. Dafür, letzteres nichtmal versucht zu haben, würde ich Manning bei genauer Kenntnis der Faktenlage vielleicht verurteilen wollen; für den Akt des Geheimnisbruchs an sich auf keinen Fall.
Da kann ich dir im Prinzip durchaus zustimmen. Ich habe die Urteilsbegründung nicht gelesen, aber rein hätte auf jeden Fall gehört zu sagen, dass unter bestimmten Umständen, die gezielte Offenlegung eines Geheimnis durchaus ok sein kann; dass aber die Offenlegung in diesem Fall zu ungefiltert und umfassend war. Und dann hätte man meinetwegen eine Strafe von 2 Jahren oder so beschließen können. [die dann schon in Untersuchungshaft abgegolten gewesen wäre.]

Am konkreten Strafverhalt finde ich die (potentiell) 35 Jahre Haft eigentlich weniger beschämend für die US-Justiz als die schlimmen Untersuchungshaftbedingungen. Ersteres entspricht den Gesetzen; letzteres ist auch nach amerikanischen Gesetzen sicherlich illegal oder fragwürdig.

@Ipsi
Und nein, nicht die Offenlegung von begangenen Kriegsverbrechen führt zu Hass, begangene Kriegsverbrechen führen zu Hass. Zu mehr Hass führt dann nur noch der Versuch der Verschleierung und der Deckung der Scheißkerle
Ich denke, dass ist nur teilweise korrekt. Es sind offengelegte Kriegsverbrechen, die zu Hass oder Wut führen. Man kann natürlich nicht den schwarzen Peter dem Offenleger zuschieben. Das heißt aber nicht, dass dieser nicht die Folgen seines Handelns bedenken sollte und auch eine moralische Verantwortung trägt.
Man muss ein Kriegsverbrechen auch nicht unbedingt aktiv verschleiern, damit es keine große Öffentlichkeit kriegt. Dazu genügt es häufig, kein Video davon zu machen, was dann ins Internet gestellt wird. Es macht immer einen Unterschied, ob die Leute im Prinzip wissen, dass da auch Zivilisten getötet werden etc., oder ob sie ein konkretes Video davon sehen; die emotionale Wirkung ist einfach eine andere.
Man kann natürlich sagen: Wenn da Verbrechen waren, ist Wut und Hass natürlich nur richtig. Aber so problematisch die USA häufig auch agieren: Die Situation in Afghanistan und dem Irak wäre sicherlich deutlich besser, wenn alle Leute den USA dort mit Vertrauen und Sympathie begegnen würden. [Genauso wie es wichtig ist, dass die Leute bei allen faktischen Justizfehlern ein prinzipielles Vertrauen in die Justiz als möglichen Rechtsquell behalten; verlieren sie den ganz, können Zustände eintreten, die weitaus schlimmer sind als die begangenen Justizfehler.] Sogar einem echten Diktator Vertrauen und Sympathie zu schenken, mag manches Mal besser zu sein als ihn gewaltsam zu bekämpfen wie man gerade in Syrien sieht. Auch gerechter Zorn kann gefährlich sein; und gerade deshalb kann es die "Wahrheit" auch sein.

Menschen, für die moralische Erwägungen nur Mittel zum Zweck oder gänzlich lachhaft sind, werden in ungefilterten Reaktionen nur ein weiteres Mittel zu ihren Zwecken sehen.
Auch diese können betroffen darüber sein, was Leute eigentlich über sie denken.
Und zum Gültigkeitsbereich: Diejenigen, die für Manning diese Strafe durchgesetzt oder sogar die Todesstrafe gefordert haben, meinst du diesen Leuten sind moralische Erwägungen egal und lachhaft? Manchen vielleicht, was weiß ich, aber viele von ihnen haben sicherlich nur andere Prioritäten in ihrer Moral, den Schutz der amerikanischen Bevölkerung vor Verrätern beispielsweise. Selbst, wenn es gar keine solche Gefährdung gegeben haben mag, der Glaube an eine solche kann als Input in ein derartiges moralisches System eine große Wut auslösen.

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Sa 24. Aug 2013, 11:04 - Beitrag #16

Die tatsächlichen Motive wage ich nicht beurteilen zu wollen. Bei einer derartigen Öffentlichkeitswirksamkeit kann man zumindest das Bewusstsein, etwas für die Aufklärung und gegen den Staat zu tun, aber schon voraussetzen - es sei denn, man wolle gleich auf völlige Unzurechnungsfähigkeit plädieren, was meines Wissens nicht geschah.

Der Tyrannenmordvergleich ist sogar mit Sicherheit zu hoch gegriffen; ich habe ihn nur gewählt, weil er schön anschaulich die Priorität der Folgenabwägung gegenüber der reinen Sachlagenbeurteilung in politischen Straffällen zeigt.
Den Vergleich zur privaten Selbstjustiz halte ich dagegen für ungeeignet. Ja, beides greift das Gewalt- bzw. Machtmonopol des Staates an. Aber wenn es dabei gegen eine Privatperson geht, ist das eben der Fall, für den dieses Monopol deklariert wurde. Richtet sich die Tat gegen den Staat selbst, aus wahrgenommener Fehlerhaftigkeit des Staates, dann ist das genau die Ausnahme des legitimen Widerstands, unter der so etwas eigentlich unerhörtes wie ein Gewaltmonopol überhaupt nur Teil eines demokratischen Gemeinwesens sein kann. Wer aus Staatskritikgründen eine Straftat gegen den Staat begeht, darf also gar nicht allein aufgrund dieser Tatsache beurteilt werden, sondern nur danach, ob er bei seiner Einschätzung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit dieser Tat falsch lag.

Dass am Anfang ein hohes Maximalstrafmaß steht, ist beim verhandelten Tatbestand völlig korrekt. Aber gut, was ein weises und edles Urteil gewesen wäre, da sind wir uns wohl halbwegs einig.
Die Untersuchungshaftbedingungen habe ich gar nicht genau verfolgt, nur an Isolation meine ich mich zu erinnern? Erscheint unverhältnismäßig, ja.

Indirekt zu Ipsissimus: Ich denke auch, dass es den Fall geben kann, dass ein unaufgedecktes Kriegsverbrechen an sich noch keinen Hass erzeugt. Man stelle sich ein Massaker irgendwo in einem entlegensten Dorf oder an einer Partisanenpatrouille vor, bei dem nie jemand herausfindet, was wirklich geschah. Wird dies dann aufgedeckt, bleibt die alleinige Schuld für das Verbrechen und 99% der Schuld für den folgenden Hass trotzdem bei den Verbrechern; ich kann aber durchaus verstehen, dass Padreic dem Aufklärer eine Mitschuld am Folgehass gibt. Für seine "externe Schuld" (gesellschaftlich/juristisch relevant) muss man abwägen zwischen den negativen Folgen (Hass, evtl. Destabilisierung) seiner Veröffentlichung und den positiven Folgen (Entblößung und hoffentlich Bestrafung der Täter, evtl. Verbesserung des Systems), für seine "interne Schuld" (Verantwortung, Gewissen) ebendiese gegen die Alternatischuld, von dem Verbrechen zu wissen und es zu decken. Dass selbst bei negativem Abwägungsergebnis er für mich nur einen sehr kleinen Anteil an der Gesamtschuld behält, liegt daran, dass es kaum vorstellbar ist, dass er der einzig denkbare Aufklärer ist; das Verbrechen könnte auch irgendwann zufällig ans Licht kommen, sodass den Verbrechern direkt der Großteil einer möglichen Schuld des auf eine mögliche Veröffentlichung folgenden Hasses zugeschrieben werden muss.

Ipsissimus
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Sa 24. Aug 2013, 12:14 - Beitrag #17

Ihr kloppt gerade jeglichen ernsthaften Investigativ-Journalismus, sofern er sich gegen Staatsverbrechen richtet, komplett in die Tonne; als mindestes habt ihr keine klaren Abgrenzungen gezogen.

Das verwendete Argument, wenn ich es richtig verstehe, lautet, solange die Täterschaft Geheimnis der Toten und der Mörder bleibt, ist es besser für alle. Damit sind die Taten eines Staates in Abhängigkeit von seiner Geschicklichkeit im Vertuschen sakrosankt gesprochen. Natürlich hätten die Staaten, inklusive der demokratischen, in personae ihrer Regierungen das gerne. Aber das willfährig anzuerkennen, hieße aus meiner Sicht, den Opfern hinterherzurufen Tja, hättet ihr euch mal nicht töten lassen.

Und was habt ihr eigentlich gegen die Mafia? Sobald das Grundaxiom Es bleibt in der Familie erst mal akzeptiert wurde, ist Omerta auch nichts anderes als das, was die Amis wollen.

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Sa 24. Aug 2013, 12:30 - Beitrag #18

Sind die Einschränkungen und Relativierungen in meinem Text wirklich so unzureichend ausgefallen?

Wie gesagt, jeder Geheimnisaufdecker/-verräter, sei er nun Interner oder Investigativjournalist, lädt eine gewisse Schuld auf sich, zum einen die direkte der Gesetzesübertretungen, zum anderen die indirekte eventueller negativer Folgen der Veröffentlichung. Dessen muss er sich vorher bewusst sein und für sich abwägen, ob die erwarteten positiven Folgen (die Aufdeckung von Verbrechen an sich, plus mögliche folgende Verbesserungen) sie für ihn überwiegen.
Hat er dann ein Geheimnis veröffentlicht, stellt sich für Staat, Justiz und Öffentlichkeit die gleiche Abwägungsfrage, mit jeweils unterschiedlichen Gewichtungen. Zudem kommt noch Abschreckung vs. Ermunterung als weiterer Aspekt hinzu.

Wie das Ergebnis in beiden Beispielfällen (Manning im speziellen, Kriegsverbrechenaufdeckung im allgemeinen) für mich auszufallen hat, habe ich doch hoffentlich eindeutig genug geschrieben: die positiven Folgen der Veröffentlichung überwiegen die negativen; die Teilschuld an den negativen Folgen ist sehr gering, da die meisten auch ohne Veröffentlichung oder ohne diese spezielle Veröffentlichung eintreten würden. Also Freispruch oder, so dies juristisch nicht möglich ist, Minimalstrafe/Begnadigung.

Die Mafia kann im Gegensatz zum Staat nicht für sich reklamieren, auf einem Gesellschaftsvertrag zu basieren und Verpflichtungen gegenüber den Bürgern zu haben, bei deren Erfüllung sie auch zu gewissen Übertretungen legitimiert ist. Wenn die Übertretungen des Staates aber im Missverhältnis zu seinen Pflichten stehen, ja, dann ist er auch nicht besser als die Mafia. (Und in machen Regionen mag man sogar sagen können, dass die Mafia eben doch eine solche Rolle spielt...)

Ipsissimus
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Sa 24. Aug 2013, 12:54 - Beitrag #19

Wie gesagt, jeder Geheimnisaufdecker/-verräter, sei er nun Interner oder Investigativjournalist, lädt eine gewisse Schuld auf sich
das ist ein Axiom, das ich bereits nicht unterschreibe. Nicht der Aufdecker und/oder Übermittler der schlechten Nachricht ist schuld an der schlechten Nachricht, sondern deren Verursacher - ausschließlich. Ist zwar auch nur ein Axiom, aber beide Axiome sind machtrelativ. Wenn du mit der "gewissen Schuld" allerdings etwas in der Art wie setzt eine Kausalkette in Gang oder hält sie aufrecht meinst, dann könnte ich mich dem eher anschließen, würde die Aussage dann allerdings streng von jeglicher moralischen Konnotation, die der Schuld-Begriff nunmal impliziert, frei machen.

Die Mafia kann im Gegensatz zum Staat nicht für sich reklamieren, auf einem Gesellschaftsvertrag zu basieren und Verpflichtungen gegenüber den Bürgern zu haben, bei deren Erfüllung sie auch zu gewissen Übertretungen legitimiert ist.
Kritisches Thema. Auch die Legitimation von "Regierung" - sowohl einer konkreten als auch des Konzepts von Herrschaft allgemein - ist machtrelativ, und ein Gesellschaftsvertrag ist dadurch gekennzeichnet, dass ihn niemand unterschrieben hat, sondern dass er verfügt wird. Unter dem Aspekt der Machtrelativität ließe es sich also durchaus argumentieren, dass dort, wo die Mafia regiert, der von ihr durchgesetzte Gesellschaftsvertrag gültig ist. Und dass es dort genausowenig wie hier dafür notwendig ist, dass die Bürger den spezifischen Gesellschaftsvertrag, unter dessen Bedingungen sie leben, tatsächlich wollen, es wird ihnen einfach unterstellt und abverlangt.

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Sa 24. Aug 2013, 15:32 - Beitrag #20

@Ipsi: Natürlich bin ich nicht generell gegen investigativen Journalismus. Im Normalfall bin ich voll und ganz dafür, dass Korruption, Staatsverbrechen, was auch immer aufgedeckt werden.
Meine Einschränkungen waren ersteinmal primär auf eine ohnehin schon aufgeheizte Situation bezogen, in der bestimmte öffentliche Äußerungen einen Bürgerkrieg oder zumindest größere Krawalle anheizen oder entfachen können. Diese Äußerungen können dabei durchaus faktisch der Wahrheit entsprechen und auf gerade aufgedeckten Geheimnissen basieren/diese benutzen.
Um auf den konkreten Fall zurückzukommen: Man muss Manning und Assange zu Gute halten, dass sie durchaus zunächst nicht unkontrolliert alles ungefiltert an die Öffentlichkeit weitergegeben haben, sondern es erstmal nur einigen Printmedien zugespielt haben, von denen man ausgehen konnte, dass sie verantwortungsvoll damit umgehen. Es scheint zunächst nur durch Fehler passiert zu sein, dass einige andere Leute dann an die ganzen Daten gelangt sind, als Reaktion auf dieses sie dann ganz freigegeben wurden. Aber wenn man mit solchen Daten hantiert, gibt es eben auch eine gewisse "Gefährdungshaftung" [so ähnlich wie wenn man mit Nitroglycerin spazieren geht und es ja nur ganz vorsichtig tragen wollte].
Eine weitere Einschränkung besteht darin, einfach Namen von Informanten/Geheimagenten offenzulegen, die durch so etwas gefährdet werden können. Um auf den investigativen Journalismus zurückzukommen: Ist es denn im Sinne von höchst möglicher Transparenz auch wünschenswert, dass deren Informanten stets mit Klarnamen veröffentlicht werden? [Vorsicht, rhetorische Fangfrage]
Zudem muss eben auch investigativer Journalismus stets daran denken, was sinnvoll ist zu veröffentlichen und wie man es präsentiert. Und verantwortungsvoller Journalismus tut das. [Man kann sich hier auch gerne Extremfälle denken wie: Das Fernsehen hätte im Vorhinein von der Landshut-Stürmung erfahren und dies gleich gesendet. So ähnlich wie es es in München 72 gemacht haben...]

P. S. Die Mafia hätte Manning sicherlich keine 35 Jahre gegeben, nichtmal 35 Tage hätte er gehabt...

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