[...] Das Strafrecht lebt – wie jede andere formelle oder informelle Sanktionierung abweichenden Verhaltens – davon, dass es klare gesetzliche Grenzen zieht zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten. [...]
Wenn nun aber die, die das Erlaubte tun, "nach kriminalistischer Erfahrung" stets auch das Unerlaubte tun und deshalb, gerade weil sie Erlaubtes tun, vorsorglich schon einmal mit Ermittlungsverfahren überzogen werden müssen, hat die Grenzziehung jeden praktischen Sinn verloren. [...]
Viertens: Verheerender als die praktische Sinnlosigkeit einer solchen Strafverfolgung ist der Verlust ihrer Legitimität. Es ist, so lautet die Botschaft, weder möglich noch nützlich, noch ausreichend, sein Verhalten an den gesetzlich bestimmten Grenzen zu orientieren. Denn die immer höhere, immer weiter vorverlagerte Bestrafung von Menschen mit sexuell devianten Neigungen führt – gegen alle Ankündigungen der Rechtspolitiker – in Wahrheit nicht dazu, dass jene sich für das Recht (also das Erlaubte) und gegen das Unrecht entscheiden können oder auch nur wollen. Und wenn sie es täten, hülfe es ihnen nichts: Die Bemühung, nur und gerade das zu tun, was noch erlaubt ist, begründet erst recht den Verdacht, dass die wahren Verbrechen jetzt bloß verschleiert werden sollen.
Wenn aber dies das Konzept wäre, nach welchem strafrechtlicher Rechtsgüterschutz zu organisieren ist: dann lebe wohl, Rechtsstaat! Ade, Bürgergesellschaft! Aus den Kulissen träten alsbald, mit gleichem Recht, die Bekämpfer der Korruption, der Gewaltverherrlichung, des Völkermords. Denn kriminalistische Erfahrung zeigt ja auch: Wer als Maschinenfabrikant legale Geschäfte in Tansania oder Venezuela macht, macht allemal auch illegale!
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Mag auch nichts mehr sicher scheinen in Deutschland (diesem Fettauge auf der See der Auszehrung), mag auch niemand mehr wirklich wissen, was Wahrheit und was Lüge ist und wer die Wahrheit überwacht, mag der erwiesene Geheimnisverrat den Minister zum Ehrenmann machen und mag es der schlimmste von allen politischen Skandalen sein, dass er herauskommt – immerhin eines bleibt uns doch gemeinsam: unsere unschuldige Liebe zu den sexuell ausgebeuteten Kindern.
Der Schutz der Kinder, namentlich der unterprivilegierten, der armen, der in Containern hausenden, der bettelnden, stehlenden, der frühreifen, armen Kleinen in Rumänien und Afghanistan, Kolumbien und Tansania, liegt uns am Herzen wie sonst nichts auf der Welt. Mögen sie ihr Dasein fristen auf den Müllhalden unseres Reichtums, so wollen wir doch zumindest ihre Seelen retten und ihre Menschenwürde!
Jugendliche, kindliche Körper, halb bekleidet oder nackt, in sexualisierten Posen! Ekelhaft!
Zur Beruhigung greifen wir zur Vogue, zur Elle und zu Harper’s Bazaar. Da leben unsere magersüchtigen kleinen Prinzessinnen; im Junkielook gestylte minderjährige Luder, rund um die Welt gecastet und mit zwanzig vergessen.
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In Abläufe bei der Polizei haben Staatsanwälte nur eingeschränkt Einblick. 32-jährige Berufsanfänger bei der Staatsanwaltschaft stehen vielköpfigen Kommissariaten und deren "Erfahrung" gegenüber. Die können Anzahl, Zeitpunkt, Größe von Ermittlungsverfahren fast beliebig steuern, wenn sie wollen. Die Pflicht zur "Verfahrensherrschaft" kann da rasch zum Albtraum werden. Das führt gelegentlich zu einer Anpassung der Staatsanwaltschaft an die Polizei. Diese bestimmt heute zu mehr als 90 Prozent nicht nur die Tätigkeit, sondern auch die Ergebnisse staatsanwaltschaftlicher Arbeit.
Die Polizei hat aber – mit guten Gründen – andere Sichtweisen, Verständnisweisen, Aufgaben. Der Rechtsstaat lebt gerade von der Unterscheidung von Polizei und Justiz. Die Bürger in Deutschland wissen dies nicht mehr – wenn sie es denn nach 1945 je verstanden hatten. Und wer es bestreitet, darf sich heute an der Spitze einer herrschenden Meinung fühlen. [...]
Im Allgemeinen Preußischen Landrecht aus dem Jahr 1794 hieß es: "Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit, und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey." Dies war die Sichtweise des aufgeklärten Absolutismus: Dieses Amt der Polizei aber ist unbeschränkt, maßlos, im Kern totalitär. Es sollte daher, so meinte man seit 1848 und dann gewiss im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 sowie in den Reichsjustizgesetzen 1877, beschränkt werden durch das Recht der Bürger, in Ruhe gelassen zu werden, wo und solange sie die Gesetze befolgen, die doch auf ihren eigenen Entscheidungen beruhen.
Heute sind wir, während im Kino Gravity läuft, auf Erden fast wieder angekommen im Zeitalter der Restauration.
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Der deutlich längere Gesamtbeitrag findet sich unter http://www.zeit.de/2014/10/staatsanwalt ... ettansicht