Echtzeitjournalismus

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
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Fr 28. Mär 2014, 15:32 - Beitrag #1

Echtzeitjournalismus

Ein Betriebsunfall? Schirrmachers Besprechung des Interviews von Claus Kleber mit Joe Kaeser

Es nutzt gar nichts, Klebers High Noon inhaltlich zu debattieren. Der Nachrichtenwert ist gleich null, der formale Wert ungleich höher. Denn Kleber, der, da Putin selbst nicht zur Verfügung stand, einer staunenden Welt demonstrieren wollte, wie Joe Kaeser sich unter Druck verhält, ist selbst nur ein Symptom. Die formalen Kriterien dieser fünf Minuten „heute journal“ sind mittlerweile eins zu eins übertragbar auf einen aktuellen Echtzeit-Eskalationsjournalismus, der Lebenssendezeit füllen und Storys erzählen muss.

Das Herz schlägt im Kriegs- und Erregungsmodus

Es stimmt: Nichts in der europäischen Presse und ihren Öffentlichkeiten klingt nach der herzrasenden, fiebrigen, hurra-patriotischen Prosa der Welt von gestern. Es gibt heute keine Journalisten, die, um Karl Kraus zu zitieren, ihre „Feder in Blut tauchen und ihre Schwerter in Tinte“. Stattdessen entsteht eine permanente Echtzeit-Erzählung, in der das Herz gleichsam unablässig im Kriegs- und Erregungsmodus schlägt. Formal ist nicht zu unterscheiden, ob es um Uli Hoeneß, den Konflikt auf der Krim oder den heroischen Verteidigungskampf von Ritter Sport gegen die Sanktionen der Stiftung Warentest geht.

Es sei egal, so hatte Karl Kraus als Erster ein Kennzeichen der Massenmedien definiert, ob man eine Operette oder einen Krieg lanciert. Gemeint war: Die dramaturgischen, auf Kunden oder Klicks zielenden Strukturen von Konflikt, Eskalation, Krise und Katastrophe, mit denen man über die Welt redet, verändern die Welt beim Reden.


http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/d ... 67571.html

janw
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So 30. Mär 2014, 02:40 - Beitrag #2

Eine mehrbödige inszenierung.

Zunächst urteilt hier ein Vertreter eines etwas konservativ-behäbigen und mit den sich ändernden Medienkonsumgewohnheiten kämpfenden Printmediums, der noch dazu in verschiedenen Äußerungen sich kritisch über die Beschleunigung und Digitalisierung der Informationswelt geäußert hat - Vertreter jener Digitalisierung könnten bei Schirrmacher gar empfinden, er wirke getrieben, möglicherweise von selbst empfundener Überforderung.

Mithin "Schirrmacher wieder", "der kann nicht anders", könnte man sagen und seufzend das Blatt wenden.
Schirrmacher urteilt über eines der elektronisches Medien, deren Eigenheit nun gerade ist, schnell sein zu können, und welches immer wieder versucht, die sich ändernde Nachrichtenlage zu berichten.
"Echtzeitjournalismus" nennt Schirrmacher das, mit einer kritischen Stimmung, da hier die Reflexion unterbleibe und vielmehr ein dauernder Erregungszustand aufrecht erhalten werde.
Die Themen würden irrelevant, sie seien nur Mittel zur Erhaltung der dauernden Spannung.

Dies kennt man von Schirrmacher im Großen und Ganzen, man kann dazu nicken und doch sagen, daß sein Kraus ihm nicht hilft, denn der Horizont der Welt ist weiter geworden, mehr Geschehen dringt zu uns durch, und wo würde er kürzen wollen?

Der Anlass für den Artikel ist konkret, ein Interview im ZDF zwischen dem Moderator Claus Cleber und dem Siemens-Chef wegen dessen jüngsten Besuches beim westlicherseits kritisierten russischen Staatspräsidenten.
Zu dem Interview ist einiges zu sagen, doch entzieht die Fundamentalkritik, es sei nur Teil einer Erregungsmaschinerie, dem gleichwie den Boden: es ist nur eine Elektron in der Leitung, so vergessen morgen wie heute aufregend.

Reflexion hätte hier vielleicht geholfen.


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