EU-Parlamentswahlen

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mi 14. Mai 2014, 12:12 - Beitrag #1

EU-Parlamentswahlen

Die stehen ja mal wieder an, und folgerichtig sehe ich am Straßenrand lauter lächelnde Gesichter auf Papier, außerdem ein paar weniger lächelnde und ein paar Texte. Wirkliche EU-Themen scheint kaum einer auf dem Zettel zu haben; zugegebenermaßen sind hier ja auch zugleich Bezirks-, also quasi Kommunalwahlen, und das scheint die Menschen fast noch mehr zu bewegen. Die CDU versucht es mal wieder mit einer Alliteration (Mit Herz für Hamburg; Mit Hirn für Hamburg hätte ich fast noch besser gefunden, aber das ist wohl Geschmackssache und weniger gesichert das, was dann auch drinsteckt. Die Piraten kleiden sich entweder schwarz oder schwarzweiß gestreift. Die Linke nennt Punkt 1 ihres Aktionsplans "Volksentscheide für mehr Demokratie", Punkt 2 wäre dann möglicherweise "Entscheide für mehr Volksdemokratie").

Dabei gäbe es ein Thema, das hierzulande keinem wehtut und sicher breite Mehrheiten fände: ein Ende der Doppelung des Parlamentssitzes Straßburg und Brüssel. Bekanntlich ist das wegen der nötigen Pendelei stressig, zeitaufwendig und extrem teuer, auch der Gebäudeunterhalt. Ganz nebenbei gibts da aber auch interessante Zuverdienstmöglichkeiten:
Zitat von SpOn:Die besten Chancen, am übernächsten Sonntag als Sieger durchs Rennen zu gehen, hat im Augenblick Martin Schulz. Er gilt als ein Mann, der für Europa brennt. "Ein Europa der Menschen, nicht des Geldes", lautet sein Wahlmotto. Ich habe das auch geglaubt, bis ich ihn vor wenigen Tagen in einer Sendung von "Report Mainz" gesehen habe. Es ging in dem Bericht um die Tagegelder in Höhe von 304 Euro, die jeder EU-Parlamentarier in der Regel an Sitzungstagen erhält, um die Übernachtungskosten zu decken.

Die "Report"-Redakteure hatten bei ihren Recherchen herausgefunden, dass dem Parlamentspräsidenten das Tagegeld auch dann zusteht, wenn er sich gar nicht in Brüssel aufhält, was übers Jahr gerechnet einem steuerfreien Zusatzeinkommen von 110.000 Euro entspricht. Als die Reporter Schulz am Rande einer Sitzung dazu befragen wollten, erklärte er brüsk, sie sollten sich besser informieren: "Woher wissen Sie, dass ich es bekomme?" Selten hat man bei einem Politiker so schnell die gute Laune schwinden sehen. Aus seinem Büro hieß es später, dass Schulz das Tagegeld seit dem 18. April nicht mehr beziehe, mit den "Report"-Nachfragen habe das rein gar nichts zu tun.
(Eine ungenaue Formulierung allerdings: steht es ihm auch außerhalb der Sitzungsperiode zu, oder nur, wenn in Straßburg Sitzungen stattfinden? Rechnerisch müßte das ganze Jahr gemeint sein. - Wäre doch eigentlich ein guter Anlaß für Schulz, sich eine Wohnung zu suchen und sich gegens Reisen zu sperren...

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
So 18. Mai 2014, 21:41 - Beitrag #2

So wird es immer weniger verständlich, warum das Europäische Parlament immer wieder als Abstellgleis oder Zwischenlager für gescheiterte Politiker genutzt wurde. Wenn es dort so viel Geld gibt und so viel zu entscheiden, warum wollen dann nicht alle Kader nach Brüssel?

Dass es mittlerweile wirkliche Spitzenkanidaten gibt, ist zumindest ein Zeichen dafür, dass dieses Parlament auch von den Parteien ernst genommen wird.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
So 18. Mai 2014, 23:36 - Beitrag #3

Lykurg, das Tagegeld wird nur an den Sitzungstagen gezahlt.

Die Sonderregelung für Parlamentspräsidenten könnte damit zusammen hängen, daß diese auch eine repräsentative Funktion haben und deshalb zwangsläufig auch an Sitzungstagen unterwegs sein müssen.

Zu der Frage des Parlamentssitzes hat Juncker recht eindeutig geantwortet:
Das ist eine Entscheidung der europäischen Regierungen, und Frankreich wird sich den Sitz in Strasbourg nicht nehmen lassen und Belgien nicht den in Brüssel.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Sa 24. Mai 2014, 12:37 - Beitrag #4

Der Sinn der Spitzenkandidaten erschließt sich mir nur bedingt. Es sind ja nicht Spitzenkandidaten für den Parlamentsvorsitz, sondern für den Kommissionspräsidenten. Der wird zwar nominell vom Parlament gewählt, gilt aber in der Öffentlichkeit (zurecht) eher als Installation der Nationalregierungen. Entsprechend wird ja auch immer wieder berichtet, am Ende könnte es weder Juncker noch Schulz werden, sondern ein ausgekungelter Dritter. Schulz würde ich eigentlich auch lieber weiterhin als Parlamentspräsidenten und damit Gegenpol zur nationalregierungshörigeren Kommission sehen, die Rolle hat er zuletzt zunehmend gut ausgefüllt.

Das EU-Parlament an sich hat auch zuletzt Fortschritte gemacht, zumindest in ein paar Fällen sein Potential als Korrektiv aufblitzen lassen. Mehr Kompetenzen und kompetentere Abgeordnete wären aber nötig. Europaweite Listen fände ich zudem essentiell, um es wirklich als eigenes, supranationales Organ wahrnehmbar und ernstnehmbar zu machen.

Straßburg ist halt so eine föderalistische Idiotie, die nach einmaliger Einführung kaum loszuwerden ist.

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
So 25. Mai 2014, 10:37 - Beitrag #5

Ganz auffällig finde ich in diesem Wahlkampf, wie sehr sich die Wahlplakte gleichen. Parteien sind kaum zu entscheiden. AfD und SPD benutzen die gleiche blaue Farbe. (Wahrscheinlich wollte sich die SPD von dem Orange trennen, dass sich ja die CDU zu eigen gemacht hat.)
Die Parolen sind bei allen Parteien auch gleich bzw. austauschbar : XXX statt YYY.
Besonders pfiffig ist die Parole "... statt Schulden", dabei hat die Europäische Union an sich ja gar keine Schulden. ;)

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 27. Mai 2014, 14:57 - Beitrag #6

Interessant fand ich gestern die Analyse eines Chefanalysten der Frankfurter Börse im DLF, der meinte, es seien soviele Europa-Kritiker ins Parlament gewählt worden, weil die Regierungen bei den notwendigen Reformen - gemeint war im Kontext eindeutig: beim neoliberalen Umbau der Gesellschaft - zu verhalten gewesen seien.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Di 27. Mai 2014, 15:35 - Beitrag #7

Er könnte damit auf mehreren Ebenen recht haben. Hätte die EU entsprechende Reformprozesse massiv vorangetrieben, wäre möglicherweise ein positiver Effekt auf die Wirtschaft davon ausgegangen, als dessen Folge mehr Arbeitsplätze und mehr Lohn für mehr Zufriedenheit gesorgt hätten. Oder diese Reformen hätten einen massiven Widerstand seitens der Bürger ausgelöst, derK wäre dann aber nicht europaskeptischen (rechten) Parteien zugutegekommen, sondern eher den Linken. Jedenfalls dürfte eine massive Auswirkung europäischer Entscheidungsprozesse auf das Wohlergehen der Einzelnen die Zahl derjenigen Wähler europaskeptischer Parteien verringern, die in Brüssel ein abstraktes und teures Gebilde ohne wirkliche Ergebnisse sehen.

Aber da dürfte die Wahrnehmung ohnehin deutlich auseinandergehen. Gut finde ich etwa, daß Cohn-Bendit den Europawahlkampf der SPD und von Martin Schulz hierzulande als nationalistisch kritisiert hat. "Martin Schulz. Aus Deutschland. Für Europa" fand ich schon nicht so toll. Aber ein Plakat mit "Nur wenn Sie Martin Schulz und die SPD wählen, kann ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden." ist daneben.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Mi 28. Mai 2014, 15:26 - Beitrag #8

Ipsi, das ist eben jene Sichtweise, welche die geringe statistikgemäße Arbeitslosigkeit und hohe statistikgemäße Beschäftigung in Deutschland als reale geringe Arbeitslosigkeit und hohe Beschäftigung ansieht und als solche mit Schröders Reformen attribuiert und davon abstrahiert, daß anderswo mit ensprechenden Reformen entsprechende "Real"-Wirkungen zu beobachten wären.

Eine Sichtweise, die nichtmal in einer Seminararbeit durchgehen dürfte.


Davon abgesehen hat im DLF auch jemand dargelegt, daß die Diskussion über die Europa-Kritiker überzogen ist: Es sind nur wenige Staaten, aus denen eine nennenswerte Zahl dieser Gruppe stammt, und insgesamt ergeben sie kaum 100 Abgeordnete.
In den Ländern stelt die Zustimmung zu diesen Parteien eine Reaktion auf nationale Befindlichkeiten und Probleme dar, die mit der EU vielfach nichts zu tun haben.

Die Londoner City würde nach meinem Eindruck deutlich an Bedeutung verlieren, wenn England aus der EU austreten würde - die Folgen für die englische Wirtschaft sind offensichtlich.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Do 29. Mai 2014, 12:58 - Beitrag #9

@Jan: Auch nach Statistikorrekturen sind die hiesigen Verhältnisse noch deutlich besser als in großen Teilen des Kontinents; wieviel von dieser Differenz dann auf spezifische Reformen und wieviel auf längerfristige Rahmenbedingungen zurückzuführen ist, ist dann eine seminararbeitsübersteigende Analyse; die dir ungenehme Position lässt sich ebenso wenig trivial widerlegen wie deine.

"Kaum 100 Abgeordnete" sind immerhin ein Achtel des Parlaments, das ist mehr als halb so viel wie die derzeitige Bundestags-Opposition. Vernachlässigbar sieht anders aus. Der Lichtblick dürfte vor allem darin liegen, dass viele dieser Parteien chaotisch und voller Spinner sind, also wohl wenig konstruktive oder auch nur organisiert destruktive Arbeit vollbringen werden.

@Lykurg: Ist halt nur leider etwas spät für Wahlkampfkritik... Die Schulz-Kampagne halte ich für zynisches "wenn die Wähler die Wahl nicht als europäisch verstehen wollen, dann geben wir ihnen halt die nationalen Slogans, die sie wollen", angesichts der Realitäten auch fast schon gerechtfertig. Ein aktiv europäischer Wahlkampf, der zum Ziel gehabt hätte, diese Stimmung zu ändern, wäre mir aber sicher lieber gewesen.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Do 29. Mai 2014, 21:32 - Beitrag #10

Traitor, wenn man die Beschäftigungsrate in geregelten Beschäftigungsverhältnissen (d.h. unbefristet und tarifentlohnt) vor und nach den Hartz-Reformen vergleicht, sind die Änderungen eher gering. Was zugenommen hat, sind die geringfügigen und die befristeten Beschäftigungen, oft mit Aufstockung durch Hartz IV.
Und diese als als Dauerzustand.
Zudem ist eine Kohorte älterer und stärker von Arbeitslosigkeit betroffener Menschen ins Rentenalter hineingewachsen, was zu einer "demographischen Dividende" geführt hat.

Aber Schröder trägt ja nicht Prada...


Die "kaum 100 Abgeordneten" waren gut gerechnet, einschließlich der AfD, falls diese doch in das Lager wechseln sollte.
Stand gestern abend sind es gerade 5 Parteien mit weniger als nötigen Abgeordneten, so daß die Europa-Kritiker möglicherweise keine Fraktionsstärke erreichen werden.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Do 29. Mai 2014, 23:50 - Beitrag #11

das Problem, das ich mit den Europakritikern habe, besteht darin, dass sie größtenteils aus Parteien stammen, an denen das Europakritische das einzig Positive ist, den Rest der Programme, so vorhanden, kann man vergessen. Sie sind also keine ernsthafen Verbündeten für Leute, die unter und an Europa leiden.

Und es gibt offenbar eine immer größer werden Zahl von Menschen, die auf die Phrasen von den Vorteilen, die ihnen Europa bringt, zunehmend allergisch reagieren.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Fr 30. Mai 2014, 07:54 - Beitrag #12

Ipsi, die Phrasen von den Vorteilen, die eine Renationalisierung bringen würde, empfinde ich auch nicht als allzu beglückend.

Es wird auch sehr viel auf "die EU" geschoben, was letztlich auf das Konto nationaler Regierungen geht - keine Richtlinie ohne Beschluss des Ministerrats.

Ich muss gerade überlegen, was ich mir konkret lieber "zurückgeregelt" wünschen würde. Zurück zur Glühbirne? Gut, mittlerweile sind die Alternativen am Markt so eingeführt, daß eine Freigabe nicht zum alten Zustand führen würde.
Bachelor/Master? Wie wird das heute gesehen, top oder Flop?
Mitbestimmung bei Planungen? Hat deutlich profitiert.

Es gibt natürlich Dinge, bei denen unsere Standards mE besonders hoch sind, und die dürfen IMHO nicht abgesenkt werden: Datenschutz, Individualrechte gegen Sicherheitsinteressen, Lebensmittelsicherheit.

Und es gibt Dinge, die in der EU deutlich schief laufen: Schulden- und Finanzmarktpolitik zu banken- und anlegerfreundlich, Flüchtlingspolitik menschenfeindlich und unsolidarisch, Agrarpolitik zerstört Märkte durch subventionierte Exporte, außerdem Subventionierung von schädlichen Produktionsweisen und Überproduktion.

Aber für vieles davon gibt es eine wichtige Verantwortliche, und die heißt Merkel.

EDIT:
Nicht zu vergessen die uneindeutige Reaktion auf Regierungen wie die von Orban und insbesondere dessen Politik.

Das nur nebenbei.


Im Bezug auf das französische Wahlergebnis ist auf die sehr niedrige Wahlbeteiligung zu verweisen, es sind vor allem die Anhänger der Rechten zur Wahl gegangen. Insgesamt haben sie etwa 4 Mio Stimmen bekommen, nach 6 Mio Stimmen bei früheren Wahlen.
Also alles andere als ein Stimm-Gewinn.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Sa 31. Mai 2014, 12:33 - Beitrag #13

Zitat von janw:Traitor, wenn man die Beschäftigungsrate in geregelten Beschäftigungsverhältnissen (d.h. unbefristet und tarifentlohnt) vor und nach den Hartz-Reformen vergleicht, sind die Änderungen eher gering. Was zugenommen hat, sind die geringfügigen und die befristeten Beschäftigungen, oft mit Aufstockung durch Hartz IV.
Als Argument für die Pro-Reformer braucht es ja keine Verbesserung, sondern nur eine Nicht-Verschlechterung: "ohne Agenda hätten wir jetzt auch Zustände wie in Spanien". Eindeutig zu klären wäre das nur in einem Paralleluniversum...

Ich wusste nicht, dass die Bedingungen für eine EU-Fraktion so grotesk hoch sind - "mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens einem Viertel (d. h. sieben) der Mitgliedstaaten", das halte ich für äußerst fragwürdig.

Das Hauptproblem der "Europakritik", egal ob von links oder rechts, sehe ich darin, dass der Großteil der bemängelten Zustände in einer Zukunft mit schwachen Einzelstaaten viel schlimmer würde. Die vorherrschende Dystopie ist doch derzeit immer noch die des 80er-Cyberpunks: nur noch formell existierende Regierungen und uneingeschränkte Macht der internationalen Regierungen. Wir sind auch sicher auf einem "guten" Weg dahin, aber es gibt eben (noch) Einschränkungen - und wenn man nicht sehr naiv hinsichtlich des Einflusses Einzelner oder des internetorganisierten Kollektivs ist, sind starke Staatenfusionen oder zwischenstaatliche Organisationen die beste Möglichkeit, diese aufrechtzuerhalten.


Zurück zu Politik & Geschichte

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 29 Gäste