Bundespräsident und Kriegseinsätze, Teil 2

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Mi 18. Jun 2014, 13:24 - Beitrag #1

Bundespräsident und Kriegseinsätze, Teil 2

Gauck, der Dschihadist^^ wundervoll^^

http://www.stern.de/politik/deutschland ... 17908.html

Traitor
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So 22. Jun 2014, 11:14 - Beitrag #2

Da hinter der Pointe ja noch eine ernsthafte Debatte lauert, bekommt das Thema seine Eigenständigkeit.

Köhler 2010:
dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren

Gauck 2014:
Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.

(Original beim Deutschlandfunk)

Der Parallelismus der Argumentationsstrukturen ist auffällig - 1. Deutschland hat diese Interessen, 2. diese Interessen sind unantastbar, also 3. muss man für sie Krieg führen.

Der Unterschied in den fraglichen Interessen ist aber natürlich ein gewaltiger, und die "Dschihad"-Interpretation konstruiert eine Äquivalenz, die aufgrund der unterschiedlichen internationalen Akzeptanz und kritisch-theoretischer Untermauerung von Religionsfanatismus einerseits und Menschenrechten andererseits nicht gegeben ist. Löblich ist bei Gauck auch, dass er nur von Eingreifen "im Verbund mit denen, die in der Europäischen Union oder in der NATO mit uns zusammengehen, [...] im größeren Rahmen" - die Satzstruktur sagt für mich eindeutig, dass der "größer"-Komparativ sich auf "EU oder NATO" bezieht, also nur die UNO meinen kann, er sich also implizit gegen Alleingänge von Staaten oder kleineren Bündnissen wendet.
Wenn es sich um eine grundsätzliche Programmrede gehandelt hätte, würde ich ihm vor allem vorwerfen, das Militär nicht als allerletzte Option bezeichnet und keine Alternativen diskutiert zu haben - da es aber nur eine Einzelantwort zu einer spezifisch militärbezogenen Frage war, denke ich, dass die Aussage so, wie sie ist, durchaus vernünftig ist.

Interessant ist aber noch ein Zitat Gaucks zwei Sätze früher:
Es gab früher eine gut begründete Zurückhaltung der Deutschen, international sich entsprechend der Größe oder der wirtschaftlichen Bedeutung Deutschlands einzulassen.

Da ist er wirklich nur sehr knapp an einem Köhler-Fauxpas vorbeigeschrammt, zum Glück für ihn würde er einen Rechtsstreit wegen Verleumdung gegen folgende Zitierweise aber vermutlich gewinnen: ;)
Es gab früher eine gut begründete Zurückhaltung der Deutschen, international sich entsprechend der Größe oder der wirtschaftlichen Bedeutung Deutschlands einzulassen. [...] Aber heute [...] ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.

Ipsissimus
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So 22. Jun 2014, 13:46 - Beitrag #3

wie wäre es mit folgender Parallelführung?

Früher mussten den Wilden die Segnungen der Zivilisation beigebracht werden. Also sind wir hingegangen, haben Krieg gegen sie geführt, viele getötet, ihre Länder verwüstet und ihre Gesellschaften instabil gemacht.

Heute müssen die Frauen der Islamisten gegen ihre Männer und die Muslims gegen die Islamisten verteidigt werden werden. Also gehen wir hin, führen Krieg gegen sie, töten viele, verwüsten ihre Länder und machen ihre Gesellschaften instabil.

damals wie heute eine Frage unserer moralischen Erhabenheit, beinahe ein kategorischer Imperativ

janw
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So 22. Jun 2014, 16:36 - Beitrag #4

In meinen Augen geht in der Diskussion - bzw. war es ja eigentlich ein kurzer Meinungsaustausch, der sehr schnell von der Tagesordnung verdrängt wurde - einiges durcheinander.
Wesentlich sind da IMHO:
- Bisherige Position der BRD fix und unhinterfragbar, oder Gegenstand regelmäßiger Standortsbestimmung und Neujustierung?
- Anlass für die Äußerung angebracht, oder Ressortverletzung?
- - Räumliche und Motivische Festlegungen/Begrenzungen für Interventionen?

Bisher war für die BRD eine Politik der militärischen Zurückhaltung maßgebend, anstelle von Streitkräften stellte das Land in Konfliktfällen der Nato Infrastrukturen und Informationswege zur Verfügung.
Der AWACS-Einsatz im Jugoslawienkrieg stellt hierzu IMHO einen Grenzfall hin zur Grenzüberschreitung dar, weil Soldaten in Aufklärungsflugzeugen nur durch die Luft von anderen Aufklärungstruppen unterschieden sind, vom Einsatzort abgesehen.

Diese bisherige Position zum militärischen Verhalten in der Außenpolitik ist teilweise im GG fixiert (Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges), der weitere Umgang mit militärischen Konflikten ist der ständigen oder episodischen Selbstvergewisserung unterworfen.


Gaucks Äußerung steht im Zusammenhang mit einem Besuch in Norwegen, bei dem ihm entsprechende Wünsche der dortigen Regierung entgegen gebracht wurden, Deutschland solle "sein Verhältnis zur Welt normalisieren", "seiner Bedeutung gemäß" handeln.
In meinen Augen kann man sagen, daß Deutschland und die Welt recht gut gefahren sind mit der bisherigen deutschen Normalität, die Diplomatie sollte in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden.
Natürlich muss gesehen werden, daß manche Äußere Diplomatie als Schwäche begreifen und sich diplomatisch nicht von Aggressionen abhalten lassen, auch entsprechende Ängste einiger unserer Nachbarn sind zu berücksichtigen (Polen->Russland).

Gauck hat nun mit seiner Äußerung den ersten Teil relativiert, als bisherig und zu überdenken bis revidieren dargestellt, anstatt selbstbewusst zu diesem bisherigen Verhältnis und der damit verbundenen Leistung zu stehen.
Damit ist er notwendig in den Zwang geraten, zu erklären, was zukünftig der Bedeutung angemessenes Handeln sein solle.
Hier hätte er auch auf vieles verweisen können, was Deutschland international leistet und geleistet hat, vom Bestehen auf Menschenrechtsstandards bei Kontakten zu Diktatoren - wie wirksam auch immer -, der technischen Hilfe in Flüchtlingslagern und in der Katastrophenhilfe z.B., und er hätte die Diskussion darauf lenken können, den jeweiligen Möglichkeiten gemäß zu handeln. Deutschland hätte die Mittel, weitere Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, wie sieht der Beitrag des reichen Norwegen hier aus?
Das wäre in meinen Augen eine angebrachte Reaktion gewesen, auch um nicht das gegenwärtige Wirken der deutschen Außenpolitik gegenüber Russland in Zweifel zu ziehen - Soldaten statt Diplomaten in die Ukraine?

Der Grund scheint zu sein, daß Gauck das Thema schon länger umtreibt, wie seine Äußerung bei der Sicherheitskonferenz zeigt, und so schüttet er, statt das Bisherige wertzuschätzen und vielleicht ein gedankliches Eingehen auf sich ändernde Rahmenbedingungen anzuregen, gleich das Kind mit dem Bade aus: Nicht allein sollen Bündnispartner in Gefahr geschützt werden, sondern international sollen Despoten mit militärischer Gewalt beseitigt werden und Deutschland daran mitwirken.
Lehrer zu stellen, reiche nicht aus.

Dabei geht doch gerade das Taliban-Problem darauf zurück, daß es in den Flüchtlingskagern in Pakistan eben keine Lehrer gab, daß die Islamisten hier mit ihren madrasas geradezu eine Bedarfslücke schließen konnten, was sie dann auf ihre Art getan haben.

Mit dem Verzicht auf jede räumliche und motivische Differenzierung hat er jedenfalls einer ernsthaften Betrachtung den Boden entzogen.

Ipsissimus
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Mo 23. Jun 2014, 12:09 - Beitrag #5

zumindest steht das
Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.

in direktem Widerspruch zum Grundgesetz, oder kann man woanders für Menschenrechte kämpfen, indem man sich zuhause verteidigt? Natürlich hat die GroKo die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Grundgesetzänderung.


Dabei geht doch gerade das Taliban-Problem darauf zurück, daß es in den Flüchtlingskagern in Pakistan eben keine Lehrer gab, daß die Islamisten hier mit ihren madrasas geradezu eine Bedarfslücke schließen konnten, was sie dann auf ihre Art getan haben.


Das ist sicher nicht falsch, aber doch wohl nur ein Teilaspekt. Das Problem geht auf die Durand-Linie zurück, durch die 1893 die Pakhtunkhwa, das paschtunische Siedlungsgebiet, in zwei getrennte Teile geteilt wurden, wobei aus dem kleineren Teil später Afganistan wurde und der größere Teil Pakistan zufiel. Diese Trennung hat außer den britischen Kolonisatoren so eigentlich nie jemand gewollt; die Instabilität der Region geht im wesentlichen darauf zurück. Die Paschtunen haben die Existenz Afghanistans von Anfang (1919) an kritisch gesehen; Afghanistan heißt zwar übersetzt Land der Paschtunen, aber die Paschtunen verbanden damit seit je ihr altes einheitliches Siedlungsgebiet. Wahrscheinlich wäre auch Pakistan ohne die paschtunischen Gebiete besser dran, und Südafghanistan wäre ein eigener Staat unter anderem Namen, vielleicht unter den alten Bezeichnungen Chorasan oder Kabulistan.

Das wäre wahrscheinlich selbst heute noch die vernünftigste Lösung. Aber mittlerweile müssen wir ja auch für die Rechte muslimischer Frauen kämpfen, solange uns kein besserer Kriegsgrund einfällt. Und natürlich ist die Situation längst weit über die ursprünglichen Inhalte hinweg eskaliert. Die Paschtunen leben ihrem Selbstverständnis zufolge jedenfalls immer noch in Pakhtunkhwa.

Das Verhältnis Taliban - Paschtunen müsste auch mal dringend erörtert werden.


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