Gold und Volksabstimmungen

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Lykurg
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Di 25. Nov 2014, 16:18 - Beitrag #1

Gold und Volksabstimmungen

Hier in der Matrix sind bereits bei früherer Gelegenheit Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Legitimität des Schweizer Wahlsystems aufgekommen. Ein aktueller Artikel der Zeit zeigt, daß der von uns entdeckte Sachverhalt nun auch in den (gehobenen) Massenmedien bekannter wird. Wie es aussieht, haben mehrere Schweizer Initiativen Gesetzesvorschläge eingereicht, deren Komplexität die Bürger und möglicherweise auch die Artikelschreiber überfordert, jedenfalls geht es irgendwie um eine verbindliche Golddeckung des Franken, und die Folgen könnten... interessant sein. Leider hat bislang niemand den folgerichtigen Schluß aus unseren Beobachtungen gezogen und sich einen Abstimmungszettel beschafft, aus dem das zu erwartende Ergebnis mit einiger Gewißheit abzulesen wäre.

Deutlich wird aber zugleich auch, wie das beschriebene Manko ausgeglichen werden kann: Wenn die Initiativen nicht ähnlichlautende Begriffe haben und es schaffen, den Ihrigen im Voraus bekannt zu machen, haben sie eine reelle Chance, den Sieg der Mitte zu verhindern. Kein Wunder, daß Randparteien (zumeist Rechtspopulisten, vermutlich ist die Anordnung auf dem Zettel also horizontal) ihr Möglichstes tun, zu polarisieren und so die Kreuzchen bei sich heimisch werden zu lassen. Was mag dabei herauskommen? Ein goldenes Zeitalter vermutlich nicht.

Maglor
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Di 25. Nov 2014, 21:51 - Beitrag #2

Es ist eine schlimme Geschichte. In den schweizer Wahlkämpfen stehen die Sachfragen bzw. Parolen im Vordergrund und nicht die Gesichter oder die Klubzugehörigkeit.
Die wirklich wichtigen Fragen sollte der Kaiser mit jeweiligen Kapitalisten im Herrenklub bei Kaffee oder Whiskey klären. :crazy: Das war doch schon immer so. Für das Volk macht man dann ein bisschen Theater rot gegen schwarz, jung gegen alt, hell gegen doof - ganz egal. Warum sollte es wirkliche Demokratie geben?

Ipsissimus
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Mi 26. Nov 2014, 10:35 - Beitrag #3

"direktdemokratischer Totalitarismus" - interessanter Begriff, der auf eine interessante Auffassung von Demokratie schließen lässt. Wenn des Volkes Stimme im Einklang mit erwünschten politischen Vorstellungen steht, ist es Basisdemokratie, wenn sie im Einklang mit unerwünschten politischen Vorstellungen geht, ist es Totalitarismus. Feine Sache, Deutungshoheit.

Zumindest müsste es mal diskutiert werden. Wie demokratisch ist es, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung von 67 Prozent für die Todesstrafe ist, deren Einführung mit politischen, statisitischen und sonstigen Tricks zu verhindern? Das Beispiel lässt sich beinahe beliebig variieren, auf dass Befürworter aller politischen Lager und Richtungen das Jaulen bekommen. Wir wissen, dass es keine überpositiven Herleitungen von Moral im allgemeinen und politischer Moral im Besonderen gibt, sondern sich derartige Verfügungen lediglich auf Konventionen, also Übereinkünfte stützten können. Aber die sind nicht in alle Ewigkeit festgeschrieben, jede Generation macht gerne ihre eigenen Fehler, selbst wenn es die alten sind.

Für mich deutet das in dem Artikel Beschriebene weniger auf einen grundlegenden Mangel der Basisdemokratie hin als auf ein grundlegendes Versagen etablierter politischer Krägte, die - sicher nicht nur in der Schweiz - am Willen der Bevölkerung vorbei regieren, Verfassung hin oder her. Wobei allerdings weit darüber hinausgehend zu fragen wäre, ob Demokratie überhaupt ein geeignetes Mittel zur Staatsführung ist, wenn sie es in so vielen Jahrhunderten, die es sie in der Schweiz schon gibt, nicht geschafft hat, in den Bürgern grundlegend demokratische und humanistische Gesinnungen zu verankern. Auch diese Frage stellt sich bei weitem nicht nur für die Schweiz. Im Moment könnte man in vielen Ländern den Eindruck gewinnen, dass Demokratie nur ein Mittel ist, mit dem geschickte Mehrheitenbeschaffer den Rest der Bevölkerung wie die Sau durchs Dorf vor sich her treiben. Ob das je anders war, sei dahingestellt.

Maglor
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Mi 26. Nov 2014, 21:47 - Beitrag #4

Sehr gut passt dazu ein aus dem Zusammenhang gebrachtes Zitat von Bertholt Brecht.
Zitat von Brecht:Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?


Zurück zum Thema:
Welche Volksabstimmungen sind gefährlicher, jene deren Gegenstand das Volk verstanden hat oder jene die es nicht verstanden hat? :crazy:

Ipsissimus
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Do 27. Nov 2014, 10:31 - Beitrag #5

im Sinne eines geordneten Kannibalismus zweifellos beide^^

Lykurg
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Do 27. Nov 2014, 12:12 - Beitrag #6

So gesehen ist es ja auch nicht nachzuvollziehen, warum Humanitarismus nicht wenigstens auch ein winziges Bißchen Menschenfresserei beinhalten sollte.

Allerdings, Maglor, sollte eine gewisse begriffliche Trennschärfe schon beibehalten werden - das mit dem Kaiser und den Klubs sind die Österreicher.

Und ja, die Frage, inwieweit man den Menschen vor sich selbst schützen kann oder gar muß, ist selbstverständlich eine heikle.
Ich würde allerdings ein gewisses Maß davon als unabdingbar einschätzen, ich fürchte, direkte Abstimmungen etwa über Zuwanderungsfragen würden geliebte Illusionen zerstören.

Ipsissimus
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Do 27. Nov 2014, 16:30 - Beitrag #7

Und ja, die Frage, inwieweit man den Menschen vor sich selbst schützen kann oder gar muß, ist selbstverständlich eine heikle.


das ist eine heikle Frage als ganzes, aber auch en detail: wer ist den dieser "man", der befugt ist zu entscheiden, was geschützt werden muss?

Padreic
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Fr 28. Nov 2014, 17:36 - Beitrag #8

@Ipsissimus:
wer ist den dieser "man", der befugt ist zu entscheiden, was geschützt werden muss?

Da es "keine überpositiven Herleitungen von Moral im allgemeinen und politischer Moral im Besonderen" gibt, kann Befugnisse nicht absolut sehen. Man mag in einem spezifischen legalen oder sozialem System zu etwas befugt sein - absolut gesehen gibt es wohl nichts, wozu man nicht befugt ist, wenn man es machen kann. Wenn überhaupt, gibt die Qualität des Resultats die Befugnis zum Handeln.

Eine echte Demokratie kann es höchstens in einem kleinen geschlossenen Kreis realisiert werden, wo man einander kennt. Natürlich ist es ein Wert, dass jemand über sich selbst bestimmen kann. Aber das Volk (wenn es denn nicht nur aus einem kleinen geschlossenen Kreis besteht) ist ein Abstraktum, kein Jemand. Meine persönliche Selbstbestimmung über die Gesetze ist in einer Demokratie, welcher Art oder Reinheit auch immer, genauso wenig gegeben wie beispielsweiser in einer Monarchie.
Hauptpunkt meiner Meinung nach ist nicht, wovon die Regierungsgewalt ausgeht, sondern wohin sie zielt. Sie soll auf das Wohl des Volkes oder vielmehr möglichst jedes Bürgers zielen. Da es zumindest im Interesse eines Teils der Bürger ist, gehört zu werden, sollte man zumindest die Illusion vorgaukeln, auf die Stimme des Volkes zu achten; im Interesse der Wahrhaftigkeit oder auch dessen, dass eine Regierung zum Wohl des Volkes schwierig ist, ohne mit ihm in Kommunikation zu treten, sollte man das im geeigneten Rahmen auch tatsächlich tun.

Nebenbei bemerkt: Der Begriff der "totalitären (direkten) Demokratie" sollte nicht sehr seltsam anmuten. Von den Anfängen des klassischen Demokratieverständnisses im alten Griechenland wurde die gelungene Demokratie von deren Entartung, der Ochlokratie abgegrenzt. In der Ochlokratie versucht die Mehrheit ihre Interessen ohne Sicht auf das Gemeinwohl durchzusetzen; möglicherweise durch Demagogen "aufgehetzt". Die bloße Macht der Mehrheit war nie das Ideal der Demokratie. Nicht umsonst sieht man Menschenrechte und dergleichen als Teil einer demokratischen Grundordnung, selbst wenn die Mehrheit sie außer Kraft setzen wollte.

Auch abgesehen von einer möglichen Entrechtung von Minderheiten durch die Regierung der Mehrheit: Die breite Mehrheit der Menschen sehe ich als keinesfalls qualifiziert an, über mich zu regieren. Die Inkompetenz von Politikern ist sprichwörtlich --- vergleicht man sie aber mit der Inkompetenz des Volkes in komplizierten Sachfragen ist sie milde, besonders da Politiker einen ganz anderen Zugang zu Experten haben. Es gibt sicherlich Gebiete, wo direkten Demokratie sinnvoll sein kann; Gebiete, zu denen die Leute einen alltäglichen Bezug, einen alltäglichen Erfahrungsschatz haben. In Deutschland gibt es da beispielsweise wohl eine Tradition im Bereich der Schulpolitik. Auch generelle Richtungsentscheidungen als Teil einer Art "Richtlinienkompetenz des Volkes" kann ich ihm zugestehen. Aber der aktuelle Entscheid zur Golddeckung erfüllt keines der beiden Kritieren: Erstens hat wohl fast keiner der Bürger Erfahrung mit der Golddeckung einer Währung oder auch nur mit größeren Goldankäufen. Zweitens kann man beispielsweise eine Drosselung von Inflation oder eine erhöhte Krisenvorsorge noch als Richtungsentscheidung auffassen, eine konkrete Maßnahme wie eine Golddeckung mit einem festgelegten Prozentsatz allerdings nicht.

Für mich deutet das in dem Artikel Beschriebene weniger auf einen grundlegenden Mangel der Basisdemokratie hin als auf ein grundlegendes Versagen etablierter politischer Krägte, die - sicher nicht nur in der Schweiz - am Willen der Bevölkerung vorbei regieren, Verfassung hin oder her.

Ich kenne die schweizer Verfassung nicht. Gibt es da einen Passus, dass dem Willen der Bevölkerung entsprechend regiert werden muss? Aus dem deutschen Grundgesetz kann ich mich jedenfalls an nichts dergleichen erinnern.

Ipsissimus
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Di 2. Dez 2014, 12:03 - Beitrag #9

absolut gesehen gibt es wohl nichts, wozu man nicht befugt ist, wenn man es machen kann


d´accord - die moralischen wie die juristischen Dinge sind machtrelativ

Dein zweiter Absatz erläutert in nahezu vollendeter Weise den Satz "Verfassungen sind wunderbar, aber man kann mit ihnen keinen Staat regieren"^^ Das einzige, was dagegen zu sagen ist: Mit diese Art von Pragmatismus lässt sich im Prinzip alles rechtfertigen, was Macht oder Mächtige ohnehin zu tun entschlossen sind. Ist eine gute Darstellung der Realität, und wenn es ein offengelegtes Prinzip wäre, ließe sich dagegen nichts sagen, weil sich dann alle dagegen wehren könnten, ohne mit dem ganzen moralischen Scheiß belastet zu sein, den die Medien über allen auskippen, die sich ernsthaft wehren. Aber es ist kein offengelegtes Prinzip, alle und jeder tun so, als sei es anders, überall werde anderslautende Bekenntnisse abverlangt und gegeben. Diese Heimlichkeit ist Mittel zum Zweck, natürlich, das macht sie aber nicht weniger widerlich.


... wurde die gelungene Demokratie von deren Entartung, der Ochlokratie abgegrenzt.


wobei es ein Treppenwitz der Geschichte ist, dass das, was Plato unter Ochlokratie verstand, haargenau mit dem identisch ist, was wir uns heute als Demokratie hoch anrechnen, und sein Verständnis von Demokratie dem entspricht, was uns als Oligarchie gilt, wenn man zulässt, dass Oligarchen nicht gebürtige Adlige sein müssen.


Die bloße Macht der Mehrheit war nie das Ideal der Demokratie.

Es darf bezweifelt werden, dass es das Ideal der Demokratie je gab. Ich spreche von dem Bild, das vermittelt wird, dieses Ideal der Gerechtigkeit, ein Kopf, eine Stimme. Dass diese Stimmen bedeutungslos sind aufgrund der Machtagglomerationen von einander nur in der Theorie ausschließenden Parteien, die sich im Kern ihres Anliegens, dem Machterhalt, aber so einig sind, dass sie selbst dann miteinander können, wenn sie sachlich gar nicht miteinander können dürften - das wird nirgends mediiert. Oder nur an Plätzen, zu denen brave Bürger nicht schauen.


abgesehen von einer möglichen Entrechtung von Minderheiten durch die Regierung der Mehrheit

also abgesehen von der Situation bei uns

Die breite Mehrheit der Menschen sehe ich als keinesfalls qualifiziert an, über mich zu regieren.

Der Witz ist: niemand ist qualifiziert, über jemand anderen zu regieren. Es wird sich einfach angemaßt.


Gibt es da einen Passus, dass dem Willen der Bevölkerung entsprechend regiert werden muss? Aus dem deutschen Grundgesetz kann ich mich jedenfalls an nichts dergleichen erinnern.

Wie war das noch mal mit Artikel 20, Absatz 2? Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.

Aber du hast natürlich recht^^ listigerweise folgt in Absatz 2 noch der Passus Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Angesichts der Art und Weise, wie dies mittlerweile dazu verwendet wird, kann ich diesen Satz nur als knallhartes Kalkül auffassen.

Auch das wäre okay, wenn es explizit öffentlich gemacht und nicht hinter einem Schleier von Illusionen vernebelt würde.

Traitor
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Di 2. Dez 2014, 14:00 - Beitrag #10

Später vielleicht mehr zu den Grundlagendiskussionen. Vielleicht aber auch nicht, da wir die ja an sich schon hatten und meine Zeit gerade reichlich knapp ist, pardon.

Deshalb erstmal nur noch eine konkrete Verwunderungsanmerkung zur Schweiz: meines Erachtens sollte bei Volksabstimmungen strikt vorgeschrieben sein, dass jede einzelne Abstimmung nur eine sehr genau definierte Frage behandelt. In Hamburg beispielsweise gab es ja die bekannten Probleme mit der genauen Definition. Aber in der Schweiz scheint nichtmal "eine Stimme, eine Frage" zu gelten: Die abgelehnte "Ecopop"-Initiative, über die vor allem als "Zuwanderungsbegrenzung" berichtet wurde, war aber eine obskure Mischung aus diesem Aspekt und Entwicklungshilfe-Finanzierung von Geburtenkontrolle. Der zweiten Idee dürfte sachlich eine große Mehrheit zustimmen, in diesem Paket wirkt sie aber ziemlich bösartig. Und selbst wenn das nicht so wäre, könnte man zwei so disparate Vorschläge doch nicht sinnvoll gemeinsam abhandeln.

Den Totalitarismus interpretiere ich übrigens genau wie Padreic, als Versagen des Minderheitenschutzes.


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