Langfristige Betrachtung der Arbeitslosigkeit

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Mo 5. Jan 2015, 10:59 - Beitrag #1

Langfristige Betrachtung der Arbeitslosigkeit

Aus Hooligans gegen Dummheit
Zitat von Ipsissimus:und ich glaube, dass beides nicht zu trennen ist, das Fremdenfeindliche und die sozialen Abstiegssorgen.

Zitat von Traitor: Gab es zur Zeit der großen Welle fremdenfeindlicher Gewalt in den frühen 90ern eine vergleichbare Sozialdebatte? (Ehrliche Frage eines damals noch zu Jungen.)



Die Sozialdebatte gab es damals deswegen noch nicht, weil die Sozialsysteme funktionierten bzw. die Beanspruchung von Sozialleistungen nicht notwendig mit sozialem Abstieg verbunden war wie heute.

Lykurg
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Mo 5. Jan 2015, 11:30 - Beitrag #2

Hättest du das damals auch so gesagt? :s45:

Ipsissimus
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Mo 5. Jan 2015, 12:12 - Beitrag #3

Ich verstehe die Frage respektive das Schock-Smiley nicht. Was ist so furchtbar an der Aussage?

Sozialbezug war noch niemals ein Zuckerschlecken, das wollte ich mit meiner Aussage auch nicht behauptet haben. Aber damals fehlte doch die systematische Entwürdigung, das systematische Klein-machen der Bedürftigen, die Unterwerfung unter rigide Verhaltensvorschriften

Lykurg
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Mo 5. Jan 2015, 13:25 - Beitrag #4

Mich schockierte^^ die Feststellung, deines Erachtens hätten die Sozialsysteme zu einem Zeitpunkt innerhalb unser beider Lebzeiten funktioniert. Nicht wirklich furchtbar, nur erstaunlich.

Und nein, auf Sozialbetrug wollte ich nicht hinaus, meines Erachtens ein massiv überschätztes Problem, und insbesondere die 'Furcht' davor vergiftet das Klima in diversen englischsprachigen Ländern in hohem Maße, da will ich nicht hin und sehe daher sehr kritisch auf die entsprechenden Kampagnen in hiesiger Presse. Steuerbetrug wäre viel dringender und regelmäßiger anzuprangern.

Traitor
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Mo 5. Jan 2015, 13:56 - Beitrag #5

Lykurg, ich habe mich zwar erst genau so verlesen wie du, aber Ipsi schreibt trotzdem von Bezug, nicht Betrug. ;)
(Daher dann auch Doppel-OT-Antwort: Sozialbetrug ist mir bisher nicht als primär englischsprachiges Thema aufgefallen, ist doch auch hier seit Hartz4 und schon länger ein Dauerbrenner. Qualitativ anders geführt wird drüben und ganz weit drüben meinem begrenzten Einblick nach eher die Frage, ob selbst vollstens gesetzeskonformer Sozialbezug überhaupt gerechtfertigt sei - "Leistung muss sich lohnen" hat hierzulande zwar durchaus auch die Gesetzgebung beeinflusst, ist als ehrlich vorgebrachte Überzeugung aber weniger weit akzeptiert.)

Einfach-OT an Ipsissimus, ähnliche Verwunderung wie Lykurg ausdrückend: statt "funktionierend" hätte ich für den 90er-Stand der Sozialsysteme eher "noch nicht zusammengebrochen" gewählt - und offen gelassen, ob bereits ein Zusammenbruch einsetzte. Die Agenda-Reformen waren ja nicht von purer Boshaftigkeit motiviert, sondern von einem partei- und schichtenübergreifenden Gefühl des "so kann es nicht weiter gehen", sowohl auf die puren Arbeitslosenzahlen als auch auf die langfristige Finanzierbarkeit bezogen. Ob es eigentlich Studien gibt, die das damalige System bei gleichen äußeren Einflüssen auf heute fortschreiben?
Was "sozialen Abstieg" angeht, bin ich mir nicht sicher, ob wir den gleich verstehen - die konkrete Verfahrensweise der Bürokratie hat damit meines Erachtens erst mal wenig zu tun, solange das Umfeld nicht viel von ihr mitbekommt. Kontrollen und Repressalien sehe ich als primär psychisch schädliche Komponenten. (Was aber natürlich indirekte soziale Effekte keineswegs ausschließt.) Entscheidender für die soziale Seite dürften die langfristigen Perspektiven auf kompetenz- und statusgerechte Wiederbeschäftigung sein; und die waren/sind wohl in viel zu vielen Fällen in altem wie neuem System gleichermaßen inakzeptabel schlecht.

Ipsissimus
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Mo 5. Jan 2015, 14:22 - Beitrag #6

yep, Bezug, nicht Betrug^^ mit Betrug würde die Aussage wirklich keinen Sinn ergeben^^

Ja, okay, wenn "funktionieren" als zu euphemistisch gelten muss, dann tut es auch "noch nicht zusammengebrochen". Jedenfalls ist mir nicht erinnerlich, dass in den 80er und frühen 90er Jahren bereits eine derart massive Tendenz hin zu Billiglöhnen, Teilzeitverträgen, Werksverträgen, massiver Erpressbarkeit der Arbeitnehmer u.dgl. abzusehen gewesen wäre. Natürlich konnten die Zeichen der Zeit schon damals gesehen werden, wenn jemand sehen wollte. Aber der Erdrutsch war eben noch nicht erfolgt. Die Schengener Verträge dürften dafür der entscheidende Impakt gewesen sein, die HartzIV-Gesetzgebung nur eine flickschusternde Reaktion. Man wollte die Arbeitsmärkte unter Druck setzen; es ist gelungen.

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Mo 5. Jan 2015, 22:31 - Beitrag #7

@Ipsissimus: Die "unkonventionellen Arbeitsverhältnisse", die die Grenzen zwischen Abgesichertheit und Hilfsbedürftigkeit verwischen, sind sicher die wesentliche Neuerung, ja. Ob ihre Ausbreitung gewünschtes Ziel der Reformen oder nur Nebenwirkung der stümperhaften Umsetzung ist, darüber werden wir uns wohl nie einig, ist hier aber wohl auch nur dafür relevant, wie viel Schuld "den Politikern" individuell und wie viel "dem System" an sich gegeben wird - und selbst diese Schuldaufteilungsfrage sollte eigentlich ja nichts damit zu tun haben, die Gesamtschuld auf Einwanderer abzuschieben. Bleibt also die Frage: reines Sündenbocksuchen oder echter Irrglaube?

Schengen als Hauptproblem halte ich auch für zu kurz gedacht, da geht es doch nur um die zwischenstaatliche Verteilung eines staatenübergreifenden Problems. Die wesentlichen Arbeitslosigkeitstreiber in der entwickelten Welt sind Automatisierung und Prozessoptimierung, denen nicht hinreichend durch Arbeitszeitverkürzung, Bildungssteuerung und staatliche Förderung "nichtproduktiver", aber gesamtgesellschaftlich nützlicher Tätigkeitsfelder (Forschung, Kultur, soziale Dienstleistungen) entgegengewirkt wird.

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Di 6. Jan 2015, 14:13 - Beitrag #8

Die wesentlichen Arbeitslosigkeitstreiber in der entwickelten Welt sind Automatisierung und Prozessoptimierung

Einverstanden, wenn Globalisierung unter Prozessoptimierung fällt^^

Nein, wir werden uns da wohl nicht einigen, aber solltest du gelegentlich mal Einblick in die Vorgehensweisen der Arbeitsvermittlung à la HartzIV/ARGE bekommen, erinnere dich an mich^^ diese ganzen billigen, beinahe nach Belieben hin und her schiebbaren Arbeitssklaven und der Druck, den sie durch ihre bloße Existenz auf den Arbeitsmarkt ausüben, sind einfach zu nützlich, als dass pure Stümperei dahinter stecken könnte.

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Di 6. Jan 2015, 23:08 - Beitrag #9

@Globalisierung: Jein. Viele ihrer Aspekte fallen darunter. Manche sind aber auch unabhängig davon (kulturelle z.B.) oder gar gegenläufig (Schaffung neuer Arbeits- und Wirtschaftszweige in Infra- und Metastruktur; Ermöglichung zukunftsfähiger Ressourcen- und Energieverteilungsmodelle); dafür wirkt sich die real stattfindene Variante des abstrakten Konzepts "Globalisierung" aber auch auf nicht-prozessoptimierenden Wegen direkt negativ auf die Arbeitsmärkte aus (insbesondere Gegeneinanderausspielen nationaler Regierungen und Arbeitnehmer, was aber kein reines Problem von zu viel wirtschaftlicher Globalisierung, sondern auch eines von zu wenig politischer Globalisierung ist).

Ein wenig indirekten Einblick in die "Arbeits"agentur-Vorgehensweisen habe ich durchaus, sowohl medial als auch aus dem Umfeld. Allerdings sehe ich dabei immer wieder, dass die schlimmsten Exzesse nicht aufgrund, sondern explizit entgegen den gesetzlichen Regelungen stattfinden. Gäbe es ausreichende Möglichkeiten, die bestehenden Regeln zeitnah und ohne zusätzliches finanzielles Risiko einzufordern, wäre alles schon nur noch halb so schlimm.
Mir ist zwar auch bewusst, dass bei einer Rate von 90% "Einzelfällen" natürlich System dahinter stecken muss, es nicht nur persönliche Böswilligkeit der Sachbearbeiter sein kann, sondern auch von ganz oben gewünscht sein muss (oder zumindest mittelweit oben, die regionalen Unterschiede in der Asozialität sind auch bemerkenswert). Einen belastbaren Rückschluss auf die ursprüngliche Intention allerdings lässt das auch weiterhin nicht zu. Als realistische Beurteilung erscheint mir "gut gemeint, schlecht umgesetzt, das Schlechte dann billigend angenommen".

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Mi 7. Jan 2015, 11:05 - Beitrag #10

Schaffung neuer Arbeits- und Wirtschaftszweige in Infra- und Metastruktur; Ermöglichung zukunftsfähiger Ressourcen- und Energieverteilungsmodelle

Kannst du mir für die neuen Arbeits- und Wirtschaftszweige in Infra und Metastruktur ein paar griffige Beispiele geben? Irgendwie scheint das völlig an mir vorbei gegangen zu sein^^ aber Modelle sind immer gut, und wenn sie dann noch zukunftsfähig sind, ist erst recht alles gut. Selbst wenn sie nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben^^

was aber kein reines Problem von zu viel wirtschaftlicher Globalisierung, sondern auch eines von zu wenig politischer Globalisierung ist

Eingedenk dessen, welche Folgen die wirtschaftliche Globalisierung hatte, frage ich mich, woher der Optimismus bezüglich der politischen Globalisierung herrührt.


"gut gemeint, schlecht umgesetzt, das Schlechte dann billigend angenommen"

Das kann schon sein, macht aber für die Lebenspraxis der Opfer keinen Unterschied. Und es ist derart nützlich, dass ich das globale spontane Versagen aller Modellbauer bezweifele^^ da es keine größere Evolution gegeben hat, müssen intelligente Designer im Spiel sein^^

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So 11. Jan 2015, 22:20 - Beitrag #11

Ich hatte schon mehrfach erwähnt, diese Diskussion aus den "Hooligans" auszulagern, nach Maglors "Ich weiß nicht, was das ganze noch mit Fremdenfeindlichkeit zu tun haben soll." war es jetzt mal an der Zeit. Dann können wir auch bedenkenlos in die Breite und Tiefe gehen.

Neue Arbeits- und Wirtschaftszweige: Schiffsbau, Tee- und Gewürzhandel, Sklaverei, Fliegerei, Ressourcen- und Energieinfrastruktur, Tourismus, supranationales Organisationswesen, Interkontinentalraketenbau, Entwicklungshilfe, Internet. ;)
"Modelle" in diesem Fall nicht im Wortsinne von "Modellierung", sondern im Sinne von "Struktur/System", also von realer Umsetzung. Die "Energiewende" wäre international, am besten interkontinental, koordiniert viel besser umzusetzen.
Eingedenk dessen, welche Folgen die wirtschaftliche Globalisierung hatte, frage ich mich, woher der Optimismus bezüglich der politischen Globalisierung herrührt.
Daher, dass bei den Folgen der WG aus meiner Sicht die positiven durchaus noch die negativen überwiegen, und ich die Mehrzahl der negativen auf zu wenig PG zurückführe, zudem die wenigen bisher erreichten Fortschritte an PG als fast durchweg positiv ansehe.

"gut gemeint, schlecht umgesetzt, das Schlechte dann billigend angenommen" - Das kann schon sein, macht aber für die Lebenspraxis der Opfer keinen Unterschied.
Sicher nicht, und jeder Politiker, der nach einer Regelung an der Macht war (egal, ob bleibend oder kommend), ist auch für diese mitverantwortlich, wenn er sie nicht korrigiert.

Und es ist derart nützlich, dass ich das globale spontane Versagen aller Modellbauer bezweifele^^ da es keine größere Evolution gegeben hat, müssen intelligente Designer im Spiel sein^^
Dafür sind die Entwicklungen in verschiedenen Ländern zu verschieden und zu erratisch. Sicher gibt es koordinierte internationale Lobbygruppen, aber deren Einfluss scheint nicht durchgängig durchzuschlagen - möge das auch nur an Inkompetenz der "Befehlsempfänger" liegen. Vor allem aber bleiben die Sachgründe für Arbeitslosigkeit bestehen, egal, wie man an ihrer Verwaltung herumbastelt, und egal, wer für die Gemeinheiten dabei verantwortlich ist.


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