Neue (links-rechte) Regierung in Griechenland

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Traitor
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Di 3. Feb 2015, 22:54 - Beitrag #1

Neue (links-rechte) Regierung in Griechenland

Mittlerweile herrschen in Griechenland ja seit einer guten Woche syrische Verhältnisse - äh, zum Glück doch nicht, nur die Syriza. Die Welt, das Abendland oder der Euro sind bisher noch nicht untergegangen, die schlimmsten Panikmachen haben sich also schonmal nicht bewahrheitet.

An sich finde ich das Experiment ja auch durchaus spannend, alles nochmal neu zu verhandeln. Sehr skeptisch machte mich allerdings die Koalition mit der AnEl - völlig inkompatible Wirtschafts-, Sozial- und Kulturvorstellungen, geeint nur in Euro-Opposition, das scheint totale innenpolitische Stagnation und auswärtig reinen Krawall zu versprechen. Tatsächlich klang der hierzulande gerne als "Fehlstart" betitelte Sofortmaßnahmenkatalog dann aber doch überraschend konsequent links - weniger Privatisierung, Wiedereinstellungen, mehr Mindestlohn... Man darf wohl gespannt sein, ob das vorab so ausgekungelt wurde, dass Syriza zu Anfang bei ihrer Klientel gut aussehen darf, aber später dann Zugeständnisse machen muss.
Und natürlich darauf, wie der Rest Europas nun ernsthaft damit umgeht - zumindest über ein kindisches "mit euch reden wir gar nicht" scheint man ja bereits hinaus zu sein.

Äußerst bemerkenswert war ja auch das Tempo der Regierungsbildung: so schnell hätte man in Belgien ja nicht mal angefangen, darüber nachzudenken, einen Ausschuss einzuberufen, der sich erste Gedanken macht, ob man vielleicht irgendwann überlegen will, ob...

Lykurg
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Mi 4. Feb 2015, 10:36 - Beitrag #2

Ich war auch überrascht von den beiden von dir angesprochenen Punkten (vielleicht auch allen dreien: daß das Abendland nicht untergegangen ist) - tatsächlich war die erste europäische Reaktion extrem pragmatisch. Verhandlungen und Einführungsgespräche mit den prospektierten Nachfolgern, noch bevor die Wahl gelaufen war, zeigten wohl tatsächlich, daß die EU abseits aller Drohkulissenrhetorik händeringend nach Lösungen sucht. Die syrizche Position ist da zwangsläufig nicht ganz so kooperativ bzw. eben auf ihre eigenen Ziele gerichtet, aber auch da anscheinend professioneller als zunächst befürchtet. Für Bilanzen ist es natürlich noch viel zu früh, aber immerhin wird überhaupt verhandelt; sie hätten sich stattdessen zB auch noch deutlich stärker an Rußland wenden können (wie Orban es gerade in Ansätzen vorzumachen scheint).

Und natürlich gibt es im Ausland, aber auch in Deutschland eine Vielzahl von Stimmen, die den Sparkurs zu hart bzw. Sparen grundsätzlich und immer falsch finden. Was zumindest an ersterem dran ist, wird sich zeigen (bzw. die Kritiker meinen nicht ganz zu Unrecht: zeigt sich jetzt schon) - aber ganz ohne Druck geht es auch nicht. - Worauf ich tatsächlich sehr hoffen würde, wäre, daß Syriza die griechische politische Kaste einmal richtig durchfegt und mit der Korruption aufräumt. Schließlich ist die griechische Schuldenkrise in erheblichen Teilen ein strukturelles Steuervermeidungs- und Bilanzfälschungsproblem. Ersteres dürfte Radikallinken ein Dorn im Auge sein, und mit letzterem kennen sie sich zumindest aus.

Ipsissimus
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Mi 4. Feb 2015, 10:52 - Beitrag #3

und mit letzterem kennen sie sich zumindest aus.


und da dachte ich immer, Bilanzfälschungen seien ein beliebtes white collar crime^^

Was Griechenland derzeit wohl zu beweisen sich anschickt, ist der - von einigen belanglosen Denkern schon länger vermutete - Umstand, dass ein harter Sparkurs nicht Folge einer Naturgesetzlichkeit ist, die jede andere Vorgehensweise per se unmöglich machen würde. Und da operationale Illusionen nur solange operational bleiben, wie sie nicht offen hinterfragt werden, war klar, dass vorher der Untergang des Abendlandes durch schwarze Magie angedroht würde, hinterher allerdings ebenso selbstverstndlich Plan B greifen würde, denn dass das Abendland nicht untergehen würde, jedenfalls nicht deswegen, war außer einigen Journalisten, die noch glauben, was sie manipulieren, ohnehin allen beteiligten Akteuren klar.

Was beim Sparen immer wieder verkannt wird - selbst in Zeiten, in denen es angeblich mal Sinn gemacht hat - ist der Umstand, dass Geld kein Wert ist, sondern ein Konvertierungsmittel zwischen Werten. Es gehört zu den teuflischeren Erfolgen der Illusions- aka Finanzwirtschaft, dass sie aus dem Konvertierungsmittel einen eigentständigen Wert, aka Ware, geschaffen hat, um den sich jetzt die ganze Welt zu drehen scheint. Politiker sind im allgemeinen dumm genug, auf solche Spielchen herein zu fallen, vor allem, wenn es mit schlechter Presse und reduzierten Bestechungsgeldern - pardon geringeren Nebeneinkünften bedroht ist, wenn sie infolge besserer Einsicht darüber stehen.

Ich wünsche den Griechen jeden Erfolg und den europäischen Politikern lange Nasen.

Lykurg
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Mi 4. Feb 2015, 12:36 - Beitrag #4

Ich wünsche den Griechen jeden Erfolg und den europäischen Politikern lange Nasen.
Vielleicht sollte ich doch in die Politik gehen? Dürfte die Durchschnittsnasenlänge deutlich erhöhen. ;)

Aber ja, die Bilanzfälschungen, mit denen Griechenland derzeit zu kämpfen hat, sind ein Relikt konservativer Regierungen, und wurden wohl auch seitens der EU mehr als fahrlässig übersehen. Oder anders gesagt, man hat vermutlich damit gerechnet, daß da nicht alles mit rechten Dingen zugeht, aber sich dieses Ausmaß an Sumpf nicht vorstellen können. - Ähnlich ging es Westdeutschland nach 1990: Man hatte zwar immer gewußt, daß die Zahlen der DDR-Wirtschaftsstatistiken massiv gefälscht waren, aber wohl niemand hätte daraus geschlossen, daß es tatsächlich so schlimm um die Betriebe stand wie sich dann nach der Wende herausstellte.

Ein lesenwertes Zeit-Interview mit Finanzminister Varoufakis...

Maglor
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Mi 4. Feb 2015, 23:07 - Beitrag #5

Eine Renaissance Demokratie ist immer eine gefährliche Sache. Im Kern geht es darum, wer die Kompetenzkompetenz in Griechenland hat: Die demokratisch gewählte Regierung oder die undurchsichtige Troika? Wer entscheidet über Griechenland: Die Griechen oder die Gläubiger bzw. das Ausland?

Die neue griechische Regierung scheint sich (soweit jetzt erkennbar) nicht mit solchen merkelistischen Positionen abzugegeben, dass alles unvermeidbar und alternativlos ist.

Man sollte unbedingt beachten, dass Syriza ohne Krawatte auftritt. Politiker ohne Krawatte sind gefährlich, weil sie nicht nur die englische Herrenmode, sondern auch das kapitalistische System ablehnen. In den letzten 100 Jahren gab nur wenige Polikter solchen Schlages, z. B. Ahmadineschad, Stalin, Mao.

Traitor
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So 19. Jul 2015, 11:54 - Beitrag #6

Zur finanziellen, wirtschaftlichen und humanitären Situation in Griechenland und den Europa-Beziehungen wird ja von allen Medien so viel geschrieben, dass man es kaum noch kommentieren möchte. Daher hier lieber noch mal ein naiver, mäßig informierter Versuch eines Blicks auf die Innenpolitik.
Für mich sieht es nach dem Referendum und Varoufakis-Abgang so aus, als würden Anel und der linke Syriza-Flügel das übliche politische Spektrum zum Kreis schließen und sich als antieuropäische Antipoden zum Rest der Parteienlandschaft zusammenschließen müssen, um noch eine Bedeutung zu haben, während Tsipras den pragmatischen Flügel in die Mitte und zurück zur Politik der Vorgängerregierungen führt. Ambitionen und Krawallstrategien waren gestern, nun wieder Arbeit nach Plan, nur mit einem halben Jahr Verzug bei allen wichtigen Projekten und mit den daraus folgenden Nachteilen für alle Beteiligten und die Bürger...

Ipsissimus
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Mo 20. Jul 2015, 10:48 - Beitrag #7

Hat eigentlich jemand von euch verstanden, was da los war?

Bis zum Referendum glaubte ich ja noch zu verstehen, was Tsipras will und vorhat. Und dann gewinnt er das Referendum und ich denke, fein, jetzt hat endlich mal jemand dieser scheiß Finanzoligarchie gezeigt, was eine Harke ist, und was macht er? Genau das, wogegen er angetreten ist, wogegen er gekämpft hatte, genau das, was im Referendum nochmals abgelehnt wurde.

Eigentlich müsste man ihn wegen Hochverrat vorführen.

Maglor
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Mo 20. Jul 2015, 18:47 - Beitrag #8

Vielleicht wollte er auch nur die Demokratie vorführen und beweisen, dass alles wirklich nur alternativlos ist, egal ob auf Island oder Puerto Rico. ;)

Traitor
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Sa 25. Jul 2015, 12:03 - Beitrag #9

Zitat von Ipsissimus:Hat eigentlich jemand von euch verstanden, was da los war?
Nein - genau diese Verwunderung war der Grund für meinen Beitrag. Da sind wir uns ausnahmsweise mal ziemlich einig.

Worauf die ganze Geschichte für mich am ehesten hindeutet, ist, dass es in der ganzen "Krisenpolitik" schon seit längerem gar nicht mehr um Inhalte geht. Nicht um das Beste für die Bevölkerung, das mag ja längst bekannt sein. Aber anscheinend auch nichtmal mehr um das Beste nach irgendwelchen finanziellen Gesichtspunkten. Sondern einfach nur noch um Machtspielchen zwischen den Beteiligten, um den eigenen Ruf und das "jetzt habe ich es ihnen aber gezeigt"?

Lykurg
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Mo 27. Jul 2015, 09:09 - Beitrag #10

Persönliche Befindlichkeiten scheinen ganz oben zu stehen, ja - udn das Bedürfnis, die eigene Partei, vielleicht auch das Volk, einigermaßen zusammenzuhalten - was vom Ansatz her nachvollziehbar, in den gewählten Mitteln aber mehr als fragwürdig ist.


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