Nach den Ereignissen von gestern abend frage ich mich wieder einmal, was eigentlich gerade los ist. In meinen Augen befinden wir uns in einer Massenhysterie, die sich selbst am Leben hält und immer weiter verstärkt. Angst vermindert das Denkvermögen, dementsprechend werden in der Politik sowohl innerhalb der etablierten Parteien als auch jenseits davon unterkomplexe Antworten bevorzugt, wodurch erst aus der empfundenen Terrorgefahr eine echte wird.
Aber was ist passiert? Ein 18jähriger Deutsch-Iraner, der nach eigenen Angaben (das Video auf dem Parkhausdeck) hier geboren ist, in der Schule gemobbt wurde und in psychiatrischer Behandlung war, hat mit einer Pistole um sich geschossen und zehn Menschen getötet, zuletzt sich selbst (außerdem gab es ca. 15 Verletzte). Die Motive sind noch unklar; an einer Stelle las ich, er hätte tags zuvor an einem wenige Minuten entfernten Münchner Gymnasium ein miserables Zeugnis bekommen. Was auch immer dahintersteckt und selbst wenn es doch einen islamistischen Hintergrund geben sollte, auch wenn ich eher vom persönlich/schulisch motivierten Amoklauf ausgehe - bezeichnend und erschreckend fand ich die allgemeine Reaktion.
Als ein Beispiel die Tagesschau von gestern, gezeichnet von Krisenberichterstattung: Die Sendung begann mit einer Serie von Pannen - Einspieler, die nicht funktionierten, Interviewpartner, die nicht wußten, daß sie auf Sendung sind oder die den Gesprächspartner nicht hören konnten, Echos im Ton, nichtssagende Videos auf Dauerschleife - und Interviews mit innerhalb der Sendung immer wieder (!) denselben Leuten vor Ort, die ganz einfach kaum eine Ahnung hatten, was passierte. Die Sendung zog sich ohne Struktur über eine Stunde lang hin, die 'Faktenlage' war nicht als solche zu bezeichnen - ich hatte vierzig Minuten vor Beginn der Tagesschau mehr und bessere Informationen im Netz gelesen.
Statt Falschinformationen zu verbreiten, hätte man das normale Sendeformat beibehalten und deutlichmachen sollen, daß die Lage noch zu unklar ist.
Insbesondere die kolportierten Zeugenaussagen über drei Täter mit Langwaffen haben die Sache nicht eben befördert. Anscheinend sind aber bei Amokläufen diese Fehleinschätzungen eher die Regel; der Nachhall von Schüssen wird fehlinterpretiert und auch sonst in Panik die Gefahr überhöht. Zwischendurch verbreitete sich - auch über die Tagesschau - das falsche Gerücht einer weiteren Schießerei auf dem Stachus, und verursachte auch dort Panik. Letztlich führte die Einstellung des öffentlichen Nahverkehrs über viele Stunden, begründet aus der Sorge, 'die' Täter könnten durch die U-Bahn fliehen, im Großraum München zu einem absoluten Chaos - mit einer unbekannten Zahl von über Nacht Gestrandeten.
Für Daesh ist das alles großartig, natürlich haben die 'den Anschlag' gleich für sich reklamiert. Vermutlich übernehmen sie auch bereitwillig die Verantwortung, wenn ein Mann in einen Gully fällt. Weitere Angst breitet sich aus, und es ist ein Erfolgsrezept: Ein junger Mann mit einer Pistole, und eine ganze Stadt steht Kopf, die GSG9 wird eingeflogen, und weltweit berichten alle Medien in Dauerschleife. Ein Sonderpreis geht an die CNN, die die Geschäfte im Einkaufszentrum durchtelefonierte, um dorthin geflohene Menschen zu interviewen, wie sich echte Todesangst anfühlt... Kein Wunder also, wenn die nächsten Anschläge mit noch einfacheren Mitteln verübt noch mehr Menschen in Atem halten. So einfach dürfte es noch nie gewesen sein, eine Gesellschaft zu kippen.
So gesehen kann ich Hollandes bittere Worte nach Nizza - 'wir müssen uns daran gewöhnen' - eigentlich nur als Aufforderung ernstnehmen, die Verhältnismäßigkeiten zu achten, den Fernseher abzuschalten oder besser gleich zu entsorgen, und eine philosophische Gelassenheit zu entwickeln, die vor Fehlschlüssen auf die Tat ebenso schützt wie vor Kurzschlußreaktionen.