Gauck im Rückblick

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
aleanjre
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Mi 16. Nov 2016, 02:54 - Beitrag #1

Gauck im Rückblick

Abgetrennt aus dem Fun-Thread "Im Jahr des heiligen Joachim" - Traitor

Ich frage mich ernstlich, wo ich war, als Gauck gewählt wurde. Hatte der Mann ernstlich solch große Vorschusslorbeeren? :wzg:
Ist mir komplett durchgegangen ... Es gab nie zuvor einen Präsidenten, den ich als so blass und farblos wahrgenommen habe. Erst Mitte letzten Jahres ist es mir gelungen, mir seinen Nachnamen einzuprägen - das ist kein Joke. Seinen Vornamen kann ich mir bis heute nicht merken, aber vielleicht wird es ja jetzt was. Würde ich Opfer eines Handtaschendiebstahls werden und man würde ihn in eine Gegenüberstellung mit reinschmuggeln - es würde mir nicht auffallen. Sein Gesicht hab ich gar nicht auf dem Schirm.
In einigen Krisenzeiten hat er zur Mäßigung und Einigkeit aufgerufen, meine ich mich schwach zu entsinnen. Hat er sonst noch irgendetwas Bemerkenswertes getan?
- Ich bin durchaus politikinteressiert. Aufgrund chronischer Überarbeitung nehme ich leider eher die Knalltüten und lauten Vertreter dieser Zunft wahr. Gauck war schlichtweg zu leise für mich ... :crazy:

Traitor
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Mi 16. Nov 2016, 12:05 - Beitrag #2

Vielleicht nicht ganz so große wie hier dargestellt, aber doch, nahe dran, zumindest im Medien-Mainstream. Nach den peinlichen Abgängen von Köhler und Wulff und insbesondere Wulffs völligem Mangel an Qualifikationen jenseits des Parteibuchs war ein überparteilicher Kandidat, der als unzweifelhaft integer und dank seines vorigen Postens sogar als eine Art moralische Instanz galt, halt schon eine Sensation.
Persönlich hatte ich, neben den hier im Thread aufgelisteten Mindestanforderungen natürlich, in etwa mit einer Art Rau2 gerechnet, also leise, aber großväterlich nett, skandalfrei und zumindest gelegentlich mit schönen Worten. Ungefähr das hat er dann auch geliefert, wenn er auch gerne mehr und deutlicher hätte sagen können. Letztlich würde ich sagen, dass er dem Amt immerhin einigermaßen die Würde zurückgegeben hat, aber halt auch keine Relevanz heraufbeschwören konnte.

Ipsissimus
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Mi 16. Nov 2016, 13:07 - Beitrag #3

Gauck war nicht satisfaktionsfähig. Er hat die DDR-Bürgerbewegung, die zum Fall der Mauer und zum Ende der DDR führte, mehr oder weniger diskreditiert, indem er einen auf großen Bürgerrechtler machte, nachdem er bis ganz kurz vor dem Fall der Mauer in vornehmer Zurückhaltung agierte, nur für den Fall, dass was schief ginge mit der Revolution. Danach hat er dann mehr oder weniger alleinige Deutungshoheit über die Bürgerrechtsbewegung beanspricht. Hat hinterher alles keine Rolle mehr gespielt, wer was gemacht hat. Aber es gibt immer noch Leute, die sich dran erinnern, wie es wirklich war, und für viele von denen ist und bleibt Gauck der opportunistische Kotzbrocken, der er schon zu DDR-Zeiten war. Seine hingebungsvolle Naivität hinsichtlich neoliberaler Politik ist da fast schon Nebensache. Und sein pastorales Pathos kann er sich sonstwo hinschieben.

Traitor
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Mi 16. Nov 2016, 14:33 - Beitrag #4

Interessante Perspektive, Ipsissimus - der "Kotzbrocken" ist ja erstmal nur die härtere Version des "zu sehr von sich selbst überzeugt", das u.a. Lykurg und ich ihm u.a. im 2010er-Thread als einzigen Makel vorgeworfen hatten; die Zurückhaltung vor und Umdeutung nach der Wende war mir dagegen noch nicht als sonderlich kontrovers diskutiert aufgefallen, vermutlich sind das die hier in WP zusammengefassten Stellungnahmen? Wenn du da noch in die Tiefe gehendere Texte kennst, gerne her damit. Falls du sie im 2012er-Thread schon angebracht hattest, entschuldige, den muss ich noch rekapitulieren.

Maglor
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Mi 16. Nov 2016, 18:27 - Beitrag #5

Ich fand sein ewiges Kreisen um die DDR sehr verstörend, sein Geschwafel um Freiheit nervend. Noch schlimmer fand ich jedoch seine entmündigende Rhetorik in der 1. Person Plural "Wir Deutschen ...".
Das meiste, was er sagte, war gewissermaßen herrschaftsdisziplinierend, außer natürlich beim Thema Rechtspopulismus und Linkspartei.
Und am meisten habe ich ihn natürlich deswegen gehasst, der er angeblich so beliebt war. Gaucks Popularität ist von den Medien wahrscheinlich genauso konstruiert wie Wulffs mangelnde Qualifikation.

Ipsissimus
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Mi 16. Nov 2016, 19:12 - Beitrag #6

Zitat von Traitor:Falls du sie im 2012er-Thread schon angebracht hattest ...


Beitrag 45 und 48

es ist schwierig geworden, exakte Literatur zu finden, seit das Terpe-Papier nicht mehr zugänglich und seine Veröffentlichung verboten ist. Wenn du in den Medien suchst, wirst du nur noch Weichspülung finden, an der harten Kritik, die im Osten geübt worde, z.B. von Tschiche, einem Bürgerrechtler, der wirklich sein Leben riskiert hat, ist so lang heruminterpretiert worden, bis nur noch die Interpretationen da waren, und von denen nur die gauckfreundlichen. Ein Beispiel dafür wäre das hier.

aleanjre
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Mi 16. Nov 2016, 20:30 - Beitrag #7

Die Biographie liest sich nach einem Menschen, der mit "wasch mich, aber mach mich nicht nass" ein Leben lang gut gefahren ist. Wollte Journalist werden, durfte es aber nicht, also hat er es sein gelassen. Hat Theologie studiert, um seine philosophische Erkenntnis zu erweitern. Wollte nie als Pfarrer arbeiten und hat sich irgendwie dahintreiben lassen. Wolle nicht revolutionieren, sondern lieber hoffen. Wollte Westdeutschland genießen, aber nicht aus der DDR abhauen. Dieser Spruch, dass er "seinen Westen wie eine Geliebte ..." Oh Mann. :wzg: Wollte die Stasi aufarbeiten, aber keinem weh tun. Schon gar nicht den ehemaligen Stasimitarbeitern unter seinen Angestellten.
Genau so habe ich ihn als Präsidenten wahrgenommen. Jemand, der gar nicht will, aber auch nichts dagegen hat. Der keine klare Position beziehen kann und auch nicht will und weder irgendetwas bewegt, noch für Skandale sorgt. Der in Tradition und Schöngeistigkeit schwelgt und Null Visionen für die Zukunft verfolgt. Solche Leute sind durchaus angenehm als Weinhandelsvertreter und als kleine Pfarrer in Hintertupfingen tun sie auch keinem weh. Aus Gründen, die man allenfalls mit Ironie des Schicksals bezeichnen kann, ist er im Volksaufstand der DDR ins Rampenlicht geraten. Da kann man mit solchen Typen durchaus was hermachen, weil die keine peinlichen Terrordrohungen vor laufender Kamera ausstoßen und mit ihren eher sanften Manieren niemanden verschrecken. Dazu klingt es irgendwie noch klug, was er geschwollen vor sich hinredet und in einem Anzug macht er auch eine nette Figur. Wunderbar! Macht ihn zum Präsidenten, da kann sich niemand beschweren. Es ist schlichtweg nicht genug Material da, denn alles, was er von sich gibt, kann man so oder auch so oder eben ganz anderes interpretieren.
Wie hieß er doch gleich? :naja:

Maglor
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Mi 16. Nov 2016, 20:31 - Beitrag #8

Sehr prophetisch:
taz 20.02.2012: Ein Stinkstiefel namens Gauck
"Besser geht’s nicht. Schade ist nur, dass er nicht gleich am Donnerstag auf der Gedenkfeier für die Opfer der Nazimorde anstelle von Wulff in die Bütt gehen wird. Andererseits: Der nächste Dönermord oder eine andere Gelegenheit, um Ausländern die Meinung zu geigen, Verständnis für die Überfremdungsängste seiner Landsleute zu zeigen, die Juden in die Schranken zu weisen und klarzustellen, dass Nationalsozialisten auch nur Sozialisten sind, findet sich ganz bestimmt. "

Man hätte es also von Anfang an wissen müssen.


Zitat von aleanjre:Die Biographie liest sich nach einem Menschen, der mit "wasch mich, aber mach mich nicht nass" ein Leben lang gut gefahren ist.

Der Vollständigkeit halber: Er trennte sich von seiner Ehefrau und zog mit der Daueraffäre ins Schloss Belleveu, blieb aber verheiratet.

Lykurg
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Fr 18. Nov 2016, 00:11 - Beitrag #9

Ganz klar hatte er bei weitem nicht das Format eines Weizsäcker, Herzog, oder, um etwas weiter zurückzugreifen, Heuss. Andererseits klingen mir die schrillen Anfeindungen der Linken - die ich auch schon aus der Zeit vor seiner Wahl erinnere - irgendwie immer schon unglaubwürdig. Ich frage mich dabei dann doch, ob ihm die Theologie oder die Stasiunterlagen übler genommen werden - oder einfach die ideologische Ungleichheit. Das Maß an Haß, das ihm da teilweise entgegenschlägt, kann ich jedenfalls nicht wirklich nachvollziehen, wenn ich auch an aleanjres Feststellung seiner Blaßheit wenig auszusetzen habe.

Maglors Feststellungen zu seinem Privatleben treffen zu, allerdings frage ich mich dann doch, inwieweit das heute noch relevant ist bzw. wer alles dann nicht für dieses Amt geeignet ist, wenn Getrenntleben und Beziehung schon ein Problem darstellt. :para:

Maglor
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Fr 18. Nov 2016, 18:15 - Beitrag #10

Zitat von Lykurg:wenn Getrenntleben und Beziehung schon ein Problem darstellt. :para:

Es gibt allerdings nur wenige, die so etwas über Jahre durchziehen. Gibt es auch solche Jubeljahrfeiern, wenn man schon 25 Jahre getrennt von der Nochehefrau lebt? Oder silberners Konikubinat?

Am besten lassen wir den Gevatter in fiktiver Rede die Sache selbst erklären:

Wir Deutsche mussten uns an viele neue Familienbilder gewöhnen. Scheidungen sind für uns längst kein Skandal mehr. (Für mich vielleicht schon?) Die Bezeichnung "uneheliches Kind" haben wir aus unserem aktiven Wortschatz längst gestrichen. Die Lebenpartnerschaft nennen wir in Verkennung der Rechtslage "Homo-Ehe", selbst wenn wir gleichgeschlechtliche Paare in der eigenen Familie oder im Freundeskreis nie akzeptieren werden. Für das, was bei mir seit Jahren läuft, gibt es in der deutschen Sprache nicht einmal ein richtiges Wort! Wir könnten es Polygamie nennen, wenn ich mit beiden Frauen verheiratet wäre. Die Bezeichnung Konkubinat beinhaltet zwar die Ideee, man sei nur mit einer Frau verheiratet, aber eigentlich müsste man mit seiner Ehefrau zusammenleben und sich die Konkubine zusätzlich halten. Wir könnten es auch Ehebruch nennen, aber es ist auch ganz egal, weil ich ein weißer Mann bin - ein "Bio-Deutscher", wie wäre heute sagen. Wäre ich einer von denen, die wir nicht mehr "Muselmanen" nennen dürfen, würde wir mich als üblen Polygamisten verurteilen. Dem Bundespräsidenten können hingegen wir alles durchgehen lassen. Schon seit Martin Luther erlauben wir dem Landgraf die Vielweiberei. Es ist also gute Tradition, denn ich bin berühmt und darf mir alles erlauben.

:crazy: :rolleyes: :crazy:


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