Wilde Wanderer

Von der Genetik bis zur Quantenphysik, von der Atomkraft bis zur Künstlichen Intelligenz. Das weite Feld der modernen Naturwissenschaften und ihrer faszinierenden Entdeckungen und Anwendungen.
Ipsissimus
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Mi 18. Mai 2011, 22:53 - Beitrag #1

Wilde Wanderer

http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltall/0,1518,763386,00.html

Ich hatte zwar mal einen SF-Roman gelesen, in dem das Konzept vorgestellt wurde, und auch als früherer Perry Rodan-Leser sind mir vagabundierende Planeten nichts Neues. Aber in der Realität und in der Menge hätte ich mir das nicht so ohne weiteres vorgestellt^^
Astronomische Entdeckung
Planeten vagabundieren durch die Milchstraße

Forscher haben eine exotische Klasse von Himmelskörpern entdeckt: Planeten, die nicht um einen Stern kreisen. Die wilden Wanderer sollen sogar extrem häufig sein - in der Milchstraße übertrifft ihre Zahl offenbar die der Sterne.

Kreisen Planeten grundsätzlich um Sterne, oder geht es auch ohne? Die Frage dürfte unter Astronomen künftig brisant werden. Denn laut einer im Fachmagazin "Nature" veröffentlichten Studie finden sich in der Milchstraße überraschend viele Exoplaneten ohne Zentralgestirn. Ihre Zahl könnte Berechnungen zufolge sogar die der Sterne in unserer Heimatgalaxie übertreffen.

Traitor
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Mi 18. Mai 2011, 23:00 - Beitrag #2

Das war eigentlich zu erwarten, denn Mehrkörpersysteme neigen ganz natürlich dazu, einzelne Objekte herauszuschießen. Die Entstehung eines Planetensystems stellt man sich ja inzwischen als ziemlich dynamische Angelegenheit mit Migrationen, Kollisionen und allem, was dazugehört, vor, und da ist eben auch zu erwarten, dass einzelne Planeten das System ganz verlassen. Bei Kometen ist das ja noch heute zu beobachten. Dazu noch die im Artikel erwähnten nahen Begegnungen von Sternen, die sich gegenseitig ihre Planeten wegschießen.

Dass solche Einzelobjekte mit OGLE entdeckt werden konnten, ist aber schon beeindruckend. Interessant wäre für mich noch die Abgrenzung zu MACHOs, da muss ich mal in den Original-Artikel reinsehen.

Traitor
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Do 19. Mai 2011, 21:13 - Beitrag #3

Noch ein paar Details:
  • Die Statistiken haben wie bei Erstentdeckungen üblich noch verdammt große Fehlerbalken, die "doppelt so vielen Wanderplaneten wie Hauptreihensterne" könnten auch locker nur einmal oder sogar viermal soviele sein.
  • Schwerwiegender: Sicher ausgeschlossen werden können für die beobachteten planetenschweren Objekte nur Sterne im Abstand <10 AU, darüber hinaus wäre noch möglich, dass man den "Begleiter"stern übersehen hat. Dass es Wanderplaneten sein müssen, wird dann daraus gefolgert, dass man bisher bei kaum einem Exoplanetensystem so weit außen Gasriesen gefunden hat. Dagegen gibt es allerdings auch einen methodischen Selektionseffekt. Ich denke, die Argumentation der Autoren klingt durchaus schlüssig, aber Gegenthesen werden mit Sicherheit folgen und weitere Beobachtungen mit größerer Stichprobe und weiter ausgedehnter Sternsuche wären hilfreich.
  • Die Abgrenzung zu MACHOs (MAssive Compact Halo Objects, optisch dunkle Zwergsterne, Riesenplaneten und Exotika im Milchstraßen-Halo, früher als Dunkle-Materie-Kandidaten postuliert und Hauptgründe für die OGLE- und MOA-Kampagnen, aber die Suchen danach waren weitgehend erfolglos) erfolgte gemäß der Eigenbewegungen der beobachten Objekte, Halopopulationen unterscheiden sich da deutlich von Planeten, die man scheibenintern erwartet.
  • Mit "die im Artikel erwähnten nahen Begegnungen von Sternen" habe ich uhrzeitbedingt fehlzitiert, beim Spiegel steht tatsächlich:
    Wenn Planeten entstehen, kreisen sie zum Teil in sehr nah beieinander liegenden Bahnen. Dabei könnten sie sich gegenseitig durch ihre Gravitation stark beeinflussen.
    Also genau der im Originalartikel genannte und auch naheliegendere Effekt, kein alternativer, durchaus auch realistischer, aber wahrscheinlich subdominanter.

Ipsissimus
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Do 19. Mai 2011, 21:59 - Beitrag #4

könnten solche planetaren Objekte ohne Sonnen eigentlich bei der Galaxienentstehung direkt entstanden sein, ohne den Umweg über eine Sonne? Wenn bei der Galaxienentstehung Sterne aller möglichen Größen entstehen, dürfte es doch kein größeres Problem sein, dass dann auch Körper entstehen, deren Masse nicht reicht, um eine Fusion zu zünden und zu unterhalten, udn die nicht an das Schwerefeld einer Sonne gebunden sind?

Traitor
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Do 19. Mai 2011, 22:12 - Beitrag #5

Ersteinmal ist "bei der Galaxienentstehung" aber schwer zu definieren, da große Galaxien wie unsere Milchstraße sich im Laufe ihrer Geschichte durch Kollisionen, Akkretion und Zwerggalaxien-Kannibalismus massiv verändert haben und erst zu dem wurden, was sie jetzt sind, einen Entstehungsmoment im engeren Sinne gibt es nicht.

Wenn ich aber mal annehme, dass du mit "bei der Galaxienentstehung" etwas in der Richtung von "früh im Universum, zusammen / parallel zu den ersten Sternen" meinst (was ich intuitiv nahe dran finde, aber korrigiere mich, wenn du es anders meintest), dann: nahezu ausgeschlossen. Aus primordialem Gas (Wasserstoff, Helium und ein paar Spurenleichtmetalle) können sich vermutlich nur supermassive Sterne bilden, vielleicht auch etwas kleinere, aber mit Sicherheit nichts im Jupitermassenbereich. Dafür braucht es Feststoffe, die den Planetenkern bilden, als Keime, an denen sich die Gase sammeln können.

Im späteren Verlauf der Galaxienentwicklung, wenn frühe Sternpopulationen bereits genug schwere Elemente produziert haben, fällt das Argument dann zwar weg. Damit sich die immer noch dünnen Gas- und Staubwolken aber genug verdichten, um ein kompatkes Objekt zu geben, braucht es aber weiterhin einer recht hohen Startmasse. Es beginnen also immer nur Gesamtsysteme in Sonnenmassengrößenordnung zu kollabieren.
Denkbar wäre aber vielleicht, dass sich die Zentralkonzentration so einer Sternentstehungswolke durch äußere Einflüsse wieder auflöst, bevor die Fusion zündet, aber im Randbereich bereits genügend kollabierte Subwolken für Planeten übrig bleiben, die sich dann ohne Mutterstern fertig bilden. Ob das tatsächlich passiert, dafür müsste man jetzt schon in die Simulationen und/oder Fachliteratur gucken.

Ipsissimus
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Fr 20. Mai 2011, 09:52 - Beitrag #6

Ich habe keine spezifischen Vorstellungen darüber, wie die Galaxienentstehung verläuft; dass es ein zeitintensiver Prozess ist, war mir allerdings klar^^ okay, das mit den schweren Elementen hatte ich übersehen.

Wie wäre es aber z.B. mit der Entstehung solcher Wanderer durch Supernova-Explosionen? Da sollten genügend schwere Elemente beteiligt sein, und rein statistisch könnten bei der Explosion doch auch immer mal Trümmer im geeigneten Massebereich wegfliegen?

Traitor
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Fr 20. Mai 2011, 21:01 - Beitrag #7

Galaxienbildung ist ein ziemlich spannendes Feld und auch lange noch nicht auserforscht. Insbesondere über die erste Sterngeneration und die Entstehung früher massiver Galaxien wissen wir noch fast nichts, da hilft hoffentlich die nächste Teleskopgeneration.

Was genau stellst du dir bei den Supernovae vor?
Dass ein Brocken aus dem Stern mehr oder weniger am Stück herausgeschleudert wird und sich zu einem planetengroßen Objekt beruhigt? Dafür sind die Energien von Supernovae viel zu hoch, da wird alles komplett zerrissen.
Oder dass der Stern zwar sauber pulverisiert wird, dass sich aus den Überresten aber schnell wieder etwas kompaktes bildet? Auch ziemlich sicher nicht, da auch dafür noch zu viel Energie drin steckt. Supernovaüberreste (z.B. einige der bekanntesten und hübschesten Nebel) sind erstmal für längere Zeit extrem aufgeheizt und haben besseres zu tun, als zu rekollabieren.
Oder dass die Schockwelle der Supernovae Wolken in mittelnaher Umgebung zum Kollaps anregt? Das gilt als wichtiger Auslöser für Sternbildung an sich, da reiner Selbstkollaps zu unwahrscheinlich ist. Dabei werden aber die Mindestmassen nicht wesentlich herabgesetzt, planetenschwere Objekte dürften sich immer noch höchstens durch Fragmentation einer auch Sterne bildenden Wolke bilden. Dann wird es fast zur philosophischen Frage, wann man davon spricht, dass sich ein Planet in der Nähe eines Sterns, aber unabhängig davon, gebildet hat, oder um einen Stern herum, und dann sehr schnell frei von ihm wurde. Aber nur fast, prinzipiell ließe sich das mit genügend komplexer Bahnmechanik beantworten.

PS: Das klingt jetzt etwas zu definitiv. Die im vorigen Beitrag erwähnte Möglichkeit, dass sich aus der fragmentierenden Wolke dann doch kein Stern entwickelt und nur etwas kleineres übrig bleibt, möchte ich weiterhin nicht ausschließen, und Anregung durch Supernovaschockwellen schadet dabei sicherlich auch nicht.

Traitor
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Mi 14. Nov 2012, 19:17 - Beitrag #8

Neues zum Thema: in der 2011er Veröffentlichung ging es ja um indirekte (Gravitationslinseneffekt) und statistische Erkenntnisse. Parallel läuft seit Jahren die direkte Suche mit optischen und Infrarot-Teleskopen nach immer leuchtschwächeren und kleineren Braunen Zwergen ("gescheiterten Sternen"), die kontinuierlich in den Bereich "wilder Planeten" übergehen könnten. Ein Höhepunkt dieser Suche scheint jetzt erreicht zu sein - siehe Originalartikel bzw. SpOn. Man beachte aber, dass der Spiegel das signifikante Fragezeichen im Originaltitel unterschlagen hat. ;)

Die spannendste Aussage zu möglichen Entstehungsszenarien kommt ganz am Ende:
Zitat von Delorme et al.:The conclusions for stellar and planetary formation models would also be far reaching. Either the planetary mass-field brown dwarfs are mostly the result of a stellar formation process, which would confirm the fragmentation of a molecular cloud can routinely form objects as light as a few Jupiter masses, either these objects are mostly ejected planets.
Sprich, man weiß es weiterhin nicht. ;)

Traitor
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Do 24. Jan 2019, 12:39 - Beitrag #9

Um dem Eindruck entgegenzuwirken, ich würde spannenden Hypothesen immer nur langweiligere Mainstream-Erklärungen entgegensetzen, hier mal eine spannende Nonstandardgegenhypothese zur spannenden Nonstandardhypothese: die Interpretation der OGLE-Mikrolinsen-Beobachtungen als Wanderer-Planeten ist wohl noch nicht so ganz akzeptiert, hier z.B. wird die Alternativerklärung durch primordiale planetenschwere Schwarze Löcher wiederbelebt.

Ipsissimus
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Fr 25. Jan 2019, 14:29 - Beitrag #10

hmm, bei großen schwarzen Löchern und Mikrolöchern kann ich mir ihr Zustandekommen erklären, aber wie sollen schwarze Löcher im Massebereich zwischen Erd- und Jupitermasse entstanden sein? Primordial, schon klar, aber was bei Mikrolöchern eine relativ einfache Erklärung liefert, ist eine ganz andere Geschichte bei vielfach größerem Radius. Und weitergedacht, wenn es in dem Massebereich primordiale Löcher geben soll, warum dann nicht auch bei den großen Löchern?

Traitor
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Sa 26. Jan 2019, 17:12 - Beitrag #11

Der Witz am Wort "primordial" ist, dass es ein wunderschöner Platzhalter für "wir wissen nichts darüber, also dürfen wir wild raten" ist. Verlegt man den vermuteten Entstehungszeitpunkt nur nah genug an den Urknall, lange vor der Entstehung des Mikrowellenhintergrunds, dann könnten beliebige Inflationseffekte, neue Teilchen, neue Felder, alternative Gravitationstheorien, Strings usw. zur Bildung dieser Löcher beigetragen haben, und das Massenspektrum (also wie viele es in welchen Größenordnungen gibt) kann beliebig breit oder schmal, glatt oder kompliziert werden.

Eingeschränkt werden die Modelle vor allem durch das Ausbleiben eindeutiger Beobachtungen, etwa durch die hier angeschnittenen Mikrolinsenereignisse sowie natürlich auch mal wieder Gravitationswellen, und durch die Einflüsse, die große Mengen PBHs als quasi-Dunkle-Materie auf Galaxiendynamik hätten. Die decken aber wiederum alle verschiedene Massenbereiche verschieden stark ab. Z.B. wurden direkt nach GW150914 plötzlich Modelle, die eine Überhäufigkeit von PBHs mit ziemlich genau 30 Sonnenmassen produzierten, verdächtig beliebt; manche Experten schrieben dann sofort, diese seien bereits durch OGLE & Co ausgeschlossen, manche glauben immer noch, da gäbe es Schlupflöcher.


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