Theorien zur Galaxienentstehung in Frage gestellt

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Ipsissimus
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Mo 7. Jan 2013, 14:42 - Beitrag #1

Theorien zur Galaxienentstehung in Frage gestellt

http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltall/neil-ibata-15-jaehriger-an-nature-studie-ueber-galaxien-beteiligt-a-876096.html

Mit Hilfe des Keck-Teleskops auf Hawaii gelang einem internationalen Forscherteam eine verblüffende Entdeckung über die Andromeda-Galaxie, die nächste kosmische Nachbarin unserer Milchstraße. Fast 30 Zwerggalaxien umkreisen den Giganten - und zwar wohlgeordnet auf einer Ebene, so wie es Planeten in einem Sonnensystem tun.

Bisher hatten Forscher angenommen, dass die Zwerggalaxien Andromeda in wildem Durcheinander umschwirren, etwa wie Bienen ihren Stock. Die Entdeckung sei deshalb eine "ernste Herausforderung" für das bisherige Verständnis über die Entstehung und Entwicklung von Galaxien, hieß es in einer Mitteilung des Keck-Observatoriums. Ihr Titel: "Überraschende Pfannkuchen-Struktur der Andromeda-Galaxie stellt Vorstellung von Galaxien auf den Kopf."

Simulationen über den Haufen geworfen

Astronomen simulieren schon seit Jahrzehnten am Computer, wie Zwerggalaxien größere Sternsysteme umkreisen - und jedes Mal kam dabei heraus, dass die Begleiter zufällig verteilt sind. Keines dieser computergenerierten Universen habe Zwerggalaxien enthalten, die in einer Ebene eine Galaxie umkreisen, heißt es in er Keck-Mitteilung.

Die neuen Beobachtungen werfen die bisherige Annahme nun über den Haufen. Geraint Lewis, einer der leitenden Autoren der "Nature"-Studie, sprach von einer "völlig unerwarteten" Entdeckung. Die Chance, dass es sich bei der Andromeda-Struktur um einen Zufall handele, liege praktisch bei null. Ähnliches dürfte also auch bei anderen Galaxien zu erwarten sein.
Original unter http://www.nature.com/nature/journal/v493/n7430/full/nature11717.html

was ich dabei grundsätzlich nicht verstehe: müssen solche Simulationen nicht schon am Drei-Körper-Problem scheitern?

Traitor
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Mo 7. Jan 2013, 15:23 - Beitrag #2

Das analoge Phänomen bei der Milchstraße selbst (auch wenn mit weniger Satelliten beobachtet, ca. ein Dutzend) ist schon seit Jahren ein großes Streitthema. Die bei SpOn auch hier wieder gemachte Aussage "Die Chance, dass es sich [...] um einen Zufall handele, liege praktisch bei null. " tauchte in dem Zusammenhang auch schon immer wieder auf (gerne auch genauer quantifiziert), war aber immer völlig unsinnig, da man eben nur eine einzelne Stichprobe untersucht hatte. Wenn es jetzt schon 2 Muttergalaxien mit solchen Systemen sind, ist es zumindest schon auffälliger; die statistische Denkweise hilft da dennoch erstmal wenig weiter.

Die naheliegendste Erklärung wäre, was im Nature-Abstract "coherent accretion" genannt wird: Galaxien bilden sich laut CDM ja in Filamenten, und dann klingt es vernünftig, dass zusätzliche später angezogene Masse (für die Satelliten) bevorzugt in der Ebene bleibt, in der sie angesaugt wurde. Dass Simulationen den Effekt unterschätzt haben, kann u.a. daran liegen, dass er für Gas stärker sein dürfte als für kollisionslose DM.
Aber ob diese Erklärung ausreicht, ist eben umstritten, die Autoren zitieren ja Pros und Contras. Alternativ stützen sich MOND und andere DM-Alternativen auf solche Beobachtungen - bemerkenswert, dass die hier nicht proklamiert werden, anscheinend geben sich die Autoren Mühe, den reinen Beobachtungsbefund herauszustellen und daraus eben nicht vorschnell Folgerungen zu ziehen, wie SpOn es dann natürlich doch tut.

Die Rolle des 15-Jährigen wird in der Boulevard-Version natürlich auch überbetont, aber nett, dass er es in die Autorenliste geschafft hat.

was ich dabei grundsätzlich nicht verstehe: müssen solche Simulationen nicht schon am Drei-Körper-Problem scheitern?
Die Simulationen helfengerade, das Drei-Körper-Problem aufzuheben: analytisch kann man schon drei Körper nicht lösen, numerisch aber inzwischen locker Milliarden, indem man einfach in diskreten Zeitschritten für jeden Körper die Anziehung der N-1 anderen berechnet (simples Newton-Gesetz) und ihn dann für den nächsten Schritt entsprechend ein kleines Stück verschiebt. Quasi ein ruckeliger Film, der bei hinreichender Auflösung aber ganz gut der eigentlichen Bewegung entspricht.

Ipsissimus
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Di 8. Jan 2013, 11:42 - Beitrag #3

und dann klingt es vernünftig, dass zusätzliche später angezogene Masse (für die Satelliten) bevorzugt in der Ebene bleibt, in der sie angesaugt wurde.
wenn ich es richtig verstanden habe, lassen sich die Voids nur so erklären, dass Phantommaterie strukturbildend gewirkt hat - das Alter des Universums reicht bei weitem nicht dafür aus, dass typische Voids in Größenordnungen von 300 Mpc durch Galaxien-Trifft entstanden sind. Trotzdem kann ich mir das mit den Filamenten nicht erklären. Egal, wie die großskaligen Strukturen entstanden sind, Gravitation wirkt radial in alle Richtungen. Es ist für mich nur schwer vorstellbar, dass es nichtphantomhafte Verbindungen zwischen Super-Clustern geben soll, die alle nur in einer Ebene liegen, abgesehen davon, dass bei der Skala auch für derartige Verbindungen das Entfernungsproblem relevant wird. Oder ist das so zu deuten, dass nur die Filament-Materie aus - in kosmologischer Skala - geringer Entfernung angezogen wird? Aber warum sollte die Filament-Materie so strukturiert angeordnet sein?

Traitor
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Di 8. Jan 2013, 12:08 - Beitrag #4

Bei dir heißt derzeit "Phantommaterie" ganz "normale" Dunkle Materie, richtig...?

Das Muster von Clustern, Filamenten und Voids ist an sich das gleiche, egal, ob man nur baryonische, nur Dunkle oder Mischmaterie hat, nur der Dichteunterschied und die Größenskalen variieren, denn Gravitation wirkt ja auf beide gleich; und richtig, die beobachteten Größenskalen sind ein wichtiger Hinweis auf die Beteiligung von Dunkler.
"Alle nur in einer Ebene" meinte ich nicht, sondern eine Ebene pro Galaxis, entstehend (vielleicht) dadurch, dass die Proto-Satellitengalaxien entlang der Filamente einfallen und dann gemäß ihrem Impuls und Drehimpuls auf eine "Umlaufbahn" einschwenken.
Die Filamentstruktur ("kosmisches Netz") kommt nun gerade durch die radiale Wirkung der Gravitation in alle Richtungen zustande - im noch fast homogenen Uruniversum ziehen sich die leichten Überdichten zusammen, ziehen dabei aber auch Materie aus den Unterdichten ab, sodass diese immer leerer werden. Also ergibt sich zuerst eine Art Seifenblasenstruktur, und wenn die Voids weiter wachsen, bleiben von den Hüllen ("sheets") nur noch die eindimensionalen Filamente übrig, und natürlich die konzentrierten Überdichten an den Schnittstellen, die die ganze Entwicklung erst bewirkt haben.
In den Videos der Millennium Simulation bekommt man einen guten Eindruck, leider nur von der Endverteilung;hier sieht man die Evolution besser, wenn auch nur mit einem vereinfachten Modell.

"Das Entfernungsproblem"?

Ipsissimus
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Di 8. Jan 2013, 12:48 - Beitrag #5

ja, seit wir herausgearbeitet haben, dass "dunkel" für tatsächlich transparente, jedenfalls nicht klassisch wechselwirkende Materie steht, erscheint mir der Ausdruck "Phantommaterie" angemessener^^

na ja, dann verstehe ich noch weniger, warum Filamente überhaupt entstanden sind. Warum haben die sich dem Zug der Überdichten widersetzen können? Letztlich handelt es sich dabei auch nur um Materie. Oder verweisen die einfach nur darauf, dass die Ausdünnung nicht abgeschlossen ist?

Liegen Supercluster eigentlich in gegenseitigen Zukunftslichtkegeln?

Entfernungsproblem - der Umstand, dass bei den beobachteten Eigengeschwindigkeiten von Galaxien das derzeit angenommene Alter des Universums bei weitem nicht ausreicht, um die Entstehung beobachteter kosmologischer Strukturen durch reine gravitativ bedingte Materie-Trifft zu erklären.

Traitor
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Di 8. Jan 2013, 13:51 - Beitrag #6

ja, seit wir herausgearbeitet haben, dass "dunkel" für tatsächlich transparente, jedenfalls nicht klassisch wechselwirkende Materie steht, erscheint mir der Ausdruck "Phantommaterie" angemessener^^
Wie im entsprechenden Thread geschrieben, ist das für mich verwirrend, weil "phantom matter" bzw. "phantom dark matter" ein Spezialbegriff für eine bestimmte DM-Variante ist.

Oder verweisen die einfach nur darauf, dass die Ausdünnung nicht abgeschlossen ist?
Genau. Einerseits findet weiterhin Akkretion entlang der Filamente statt, wenn auch nicht mehr in so großem Umfang. Aber die Filamente sind nicht nur dünne Gasfäden, sondern selbst so massiv, dass es in ihnen Galaxien gibt. Gleichzeitig sind sie insgesamt nicht dicht genug, um sich der Expansion zu widersetzen. Also werden sie langfristig fragmentieren, die näher an den Knoten gelegenen Teile in diese strömen, dazwischen in Einzelgalaxien und kleine Cluster, und Reste einfach so wegexpandieren.

Liegen Supercluster eigentlich in gegenseitigen Zukunftslichtkegeln?
Wenn die beschleunigte Expansion so weitergeht, langfristig nicht, dann wird jedes kollabierte Objekt (isolierte Galaxien, Gruppen, Cluster, Supercluster) jeweils sein eigenes isoliertes beobachtbares Universum sein.

Zum engeren Thema des Threads: Und schon gibt es die erste MOND-Interpretation dazu. Bin mal gespannt, wann die LCDM-Erklärungen kommen.

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Mi 9. Jan 2013, 11:33 - Beitrag #7

eigentlich können wir uns doch nur für die engere kosmische Umgebung, sagen wir 5000 Lichtjahre, einigermaßen sicher sein, dass das Universum so ist, wie wir es beobachten (weil seit etwa 5000 Jahren systematische Himmelsbeobachtungen verbürgt sind)? Der Deep Space ist ja nur in Art einer Zeitreise zugänglich - wie immer es dort heute aussieht, wir wissen es nicht, wir erhalten nur Bilder, die zeigen, wie es damals aussah, als das Licht auf die Reise ging. Gibt es eigentlich Simulationen dessen, wie das Universum heute vor Ort aussehen mag? Oder reicht für solche Simulationen die Prognosesicherheit unserer kosmologischen Theorien noch nicht aus?


es war mir nicht so klar, dass Objekte zu einem bestimmten Zeitpunkt in wechselseitigen Zukunftskegeln liegen können und zu späteren Zeitpunkten nicht mehr; aber im Grunde ist das logisch, wenn man annimmt, dass die Raumzeit selbst weiter expandiert. Kann man diese Expansionsgeschwindigkeit ungefähr beziffern? Also wie schnell dehnt sich die Raumzeit aus?

Traitor
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Mi 9. Jan 2013, 21:57 - Beitrag #8

Genaugenommen können wir uns ja zu jedem beliebigen Zeitpunkt nichtmal sicher sein, dass die Sonne noch existiert, oder auch nur der Bildschirm vor uns. ;) Sämtliche Kosmologie beruht dementsprechend darauf, anzunehmen, dass nicht irgendwo im Universum plötzlich alle physikalischen Gesetze versagen und sonstwas passiert. Da wir aber Unmengen Beobachtungspunkte an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten haben, und das in jede Richtung, bei denen alles zusammenpasst, und es keinen Grund gibt, anzunehmen, dass unser rückwärtiger Lichtkegel besonders ist, gibt es auch keinen, anzunehmen, dass es außerhalb anders wäre.

Wie ein Bereich, den wir heute mit einem bestimmten Alter sehen, "heute" aussieht (das Problem der Gleichzeitigkeit in der S/ART ist ja eh nochmal so eine Sache), könnte man prinzipiell problemlos mit den gleichen Simulationen berechnen, die man üblicherweise vo(n kurz nach de)m Urknall an bis heute laufen lässt. Macht man nur üblicherweise nicht, weil es einem nicht sonderlich viel bringt. Aber beispielsweise die Simulationen zur künftigen Kollision von Milchstraße oder Andromeda enthalten ja automatisch eine Simulation der weiteren Entwicklung Andromedas, vom derzeitigen Beobachtungsalter ausgehend, also den "heute"-Zustand beinhaltend.

Bei Lichtkegeln muss man immer sehr genau aufpassen, was man sagt, und vermutlich habe ich das heute morgen nicht... Natürlich muss man sich die Kegel immer in 4D ansehen und dann kann man z.B. sagen "Für Beobachter A in Cluster X zum Zeitpunkt T0 liegt das zum Zeitpunkt T1 stattfindende Ereignis B in Cluster Y im zukünftigen Lichtkegel, das zum späteren Zeitpunkt T2 stattfindende Ereignis C im selben Cluster Y aber nicht mehr". (Sobald die Expansion zwischen den beiden schnell genug ist, und Probleme von Bezugssystemen und Zeitbezügen wieder vernachlässigend.)

Ich vermute, bei der Frage nach der Expansionsgeschwindigkeit bist du gerade nur auf einem zu hohen Level verwirrt - das ist ganz einfach die gute alte Hubble-Konstante. ;) (Bei der "Konstante" natürlich mit Vorsicht zu genießen ist, sie hieß halt historisch so und heute mogelt man sich damit durch, dass der Wert einer Variablen H(t) bei t=0 halt eine Konstante sei...)


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