Der dritte Schimpanse

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Traitor
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Do 24. Jan 2013, 22:55 - Beitrag #1

Der dritte Schimpanse

Aus "Welches Buch lest ihr gerade?":
Zitat von Padreic:Jared Diamond - Der dritte Schimpanse
Es ist ein Buch über den Menschen und seine Geschichte. [...] Physiologisch sind wir nur eine dritte Schimpansenart [...]

Ist das mit der Schimpansenart nur eine provokative Zuspitzung für den Titel, oder eine ernsthafte Aussage des Buches? Ich ging bisher davon aus, dass es unangefochtener Konsens sei, dass die Entwicklungslinien von Mensch und Schimpanse schon so lange getrennt sind, dass man sie keinesfalls als Gattung wiedervereinen könnte. Viele Paläoanthropologen neigen zwar etwas zur Gattungsinflation, was andere Paläoanthropologen wiederum auch öffentlich kritisieren, aber mindestens 2-3 Vormenschengattungen nach der Aufspaltung erscheinen mir als unzweifelhaft.

Oder liegt der Knackpunkt in "physiologisch", geht es bei der Aussage gar nicht um einen kladistisch-genetischen Artbegriff, sondern um irgendetwas anderes?

Padreic
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Fr 25. Jan 2013, 04:09 - Beitrag #2

Es ist sicherlich irgendetwas dazwischen. Zum einen steht es symbolisch für sein Vorhaben, den Menschen in diesem Buch als besonderes Tier darzustellen und Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu anderen Tieren darzustellen. Ein Stück weit meint er es aber sicherlich ernst und hält das Herausstellen des Menschen für anthropozentrisch.

Wichtigster Punkt ist neben der physiologischen Ähnlichkeit sicherlich eine Zahl: 98,6% genetische Gemeinsamkeit zwischen Menschen und Schimpansen. Und dass nach gängiger Lehrmeinung, Schimpansen und Menschen sich im Stammbaum erst voneinander getrennt haben, nachdem die Gorillas sich abgespalten haben (und lange nach den Orang-Utans).
So wie ich die ganze Sache verstehe, gibt es keine 100%igen Maßstäbe, was genau eine Gattung, ein Tribus oder eine Familie ist. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man auch gute Gründe finden würde, den Menschen vielleicht nicht zur Gattung Schimpanse zuzuschlagen, ihn aber im selben Tribus eingliedern könnte. Neben Diamond tun das zumindest noch andere Forscher oder ziehen es zumindest in Erwägung. Diamond führt dazu an, dass zwischen verschiedenen Gibbon-Arten es eine genetische Variation von über 2% gebe, vergisst aber anzumerken, dass Gibbons eine Familie bilden, die aus verschiedenen Gattungen bestehen ;). Das ist leider ein wenig typisch für seinen Argumentationsstil. Eine gründliche Diskussion über Systematik findet sich in dem Buch nicht, aber darauf liegt ja auch nicht der Fokus.

Zu etwas ernsthafteren wissenschaftlichen Fragen zurück:
Dass man die Hominini (Menschen im weiteren Sinne) noch in verschiedene Gattungen unterteilt, erscheint mir dann doch ein wenig kleinkariert. Gibt es denn überhaupt harte Fakten, nach denen eine Unterteilung in Arten vorgenommen werden kann? Arten scheinen ja durchaus belastbarere Definitionen zu besitzen als Gattungen, Triben und Familien. Inwieweit gehören die verschiedenen Menschenarten, die wir kennen, wirklich abgegrenzten Populationen an, die entweder ausgestorben sind oder sich schnell zu einer anderen Art weiterentwickelt haben? Waren sie gegenseitig fortpflanzungsfähig? Inwieweit gab es kontinuierliche Evolution, die eine Arteinteilung willkürlich macht? Bei Neandertaler und Homo Sapiens ist die klare Unterscheidung der Populationen und das Ausgestorbensein gegeben; aber ob der (mehr oder weniger) nachgewiesene Mangel an "interspezialer" Vermehrung auf genetischer Inkompatibilität oder bloß auf gegenseitiger Abneigung beruhte?

Daneben ist wohl das Eindimensionale einer Zahl wie 98,6% wohl deutlich problematisch. Hier findet sich eine differenziertere Diskussion (auch wenn ich sie mir noch nicht ganz zu Gemüte gefüht habe).

Maglor
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Fr 25. Jan 2013, 19:35 - Beitrag #3

Üblicherweise werden zwei Schimpansen unterschieden: Gemeiner Schimpanse und Bonobo.

Die Unterscheidung der sogenannten Gattung würde ich eher semantisch als Menschenwerk betrachten. Das traditionelle System basiert nicht auf genetischer Verwandtschaft der Arten, sondern aufgrund der morphologischen Eigenschaften (Phänotyp). Die meisten Gattungen gehen noch auf Linné zurück.

Die genetische Ähnlichkeit halte ich für vergleichsweise unbedeutsam. Mittlerweile ist bekannt, dass ein ein großer Teil des Genoms aus bedeutungslosem Schrott besteht. Der Phänotyp wird vielmehr durch die unterschiedliche Gen-Regulation.
So kommt es auch, dass phänotypisch so unterschiedliche Arten wie Schimpanse und Mensch genetisch nahezu identisch sein können. Das umgekehrte Phänomen findet sich beim Orang Utan. Er unterscheidet sich im Aussehen und der Lebensweise eher unwesentlich von Gorilla und Schimpanse, ist aber genetisch schon ziemlich weit entfernt. Ursache ist sicherlich vor allem die geografische Isolierung, die die wesentliche Triebfeder bei der Entstehung von Arten, Gattung etc. ist.

Zum Menschen:
Bei der Abgrenzung Mensch und Nicht-Mensch bzw. Vormensch, Affe etc. galten physische oder genetische Merkmale als nicht so wesentlich. Wichtig in der Argumentation sind vor allem Werkzeuggebrauch, Sprachbegabung und so genanntes Bewusstsein.
Morphologie war bei der Unterscheidung Mensch und Nicht-Mensch immer ein unwesentliches Merkmal. Markantes Beispiel dafür ist Homo habilis. Lange wurde geglaubt, er habe die ersten Steinwerkzeuge hergestellt, daher galt lange Zeit er als ältester Angehörige der Gattung Homo. Vom Knochenbau unterschied er sich nur unwesentlich von diversen Australopiticinen.

Problem paläontologischer Artbegriff:
Die Paläontolgen benutzt einen ganzen anderen Art- und Gattungsbegriff als die Biologen. Diesem Problem sind sich nur wenige bewusst.
Paläontologen bestimmen in der Regel nur nach der Morphologie (bzw. ausschließlich nach dem Knochenbau) den Artbegriff. Moderner Mensch und Neanderthaler sind unterschiedlich, ob sie sich vermischten ist nach wie vor umstritten, aber das spielte eigentlich auch nie eine wesentliche Rolle.
Wichtig bei der Unterscheidung der Arten und Gattung ist auch die Lage im Sediment. Unterschiedlich alte Fossilien werden unterschiedlich bewertet. Da gibt es dann auch einmal Cro-Magnon-Menschen hier und Homo sapiens spät.
Bei lebenden Arten steht hingegen die Populationsgenetik im Vordergrund. Tiere, die in freier Wildbahn vertilen Nachwuchs zeigen, d. h. ein und die selbe Population bilden, gehören zu einer Art. Hier spielen auch die Gene die wesentlich Rolle. Geografisch isolierte Populationen sind auch genetisch isoliert. Das führt auch zum Phänomen der Inselaffen. Die auf indonesischen Inseln isolierten Gibbon- und Orang-Utan-Populationen werden mittlerweile als eigenständige Arten betrachtet. Wesentliche morphologische Unterschiede fehlen.
In 2 Millionen Jahren oder 2 Jahrhunderten (wenn der Orang Utan ausgerottet ist) werden Paläontologien die Knochen vermessen und die ausgestopften Bälge auswerten und feststellen, dass es sich nur um eine Art handelt. :rolleyes:

Kurz und knapp: Die Systematik basiert im wesentlichen auf Willkür und die Systematik der Jetztzeit-Biologie und der Paläontologie ist aufgrund der unterschiedlichen Methodik weitgehend inkompatibel.

Ipsissimus
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Sa 26. Jan 2013, 13:31 - Beitrag #4

na ja, und zu 70 Prozent sind Menschen auch Schweine, jedenfalls genetisch^^

kann es sein, dass in den Darlegungen die Begriffe "Gattung" und "Art" (Spezies) etwas durcheinander geraten sind? Eine Gattung umfasst mehrere Arten, die (Kriterium 1) auf einen gemeinsamen Vorgänger zurück geführt werden können und die (Kriterium 2) untereinander mehr morphologische Ähnlichkeiten zeigen, als zu allen anderen Gattungen und Arten. Von daher würde ich den Menschen als eine dritte Art Schimpansen sehen, innerhalb der Gattung "schimpansenartige Menschenaffen". Da man uns aber auch als weitere Art von Gorilla oder weitere Art von Orang Untan auffassen kann, zeigt sich die relative Willkür von Gattungszuweisungen, solange man den gemeinsamen Vorfahren nicht kennt und die Zuweisung hauptsächlich anhand der morphologischen Kriterien erfolgt. Unkritisch scheint nur die Feststellung, dass wir mit den Menschenaffen eine gemeinsame Familie bilden.

Traitor
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So 27. Jan 2013, 13:30 - Beitrag #5

@Padreic: Mir ist auch nicht ganz klar, ob Gattung, Tribus, Familie usw. in einer kladistischen Systematik überhaupt noch einen tieferen Sinn haben oder nur noch als Bequemlichkeit und Popularisierungshilfe relativ willkürlich als Klammern um verwandte Kladen eingefügt werden. Dass Menschen enger mit Schimpansen verwandt sind als beide mit Gorillas und wiederum die drei enger miteinander als mit Orangs und allen anderen Vettern, scheint aber auf jeden Fall eindeutig zu sein. In der Öffentlichkeit könnte durchaus noch ein Bild "Orangs; Gorillas und Schimpansen; Menschen" vorherrschen, daher ist Diamonds etwas unsauber-überspitzte Formulierung vermutlich sogar hilfreich. Formell retten könnte man sie sogar, indem man die Schimpansen-und-Menschen-Klade (in klassischer Nomenklatur wohl eine Unterunterfamilie oder ein Übertribus...?) einseitig nach Schimpansen benennt. Obwohl, nein, er spricht explizit von einer "dritten Art", oder? Naja, aber ich sehe ein, worauf er hinauswill.
Wiki-aside: "Panini" ist übrigens ein echt alberner Tribus-Name, klingt so brotig. ;)

Ich frage mich ebenfalls, inwiefern sich die Biologie/Paläontologie schon ernsthaft mit der Frage auseinandergesetzt hat, wie sich Systematik im Zeitfluss aufrechterhalten lässt. Sowohl das klassische als auch noch das moderne kladistische System scheinen zeitlich instantane oder zumindest nur für kurze Zeit "belichtete" Schnappschüsse von Populationen vorauszusetzen. Sowohl für die quasi-instantane Gegenwart als auch für die ferne Vergangenheit (Dinosaurier etc.) mit ihren großen Unsicherheiten und spärlichen Funden funktioniert das ganz gut, aber für die junge Vergangenheit, beispielsweise die menschliche Stammesgeschichte, hat man ja durchaus den Fall, dass Artlebensdauern und Veränderungszeitschritte ähnlich groß sind.

Wiederum auf die Menschen(ähnlichen) bezogen, ist aber auch eindeutig, das über den Entwicklungszeitraum [Schimpanse-Mensch-Aufspaltung,Gegenwart] so viel morphologische und genetische Entwicklung vorliegt, dass dies im Vergleich zur Gegenwartsbiologie mehreren Arten und Gattungen entsprechen muss. Irgendwo muss man die dann auch einziehen.

Vielleicht wäre es ja ein hilfreiches System, Arten mit "Fehlerbalken" anzugeben, also statt des Erstfundes ein zeitlich wie morphologisch (und, wo machbar, wie genetisch) möglichst zentrales Typusexemplar zu finden und dann weitere Exemplare als "im 2-Sigma-Außenbereich von Homo erectus" zu katalogisieren. Natürlich könnten sich dann zwei Arten auch überschneiden. (Vielleicht wird es in der Fachliteratur sogar schon ähnlich praktiziert?)

@Maglor: Die genetische Ähnlichkeit ist durchaus entscheidend, nur sind die gerne zitierten Prozentzahlen wenig aussagekräftig. Tatsächlich wird in genetisch-phyologenetischen Studien keine solche numerische Gesamtähnlichkeit ausgezählt, sondern es werden die Variationen in Schlüsselgenen katalogisiert und sortiert.

Der Unterschied zwischen Paläontologie und Gegenwartsbiologie ist nur ein methodischer, kein konzeptioneller, bedingt durch die unterschiedlichen Datenlagen. Aber schon lange werden auch morphologische Fossilienstudien für die Klassifikation lebender Arten eingesetzt. Und umgekehrt gibt es schon ein paar genetische Studien über ausgestorbene Arten - natürlich nur für relativ rezente, damit aber gerade auch in der uns hier interessierenden Paläoanthropologie. (Zur Problematik der Abgrenzung im Zeitkontinuum s.o., aber praktisch gesehen leben sie mit der "Schnappschuss-Methode" bisher ganz gut.)

Deren drittes, sie von sonstiger Paläontologie unterscheidendes Standbein, die Archäologie und Kulturgeschichte, macht die Sache tatsächlich nochmal komplizierter, da wird in den letzten Jahrzehnten aber auch deutlich weniger naiv mit umgegangen als früher. Es ist halt nur ein Forschungsgebiet im Fluss, die Einstufung von habilis und rudolfensis als Homo oder Australopithecus oder als Extra-Gattung ist z.B. aktiv in Diskussion.

Das ist aber ein evolutionär deutlich später angesiedeltes Kampfgebiet als die Schimpansen-Mensch-Frage, für die die Fundsituation schlechter ist, man sich aber immerhin nicht mit Kulturgedöns auseinandersetzen muss, sondern reine Phylogenetik betreiben kann.

@Ipsissimus: Deine beiden Kriterien beziehen sich nicht konkret auf die Hierarchiestufe "Gattung", sondern auf jede hierarchische Stufe oberhalb der Art. Kriterium 2 ist dabei das alte, Kriterium 1 das moderne kladistische (s.o.), für das Morphologie, Genetik und Fossilienlage alle nur noch Zuträger sind.

Maglor
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So 27. Jan 2013, 15:03 - Beitrag #6

Wenn genetische Ähnlichkeit interessant sein sollte, wäre noch folgendes zu beachten: Es gibt eine geringere Ähnlichkeit zwischen dem Genom von Mann und Frau, als zwischen dem Genom eines männlichen Schimpansen und eines Mann bzw. einer einer Schimpansin und einer Frau. :crazy:

Zum fehlenden Zusammenhang zwischen morphologischer und genetischer Vielfalt verweise ich auf den Haushund. Hier herrscht genetische Einfalt. Wildlebende Wölfe unterscheiden sich genetisch meist stärker von einander als die Haushunde unterschiedlicher Rassen. Die jeweiligen Haushunderassen weisen oberflächlich betrachtet sehr starke morphologische Unterschiede auf.

Ein ähnliches Phänomen des fehlenden Zusammenhangs zwischen morphologischer und genetischer Systematik gibt es auch beim Menschen.
Innerhalb Afrikas gibt es eine große genetische Vielfalt. Europäer, Asiaten und australische und amerikanische Ureinwohner unterscheiden sich genetisch nur geringfügig. Die genetischen Unterschiede zwischen Angehörigen eines zentralafrikanischen Volkes sind oftmals größer, als die zwischen Europäern und Aborigines.

Was eine Gattung ist, ist ziemlich willkürlich. Als Beispiele habe ich mal nur Säugetiere gewählt.
Nehmen wird z. B. die Gattung der eigentlichen Rinder. Alle Angehörigen - Ur,- Yak, Gaur, Bali-Rind - der Gattung sind miteinander kreuzbar, wobei fruchtbare Nachkommen entstehen.
Zum Vergleich kann man noch die eigentliche Großkatzen (Panthera) - Löwe, Tiger, Leopard, Schneeleopard - nehmen. Alle Angehörigen der Gattung sind kreuzbar, die Hybriden sind unfruchtbar.
Zur Gattung der Waschbären gehören 3 Arten.
Paradebeispiel zur willkürliche Systematik bleibt natürlich das Flusspferd.

Traitor
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So 27. Jan 2013, 15:25 - Beitrag #7

Wie gesagt, "genetische Ähnlichkeit" muss sehr differenziert betrachtet werden. Eine Gesamtzahl sagt wenig bis nichts aus; Einzelgenanalysen können sehr aussagekräftig sein, oder auch nicht; erst mehrere sauber kombinierte Einzelanalysen mit tiefergehendem Verständnis, wie sich diese Gene veränderten, ob und wie das miteinander und mit morphologischen Änderungen korrelierte, ergeben eine relativ aussagekräftige Klassifikation.

Hunde sind ein Beispiel für "naive Morphologie", auch ohne Genetik dürfte man erkennen können, dass da zwischen den Rassen hauptsächlich gestreckt und gestaucht wird, aber wenige echte Merkmalsunterschiede vorliegen.

Ähnlich bei Menschen"rassen", Phrenologie und co. erfüllen nicht die Ansprüche an sinnvolle morphologische Kriterien.

Dass Tocherpopulationen fast immer eine geringere genetische Diversität haben als Mutterpopulationen, ist logisch, zumindest, wenn die Töchter noch nicht genug Zeit hatten, sich wieder hinreichend aufzufächern. Aber auch sehr davon abhängig, was man zählt, denn bei eher stabilen Genvarianten bleibt der Diversitätsverlust lange bis ewig erhalten, bei relativ schnell fluktuierenden kann er sich auch schnell wieder ausgleichen.

Die Kreuzbarkeit erscheint zwar als schön binäres Kriterium für Gleichartigkeit, wird in der Praxis aber eher nur als "wenn nicht kreuzbar, dann verschiedene Art" angewandt und nicht umgekehrt, da die Zwischenstufen mit fruchtbaren oder unfruchtbaren oder teilfruchtbaren Nachkommen, natürlicher oder nichtnatürlicher Kreuzung bei geteiltem oder nichtgeteiltem Lebensraum usw. zu konfus sind. Daher ist es durchaus nachvollziehbar, dass morphologisch und/oder genetisch klar trennbare, wenn auch eng verwandte Populationen, die sich kreuzen könn(t)en, dies aber üblicherweise nicht tun, nur als eine Gattung, nicht als eine Art, klassifiziert werden.

Diese Darstellung zu den Flusspferden ist doch ein recht schönes Beispiel dafür, wie Genetik und tiefergehende Morphologie die alte Einstufung anhand eher naiver Morphologie verbessern konnten.

Maglor
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So 27. Jan 2013, 17:04 - Beitrag #8

Das Problem ist, dass morphologische Unterschiede in relativ kurzer Zeit sprunghaft entstehen können, während sich das Genom als ganzes nur langsam, dafür aber stetig (wenn nicht sogar regelmäßig) vergleichsweise verändert.
Das Genom besteht aus Extrons und Introns. Bei den Exons handelt es sich jedoch genetische Altlasten, die nicht mehr angewendet werden. Im Grunde ist es Datenschrott, bestehend aus Viren-DNS und eben alten Genen, der Synthese durch Genregulation gehemmt werden. ca. 45 % des menschlichen Genoms besteht aus derartigem Material, dass praktisch keinerlei Wirkung auf den Phänotyp hat. Bei der Feststellung der Ähnlichkeit des Genoms wird diese Erbinformation natürlich weiterhin berücksichtigt.

Den Menschen trennen wichtige morphologische Merkmale von den anderen Menschenaffen, z. B. aufrechter Gang, Gebiss, Daumen ...
Der Mensch bzw. seine Vorfahren mögen sich erst vergleichsweise spät von den Schimpansen - besser dessen Vorfahren - getrennt haben, ihre morphologischen Mermale sind jedoch grundlegend anders als die übrigen noch lebenden Menschenaffen.
Wahrscheinlich sind es nur ganz wenige Gene, die den Phänotyp des Menschen ausmachen und ein Großteil der morphologischen Besonderheiten beruht auf Genregulation.

Umgekehrt beruht die vergleichsweise weite genetische Entfernung von Orang Utan und Schimpansen vor allem auf der geografischen Trennung und der aus 15 - 20 Millionen Jahre langer Trennung afrikanischer und asiatischer Menschenaffen folgende genetische Auseinanderentwicklung. Dass die asiatische Linie trotz der genetischen Veränderung morphologisch kaum innovativ war bzw. alle innovativen asiatischen Menschenaffen ausgestorben sind, ist eben so passiert.

e-noon
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So 27. Jan 2013, 17:17 - Beitrag #9

Das irritierende am Flusspferd ist, dass es das Pferd im Namen hat, wie ein großes Schweinchen aussieht, und die einzelnen Mitglieder -kuh, -bulle und -kalb heißen.

Maglor
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So 27. Jan 2013, 17:26 - Beitrag #10

Die Bezeichnungen Flusspferdbulle, -kuh und -kalb deuten sicherlich auf die enge Verwandtschaft mit den Walen hin. :crazy:

Traitor
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So 3. Feb 2013, 15:52 - Beitrag #11

Auch das Genom kann sich durchaus schnell und sprunghaft anpassen. Und der vermeintliche "Datenschrott" wird inzwischen durchaus aufmerksamer untersucht. Gleichzeitig gibt es charakteristische morphologische Merkmale, die sehr viel beständiger sind als die offensichtlicheren. Man muss schon alle Aspekte gemeinsam untersuchen.

Was verstehst du unter "morphologisch innovativ"? Orang-Utans haben doch durchaus einmalige Eigenschaften.

Maglor
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So 3. Feb 2013, 18:14 - Beitrag #12

Mit "morphologisch innovativ" meine ich, dass eine Spezies sich stark bzw. wesentlich von einem Grundmodell abweicht.
Als innovativ würde ich z. B. die riesenhaften, bambusfressenden Menschenaffen (Gigantopithecus) bezeichnen, die leider schon lange ausgestorben sind. Aber wahrscheinlich ist bei denen auch nur die Größe beeindruckend, ggf. noch die Verdauung.
Vom Grundtypus baumbewohner, fruchtfressender Menschenaffen weicht der Orang Utan eben nicht ab. Der Mensch hingegen in nahezu jeglicher Hinsicht.

Die Populationen auf Sumatra und Borneo sind seit 400.000 Jahren getrennt. Genetisch gibt es zwei Arten von Orang Utans. Trotzdem gleicht ein Inselaffe dem anderen.
Vor 400.000 Jahren gab es noch keinen Homo sapiens, nicht einmal Neanderthaler.

Traitor
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So 3. Feb 2013, 18:59 - Beitrag #13

Die Diversifikation zwischen Gorilla-Mensch-Schimpanse einerseits und Orang andererseits ist schon ziemlich groß. Ob der gemeinsame Vorfahre wirklich ein reiner Baumaffe à la Orang war, eher ein Bodenbewohner oder eine Mischung, dafür ist die Fundlage unzureichend, oder? Die Verwandtschaft mit den Gibbons deutet natürlich schon auf Bäume hin, und viele Arten aus der Entstehungszeit der Menschenaffen scheinen auch diesem Muster zu folgen, andere recht basale wie Oreopithecus aber wiederum doch nicht. Da sowohl der anatomische Grundbauplan der ganzen Familie als auch die geistigen Kapazitäten eine hohe Flexibilität aufweisen, kann vermutlich davon ausgegangen werden, dass alle Zweige immer mal wieder von den Bäumen runter und wieder drauf kletterten, je nach klimatischen Bedingungen. Aber damit bin ich endgültig bei wilder Laienspekulation angekommen. ;)


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