Normalität und Psychiatrie

Von der Genetik bis zur Quantenphysik, von der Atomkraft bis zur Künstlichen Intelligenz. Das weite Feld der modernen Naturwissenschaften und ihrer faszinierenden Entdeckungen und Anwendungen.
Ipsissimus
Dämmerung
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Mo 15. Apr 2013, 09:23 - Beitrag #1

Normalität und Psychiatrie

http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/normal-von-allen-frances-beichte-eines-psychiater-papstes-a-893739.html

das Thema hat wissenschaftliche, philosophische, gesellschaftspolitische und soziologische Aspekte. Der geneigte Moderator möge es also verschieben, wohin es ihm geeignet erscheint.

Je weiter die Psychiatrie voranschreitet, desto weniger Normale bleiben übrig. Einer Studie zufolge erfüllen schon mehr als achtzig Prozent der jungen Erwachsenen die Kriterien für eine psychische Störung. Das sei irre, sagt der US-amerikanische Psychiater Allen Frances. "Die diagnostische Inflation hat dafür gesorgt, dass ein absurd hoher Anteil unserer Bevölkerung heutzutage auf Antidepressiva, Neuroleptika, Anxiolytika, auf Schlaf- und Schmerzmittel angewiesen ist", schreibt er in seinem soeben erschienenen Buch "Normal - Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen".

[...]

Das DSM bestimmt, wo die Grenze zwischen normal und gesund verläuft. Und das ist eine Grenze, die bisher mit jeder neuen Ausgabe des DSM in den Bereich des Normalen verschoben wurde. Frances hatte an der dritten Auflage (DSM-III) mitgewirkt und war Vorsitzender der Kommission, die die derzeit noch gültige vierte Auflage (DSM-IV) earbeitet hat. In diesem Zeitraum ist die Anzahl der verschiedenen Diagnosen von 182 auf 297 gestiegen. Diese Epidemie der Seelenleiden sei dem Fortschritt der Psychiatrie geschuldet, hieß es immer. Je genauer man forsche, desto mehr Krankheiten entdecke man.

Aus Schüchternheit wird Phobie

Nun aber räumt Insider Frances mit diesem Märchen auf. In Wahrheit seien psychische Störungen aus "praktischer Notwendigkeit, Zufall, allmählicher Verwurzelung, Präzedenz und Trägheit" in das DSM gelangt. "Kein Wunder also", so Frances, "dass die Störungen nach dem DSM ein ziemliches Sammelsurium ohne innere Logik sind und sich teilweise gegenseitig ausschließen."

Als Beispiel beschreibt Frances, wie er und seine Mitstreiter die banale Schüchternheit in die "soziale Phobie" verwandelt haben, heute die dritthäufigste psychische Störung. ...


wer damit zu tun hatte, hat es schon lange geahnt

Anaeyon
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Mo 15. Apr 2013, 18:51 - Beitrag #2

Ich würde meine Schüchternheit durchaus als eine "Störung" beschreiben, wenn ich mir anschaue, wie viele Dinge im Leben (die erheblichen Einfluss auf die Glücklichkeit haben) extrovertierten Menschen einfacher fällt. Sicherlich trägt sie umgekehrt auch dazu bei, Stärken anderswo zu suchen, zu erkennen und zu fördern, aber als "banal" würde ich es nicht beschreiben, auch nicht lediglich als Charakterzug.

Abstreiten möchte ich das, was im Artikel steht, ansonsten aber kaum. Ich war an einen Artikel aus der Zeit erinnert, den wir im Unterricht besprochen haben. Wenn solche Dinge zusammenkommen, macht es Solidargemeinschaften kaputt? Verstärkt es den Druck, einer sozialen Norm zu entsprechen, der eh schon kaum jemand entspricht? Gibt es irgendwann Denunziantentum á la "Der Herr XY sah die letzten Wochen aber nicht sehr glücklich aus,.."?

Besonders tragisch finde ich es bei Kindern, deren Eltern aus Unwissenheit der erstbesten Diagnose zustimmen und ihre Kinder mit Psychopharmaka aus einer normalen Entwicklung herausreißen. Hatte zwei Klassenkameraden auf Ritalin, die sich nicht im geringsten von den anderen unterschieden haben, bis auf den Hausarzt warscheinlich.

Ich selbst war mal für drei Gratis-Stunden bei einem Psychotherapeuten. Habe relativ frei geredet. Keine Anamnese, kein System und nichtmal genug Zeit gehabt, um meine Situation halbwegs komplett zu Schildern, da hieß es schon "Ich schlage vor wir fangen mit einer XY-Therapie an", was meinem Vertrauen in die Psychotherapie leider stark geschadet hat. Bin dann auch nicht mehr hingegangen. Ein paar Jahre später rede ich mit einer Freundin, welche Psychologie studiert, darüber, sie sagt ein paar kurze Sätze und hat mir damit mehr geholfen als ich mir selbst in mehreren Jahren helfen konnte..
Natürlich ein Einzelfall, aber vielleicht auch nicht. ^^ Vielleicht bekommt man die bessere Diagnose, wenn von Anfang an klar ist, dass man mit dem Patienten kein Geld verdienen kann Bild

Feuerkopf
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Mi 17. Apr 2013, 11:20 - Beitrag #3

Seit nunmehr acht Jahren arbeite ich bei der Telefonseelsorge. Allgemein würde ich sagen, dass jeder von uns mal Episoden in seinem Leben hat, die die Psyche sehr belasten.
"Richtige" Auffälligkeiten sind ein ganz anderes Kaliber! Es wird geschätzt, dass etwa 20 % der Anrufer bei der TS in entsprechender Behandlung sind und das entspricht in etwa meiner Erfahrung.
Wenn ein Mensch anfängt, unter seiner Andersartigkeit zu leiden, dann stimmt wirklich was nicht. Wahnvorstellungen oder heftige Ängste beeinträchtigen massiv das Leben. Auch Folgen von Traumatisierungen belasten viele Menschen so sehr, dass ihr Leben ihnen nicht mehr lebenswert erscheint.
Vielleicht hätte man in dem Artikel mal einen Psychologen zu Wort kommen lassen sollen. Die dürfen gar keine Medikamente verschreiben und stehen einfachen Lösungen eher skeptisch gegenüber. Ein seelischer Schaden hat normalerweise seine Geschichte, die angeschaut werden will und die ihr Recht fordert. Das ist unbequem und dauert auch seine Zeit.
Da wir biochemisch funktionierende Wesen sind, ist es doch kein Wunder, dass man z. B. auch herausfindet, welche Botenstoffe verrückt spielen und dergleichen.
Medikamente pauschal zu verdammen, halte ich für kontraproduktiv, denn es gibt durchaus Mittel, die sehr hilfreich sind, zumal es ja auch psychische Probleme gibt, die durch Fehlsteuerungen im Körpersystem entstehen können.
(Ich sach nur: Schilddrüse! :rolleyes: )

Ipsissimus
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Fr 19. Apr 2013, 11:16 - Beitrag #4

das Verhältnis zwischen Psychologen und Psychiatern ist durchaus kompliziert^^ und seit die Neurologen ein Wörtchen mitreden, ist es nicht einfacher geworden, den richtigen Therapeuten zu finden^^ insgesamt denke ich allerdings, dass die Anwendungsbereiche der drei Disziplinen doch komplementär zueinander stehen, auch wenn immer wieder mal gern auf dem Markt der andern gewildert wird^^

Was Frances da berichtet, entspricht meinem Eindruck, dass es (auch) in diesen Bereichen der Medizin immer weniger um das Befinden der Patienten geht, als um die schnellstmögliche Wiederherstellung ihrer Funktionsfähigkeit. Da die Funktionsfähigkeit nicht nur von echten, klinischen Erkrankungen in Frage gestellt wird, liegt es auf der Hand, Befindlichkeitsstörungen zu klinischen Krankheitsbildern aufzuwerten, es ist eben einfacher, sie mit Pillen zu erschlagen, statt sich intensiv mit den Patienten zu beschäftigen. Das liegt auf einer Linie mit dem massiven Anstieg von ADHS und verwandten Diagnosen, bei denen es auch einfacher ist, die Kinder ruhig zu stellen, statt sich mit ihnen zu beschäftigen.

janw
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Fr 19. Apr 2013, 21:56 - Beitrag #5

Feuerkopf, das Problem scheint mir aber zu sein, daß es bei der Zuweisung eines Menschen zu einem Psychologen, Psychiater oder Neurologen systematisch hakt, und das im doppelten Sinne:
Sie erfolgt, wenn ich es richtig sehe, allzu oft durch Allgemeinmediziner, selbst medikamentenzentriert, die daraufhin eher zu dem überweisen, der im Sinne "harter Fakten" schnelle Befreiung von den Beschwerden verspricht, zum Neurologen.
Die Tatsache, daß es für fast jede durchbrechende Regung der Psyche einen Terminus im DSM gibt, macht dies umso leichter, auch wenn in Wirklichkeit der Psyche zuzuhören der richtigere Weg wäre.

Maglor
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Mi 1. Mai 2013, 16:03 - Beitrag #6

Die Psychiatrie hat durchaus Fortschritte gemacht. Gerade die schwersten psychischen Erkrankungen wie paranoide Schizophrenie sind mit Medikamenten immerhin so weit behandelbar, dass die Betroffenen ein fast ganz normales Leben führen können - zumindest so normal das eine dauerhafte Unterbringung nicht mehr notwendig sind. Besonders deutlich erkennbar sind die Erfolge der Psychiatrie an der sinkenden Suizidrate. Die Lebenserwartung psychische Kranker steigt also.
Längere Behandlungszeiten sind da auch gar nicht mehr vorgesehen - auch nicht von der Krankenkasse. Es bleibt bei der Drehtür-Psychiatrie. Wenn die Patienten wieder so eingestellt sind, dass man sie nach außen schicken an, ohne dass sie dabei drauf gehen, schickt man sie eben für ein paar Monate zurück in die Welt.

Sehr hilfreich ist da sicherlich das Konzept der Persönlichkeitsstörung. Bei genauer Betrachtung hat jeder eine oder mehrere und Persönlichkeitsstörung gelten als unheilbar, was in der Natur der Sache liegt. Persönlichkeitsstörungen bedürfen daher einer dauerhaften Behandlung.
Dadurch, dass die wirklich Kranken mit Lithium und Neuroleptika abgestellt werden, haben die Therapeuten nun endlich Zeit sich um die anderen zu kümmern. :crazy:


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