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Das Ende des Ur-Kilogramms

BeitragVerfasst: Fr 16. Nov 2018, 16:57
von Ipsissimus
Die Grundeinheiten des metrischen Systems sollen zukünftig auf Naturkonstanten basieren

Frage adocatus diaboli: Naturkonstanten, die man vorher mit den bisherigen Grundlagen der Einheiten des metrischen Systems ermittelt hat?

BeitragVerfasst: Mi 21. Nov 2018, 01:33
von Traitor
Im Prinzip geht es bei Einheitensystemen nur um eines: unvermeidliche Messfehler dorthin schieben, wo sie am wenigsten Schaden anrichten. Und solange man bei einer Neudefinition vorher wie nachher gleich viele "exakt definierte" Größen hat wie vorher, hat man nichts unter den Tisch gekehrt.


Nehmen wir mal vereinfacht ein quasi-leeres Universum an, pure Raumzeit ohne jede Materie und Felder, außer einem platonischen masselosen Physiker, zwei platonischen masselosen Markierungsbojen und einem platonischen energielosen Photon. Die gesamte Physik ist also in Abständen, Zeitdauern und Geschwindigkeiten enthalten, kein Bedarf an Kilogramm, Ampere und dem ganzen Kram. ;) Ach ja, ein platonisches Urmaßband, eine platonische Uruhr und ein platonisches Cäsiumatom hat der Physiker noch in der Tasche... Im Notfall lassen wir aber auch Herzschlag und Fuß als Ersatz für Uhr und Maßband gelten. (Eine der [strike]wenigen[/strike] [strike]vielen[/strike] abzählbaren Sachen, die ich an meinem Beruf hasse, ist diese nervige Weigerung von vereinfachten Beispielen, wirklich einfach zu bleiben.)

Er/sie misst also den einen Abstand zwischen den Bojen in Einheiten von Urmaßbandmetern, und die entsprechende Lichtlaufzeit in Uruhrsekunden. Das Verhältnis wird als Naturkonstante Lichtgeschwindigkeit definiert. Die Maßeinheiten sind per Definition exakte Werte, alle per Vergleich mit den Referenzen gemessenen Abstände und Zeitdauern haben dagegen Messfehler, ebenso die aus zwei Messgrößen berechnete Lichtgeschwindigkeit.

Allein im Universum ist dem Physiker langweilig, also muss ein neues Einheitensystem her. Ab jetzt wird alles in Doppelmetern und Tripelsekunden gemessen. Kein Problem, konstante Faktoren in allen Strecken und Zeitdauern, Wert der Lichtgeschwindigkeit ändert sich halt auch, aber c = Strecke/Laufzeit gilt immer noch. Urmeter, Ursekunde, Doppelmeter und Tripelsekunde sind alle fehlerfrei per definition, Messgrößen und Die Eine Naturkonstante haben weiterhin Fehler.

Immer noch langweilig, und das Cäsiumatom haben wir ja auch noch. Also schnell dessen Schwingungen in einer Uruhrsekunde gezählt. Das ist eine Messgröße mit Fehlerbalken, weil man sich ja verzählt haben oder schief auf die Uhr geguckt haben könnte. Aber wenn man das Experiment oft genug und genau genug wiederholt (zur Erinnerung, es ist ein sehr langweiliges Universum), kann man sicher sein, dass der Fehler kleiner als +-1 pro Sekunde ist. Dann kann man die Neusekunde als das Vielfache einer Schwingungsdauer definieren, das der Uruhrsekunde am nächsten kommt. Jetzt ist dieses Vielfache die per Definition exakte Größe, aber der kleine verbliebene Fehlerbalken wird auf die neue Messgröße "die Zeitdauer zwischen zwei Ticks der Uruhr" verschoben. Wird der Urmeter erstmal in Ruhe gelassen, bleiben Abstände und Lichtgeschwindigkeit fehlerbehaftete Messgrößen.

Schon weniger langweilig für einen ambitionierten Physiker, aber asymmetrisch zwischen Raum und Zeit, Frevelei! Also muss auch der Meter umdefiniert werden. Da das Cäsiumatom keinen gut messbaren fundamentalen Abstand anbietet, ergreift man lieber eine rein mathematische Maßnahme und verschiebt ganz ohne Neumessung per Hand den Fehlerbalken: bisher galt das Maßband als perfekt, der Bojenabstand und die Lichtgeschwindigkeit als fehlerbehaftet. Das gleiche Gesamtfehlerbudget bleibt erhalten, wenn wir der Lichtgeschwindigkeit einen festen Wert zuweisen aber sowohl den Bojenabstand als auch die Maßbandlänge als ein fehlerbehaftetes Vielfaches (bzw. einen Bruchteil) der in einer Neusekunde zurückgelegten Strecke betrachten.




Zum Ur-Kilogramm: Ist halt auch so eine verbliebene asymmetrische Frevelei, dass der Klotz in Paris immer noch seine Sonderrolle hat. Sehr, sehr schön, dass es da nach langen Vorbereitungen Einigkeit für die Reform gibt.

BeitragVerfasst: Fr 23. Nov 2018, 08:40
von Ipsissimus
Zitat von Traitor:Urmeter, Ursekunde, Doppelmeter und Tripelsekunde sind alle fehlerfrei per definition


klingt jetzt irgendwie komisch^^ Fehlerfreiheit bei einem "sie sind halt, wie sie sind" scheint mir eine Genauigkeit zu suggerieren, wo es eigentlich nur um eine Setzung geht^^

Allein im Universum ist dem Physiker langweilig, also muss ein neues Einheitensystem her.


Also ich würde ja, wenn mir langweilig wäre, so allein im Universum, kein neues Einheitensystem schaffen, sondern Gefährten und Gefährtinnen :-) gut zu wissen, dass das bei Physikern anders ist^^

Okay, ich verstehe, man hat lieber fehlerbehaftete Messwerte als fehlerbehaftete Grundeinheiten. Die Vorstellung fehlerbehafteter Grundeinheiten halte ich allerdings für absurd, - wer wird schon wirklich sagen, v-mess ist exakt 300 km/s bei einer Kilometerlänge von 1km = 1000,002 Urm und einer Sekundendauer von 1,000000753 Urs, und die Kilometerlänge und Sekundendauer jedesmal neu anders festlegen, damit v-mess auch immer schön 300 km/s bleibt, dabei aber wiederum konstante Urm und Urs voraussetzen, weil m und s ja irgendwie auf irgendwas kalibriert sein müssen, um die Exaktheit der Messung vorzutäuschen? :crazy: Physiker^^

BeitragVerfasst: Mo 26. Nov 2018, 08:27
von Ipsissimus
ich versuche es nochmal anders, anscheinend konnte ich mich nicht verständlich machen^^

irgendwann muss mal festgelegt worden sein "wir wollen, dass eine Sekunde genau so lang ist, dass 60 × 60 × 24 einen Tag ergibt, weil der Tag das einzige irdische Zeitmaß ist, auf das wir jederzeit ohne Hilfsmittel zurückgreifen können". Das ist die fundamentale Definition von "Sekunde", wobei sie nicht ganz richtig ist, statt "24" müsste da eine leicht abweichende Zahl stehen. Nachdem man die Sekunde auf diese Weise festgelegt hat, kann man im nächsten Schritt - sobald die technischen Mittel zur Verfügung stehen - fragen, wie oft dann ein Cäsiumatom schwingen muss, damit genau diese Zeitdauer abgedeckt ist. Und wenn das feststeht, kann man diese Angabe als neue Referenzdefinition verwenden.

Aber was macht man, wenn sich durchsetzt, was vor einigen Jahren mal ernsthaft diskutiert wurde, nämlich eine Reformation des grundlegenden Zeitsystems, bei der 100 × 100 × 10 einen Tag ergeben sollte? Dann muss das Maß, die Dauer der Sekunde selbst verändert werden, weil dann 100k Sekunden in einen Tag passen müssen, nicht wie bisher 86400, die Sekunde würde also kürzer werden. Erst das wäre in meinen Augen eine Neudefinition. Die neue cäsiumbasierte Definition ist nur eine Umformulierung der alten Definition.

BeitragVerfasst: Sa 1. Dez 2018, 14:21
von Traitor
anscheinend konnte ich mich nicht verständlich machen^^
Nö, ich konnte mich nur nicht ans Antworten erinnern. ;)

klingt jetzt irgendwie komisch^^ Fehlerfreiheit bei einem "sie sind halt, wie sie sind" scheint mir eine Genauigkeit zu suggerieren, wo es eigentlich nur um eine Setzung geht^^
Das ist halt der Unterschied zwischen einer rein auf Zahlenfaktoren basierenden Definition und einer Messvorschrift. Ersteres ist reine Mathematik/Juristerei, letzteres beinhaltet erst die ungenaue Realität. Jede praktisch verwendete Größe hat immer einen (wenn auch nicht unbedingt bekannten) Messfehler; in der Praxis benutzen wir niemals platonische Meter, sondern immer nur "etwas, was nah genug an einem Meter dran ist", sei es ein primitiver Zollstock oder eine noch so komplizierte Laserapparatur.

Also ich würde ja, wenn mir langweilig wäre, so allein im Universum, kein neues Einheitensystem schaffen, sondern Gefährten und Gefährtinnen :-) gut zu wissen, dass das bei Physikern anders ist^^
Tja, die Geburtenrate unter Akademikern ist nicht von ungefähr so miserabel. ;)

Die Vorstellung fehlerbehafteter Grundeinheiten halte ich allerdings für absurd, - wer wird schon wirklich sagen, v-mess ist exakt 300 km/s bei einer Kilometerlänge von 1km = 1000,002 Urm und einer Sekundendauer von 1,000000753 Urs, und die Kilometerlänge und Sekundendauer jedesmal neu anders festlegen, damit v-mess auch immer schön 300 km/s bleibt, dabei aber wiederum konstante Urm und Urs voraussetzen, weil m und s ja irgendwie auf irgendwas kalibriert sein müssen, um die Exaktheit der Messung vorzutäuschen?
Solange der Meter-Prototyp noch galt, war der alte Meter per def fehlerfrei. Seit der Meter über die Lichtgeschwindigkeit definiert ist, ist dieser neue Meter per def fehlerfrei. Der Trick ist, dass trotz umgangssprachlicher Äquivalenz beide genau genommen nicht mehr derselbe Meter sind. Das Fehlerbudget steckt im Umrechnungsfaktor. Theoretisch könnte man heutzutage noch Messprotokolle/Artikel schreiben, in denen man eine Strecke als "10+-1 m[alt]" angibt, aber wenn dann die Umrechnung in SI ansteht, würde sich der Fehlerbalken um den (winzigen) Unterschied zwischen "m[alt]" und "m" vergrößern.
Dass diese Umrechnungsfaktorungenauigkeit klein genug wird, um von keiner praktischen Relevanz zu sein, ist die Grundvoraussetzung, um eine Einheitenneudefinition durch die Gremien zu kriegen, und der Grund, dass es beim Kilogramm so lange gedauert hat. Man muss sich sicher sein, dass die neue Referenzmessvorschrift genau genug ist, um mit der alten in winzigen Grenzen übereinzustimmen. Aber ganz genau tut sie es halt nicht.

:crazy: Physiker^^
Metrologen gelten selbst unter Physikern als besonders wunderlich. ;)

Das ist die fundamentale Definition von "Sekunde"
Genaugenommen ist das nur noch eine Etymologie des Wortes "Sekunde". Inzwischen ist die Definition halt andersherum - das folgende paraphrasiert den Rest deines Absatzes nur noch, sollte ihm nirgends widersprechen: eine Zeitdauer, die über jeden normalen Genauigkeitsanspruch hinausgehend der klassischen Sekunde ähnelt, wurde als exakte Sekunde definiert, und der Tag als dem klassischen Tag ähnelndes Vielfaches.

Aber was macht man, wenn sich durchsetzt, was vor einigen Jahren mal ernsthaft diskutiert wurde, nämlich eine Reformation des grundlegenden Zeitsystems, bei der 100 × 100 × 10 einen Tag ergeben sollte? Dann muss das Maß, die Dauer der Sekunde selbst verändert werden, weil dann 100k Sekunden in einen Tag passen müssen, nicht wie bisher 86400, die Sekunde würde also kürzer werden. Erst das wäre in meinen Augen eine Neudefinition. Die neue cäsiumbasierte Definition ist nur eine Umformulierung der alten Definition.
Nein, es ist genau andersherum, der Wechsel von astronomischem Tag zu Cäsium ist eine viel fundamentalere Umstellung. Die Hundertersekunde wäre gegenüber der althergebrachten Sechzigersekunde formell genauso eine neue Einheit wie die SI-Cäsium-Sekunde. Aber faktisch wäre sie eine weniger weitgehende Neudefinition, da einfach nur ein exaktes rechnerisches Vielfaches. Hundertersekunde-Sechzigersekunde verhielte sich genauso wie Kilometer-Meter. Das spannende und schwierige an einer messtechnischen Neudefinition ist wie gesagt, dass man die tatsächliche Messvorschrift so genau machen muss, dass der Unterschied nicht auffällt. Genaugenommen sollte man bei der Gelegenheit halt auch einen neuen Einheitennamen verwenden, und auf höchstem technischen Niveau macht man das auch, indem irgendwo im Kleingedruckten das verwendete Referenzeinheitensystem steht. Aber wenn die neue Messvorschrift genau genug ist, kann man "schummeln" und die alte und neue Einheit in so gut wie jedem Zusammenhang (vom Alltag bis zu 99% der Fachliteratur) einfach austauschen.

BeitragVerfasst: Sa 1. Dez 2018, 16:47
von Ipsissimus
okay, das verstehe ich. Allerdings wirkt es ein bisschen wie ein schlechtes Gewissen der Physiker, weil sie ja anscheinend "schummeln" wollen, also die Identität der alten und der neuen Definition vortäuschen wollen. Eigentlich könnte sie genau so gut sagen, ist uns doch egal, wie lang eine Sekunde in Vielfachen von Cäsiumschwingungen ist. Mit dieser "ähnlichkeitsbasierten" Definition werden sie damit leben müssen, dass ihnen bei jeder Gelegenheit nur um die Ohren geschlagen wird, dass sie die Dauer der Sekunde ja doch an der guten, alten 60×60×24-Definition angelegt haben, und nur nicht imstande waren, das genau genug zu machen = bis zur Identität zu treiben^^ dann hätte man es auch bleiben lassen können, die Messgenauigkeit ist so oder so davon nicht betroffen, bzw. genau genommen, im Sinne des um die Ohren geschlagenen Einwands, ist sie sogar ungenauer geworden^^