Segensreiche Mutationen
Manche Menschen sind immun gegen Aids. Was sie schützt, soll nun ein Medikament werden
Von Ulrich Bahnsen
Die Apokalypse traf Europa in grauer Vorzeit. Eine Seuche unerhörten Ausmaßes zog über den Kontinent. Nur wenige Menschen, meint der US-Genetiker Steve O'Brian, hätten dem mysteriösen Krankheitserreger trotzen können, der vor rund 4300 Jahren ein Massensterben auslöste - neun von zehn Infizierten müssen ihm damals zum Opfer gefallen sein. "Ein verheerendes Ereignis", resümiert der Forscher, doch es habe einigen wenigen Menschen einen "dramatischenÜberlebensvorteil verschafft". Infolge eines Fehlers im Gen CCR5 seien diese Glückspilze gegen den Erreger resistent gewesen und hätten sich ungestört von der Katastrophe fortpflanzen können. Ihren Kindern reichten die Glücklichen wohl auch ihre Abwehrwaffe gegen die Infektion weiter, jenes Gen, das sie vor dem Seuchentod gerettet hatte. In den nächsten Generationen habe sich der segensreiche Genfehler daher schnell verbreitet.
Einer ihrer Nachfahren klopfte Jahrtausende später bei dem amerikanischen Aids-Forscher Richard Koup an die Labortür und brachte eine reichlich ungewöhnliche Frage vor: "Können Sie mir sagen, warum ich kein Aids habe?" Jahrelang habe er mit seinem HIV-infizierten Freund ungeschützten Sex gehabt, versicherte Steve Crohn dem verdatterten Forscher. Sein Freund war inzwischen an Aids gestorben, in Crohns Blut hingegen fand sich von dem Virus keine Spur.
Der Grund für die unerwartete Widerstandskraft mancher Menschen blieb nicht lang verborgen. Bald präsentierten Koups Forscherteam und das seines belgischen Kollegen Marc Parmentier ihren Befund: Ein Defekt im so genannten CCR5-Gen ist für die HIV-Resistenz verantwortlich. Durch den Genfehler mangelt es ihnen an einem Protein auf der Oberfläche ihrer Immunzellen, das der Kommunikation im Immunsystem dient, vom HI-Virus jedoch als Eintrittspforte in die Zellen seiner Opfer missbraucht wird.
Die Tests beginnen im Oktober
Sofort verfielen die Aids-Experten auf die Idee, die Genmutation zur Entwicklung hoch effektiver HIV-Medikamente zu nutzen. Ein Wirkstoff, der das normale CCR5-Molekül blockiert, lautete das Kalkül der Forscher, müsste schließlich ebenso vor der Infektion schützen wie das zerstörte CCR5-Molekül selbst. Die Rechnung scheint aufzugehen: SCH-C, eine Substanz des US-Pharmariesen Schering-Plough, wurde bereits an gesunden Freiwilligen getestet. Noch in diesem Monat, sagt der anerkannte Aids-Forscher David Ho, werde er mit Versuchen an HIV-infizierten Probanden beginnen. Mehr dürfe er nicht sagen, wehrt der Direktor des Aaron Diamond Aids Research Center der New Yorker Rockefeller University weitere Fragen ab. Man wolle die Sache nicht an die große Glocke hängen, heißt es bei Schering-Plough, schließlich sei das Medikament erst in der frühen Phase der klinischen Tests. Doch es handle sich um eine Tablette, die zweimal täglich eingenommen werde. Eine zweite Testreihe mit HIV-Infizierten sei in Frankreich angelaufen. Ein weiteres Medikament entwickelt die US-Company Progenics derzeit zusammen mit Hoffmann-LaRoche in den USA.
Glücken die Versuche, könnten die US-Pharmazeuten möglicherweise ein potentes HIV-Medikament in ihre Produktpalette einreihen - sofern die Pille das Virus ebenso effektiv seiner Angriffsmöglichkeiten beraubt wie der rettende Gendefekt. Rund 70 Prozent geringer sei die Ansteckungsgefahr bei Männern mit nur einem defekten CCR5-Gen im Erbgut, verkündete das Forscherteam von Michael Marmor gerade im Journal of Acquired Immune Deficiency Syndromes, nachdem es das Schicksal von fast 3000 Nichtinfizierten mit hoch riskantem Sexualverhalten über 18 Monate verfolgt hatte. Menschen, die sogar beide Kopien des Gens als fehlerhafte CCR5-Variante geerbt haben, dürften nahezu vollständig resistent gegen die Infektion sein.
Manche Forscher spekulieren gar, ob hier einer der Gründe für das Wüten der Aids-Epidemie in Afrika und Südostasien liegt. Denn dort kommt der Gendefekt nicht vor. In der europäischstämmigen Bevölkerung ist er dagegen häufig: Jeder hundertste Europäer besitzt kein funktionsfähiges CCR5 auf seinen Immunzellen, weil beide Kopien des Gens in seinem Erbgut defekt sind, bis zu 13 Prozent sind durch eine defekte Genkopie weitgehend geschützt. Auch innerhalb Europas gibt es Unterschiede: Am häufigsten ist der Defekt in Skandinavien und Russland, gegen Süden wird er immer seltener: In Griechenland sind nur gut 4 Prozent der Bevölkerung Träger des schützenden Fehlers. Daher, meint Genetiker O'Brian, müsse das Epizentrum jener vorzeitlichen Epidemie - Spekulationen reichen von Cholera über Tuberkulose bis zur Grippe -, die das defekte CCR5-Gen verbreiten half, in Nordeuropa gelegen haben. Und anscheinend hat es noch mehr zu bieten: Es wehrt nicht nur HIV ab, auch die chronische Darmentzündung Morbus Crohn tritt bei solchen Menschen seltener auf. Einen Haken hat die Sache allerdings: Wer ein defektes CCR5-Gen geerbt hat, infiziert sich leichter mit Hepatitis-C-Viren.