Lykurg[ohne Titel]
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Naim schrak hoch. Er hatte in den letzten Wochen zunehmend schlecht geschlafen, so schlecht wie lange nicht mehr. Dabei schien alles wie gewöhnlich, neben ihm atmete tief und ruhig seine Frau Esme. Liebevoll betrachtete er die vertrauten, verhärmten Formen ihres Gesichts. Ihr Leben am Rand des Dorfes war nicht leicht, sie mußte auch heute noch feindselige Blicke und das nichtendenwollende Gezischel und Getuschel der Karai-Frauen auf dem Markt ertragen dafür, daß sie ihn damals erwählt hatte, den Fremdling vom Volk der Jelogan, den Mittellosen, mit den tiefgrauen Augen. Sie war die Tochter eines angesehenen Bauern gewesen, um die sich viele Werber scharten, auch der Sohn der Dorfvorsteherin hatte um ihre Hand angehalten. Als sie aber den zugelaufenen Fremdling ihnen allen vorgezogen hatte, waren böse Stimmen im Dorf laut geworden: Er habe sie verhext, mit seinem bösen Blick gebannt, er werde ihr und dem Dorf Unglück bringen. Daß ihr Vater wenig später starb, hatte die Front noch verhärtet, man gab ihr die Schuld und sprach das Erbe entgegen der Sitte ihrem Bruder zu. Esme und Naim blieben in der ärmlichen Schilfhütte, die sie sich am Rand des Dorfes erbaut hatten, wohnen, in der der Rauch sich unter dem Dach sammelte, der Wind aber durch alle Ritzen zog. Doch Naim hatte nie eine Klage von ihr vernommen, sie akzeptierte das ärmliche Leben einer beinahe Ausgestoßenen, arbeitete von morgens bis abends auf dem Feld, wenn er jagte, fischte oder durch die Wälder zog. Sie hatte ihn nie mehr gefragt, was er dort machte, wenn er tagelang unterwegs war, ohne auch nur einen Hasen mitzubringen, nie mehr nach dem ersten Mal, als er ihr mit seinen tiefgrauen Augen einen Blick voller düsterer Trauer zugeworfen hatte. Sie ließ ihn von nun an ziehen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, ohne Rechenschaft zu fordern, wie es bei den Frauen ihres Stammes sonst üblich war. Doch er war schon lange nicht mehr umhergestreift. Esme seufzte im Schlaf auf, verzog das Gesicht, murmelte etwas und schlief wieder fest ein. Diesen einen Wunsch hätte er ihr zu gerne erfüllt - Kinder waren ihnen in den Jahren nicht gewährt worden. Naim glaubte nicht an die Große Mutter der Karai, aber er wußte, daß Esme davon überzeugt war, daß ihr Zusammenleben kinderlos war, weil ihnen die Stammeszeremonie verwehrt geblieben war. Aber er hätte niemals ein Karai werden können. Und zu den Jelogan konnte er auch nicht zurück, nach dem, was damals mit ihm geschehen war... Leise erhob er sich von ihrer Lagerstatt, horchte kurz, raffte seinen Bogen, den Pfeilköcher und sein altes Messer zusammen und überprüfte den Proviantbeutel. Er sog noch einmal den säuerlichen Duft ein, der von Esme ausging, dann trat er durch den geflochtenen Türvorhang hinaus ins Mondlicht. Er blickte sich um - das Dorf lag ruhig da, kaum ein Laut war zu hören, nur das Rauschen des Waldes ringsum. Und da war es wieder, das Gefühl, das ihn geweckt hatte, unbestimmt wie ein Traum, und doch ein sicheres Wissen, daß schlimme Dinge kommen würden, und seine Tage bei den Karai gezählt wären. Mit schnellen Schritten, ohne sich umzusehen, trat er hinaus in den Wald. Fern im Westen heulte ein Wolf, ein anderer antwortete ihm. Ein Zeichen von Jelgir? Er wußte es nicht. Und selbst wenn, was sollte es bedeuten? Er war schon zu lange fern von seinem Volk, hatte zuviel gesehen, um den Riten noch viel Beachtung zu schenken. Ja, er hinterließ Jelgir sein Opfer, wenn er Beute gemacht hatte. Aber er tat es, ohne darüber nachzudenken, ohne dabei etwas zu empfinden. Seine Füße trugen ihn federnden Schritts auf dem gewohnten Pfad zum weißen Bach. Seine Flasche würde er ohnehin noch einmal füllen müssen. Er blieb mehrfach stehen und lauschte in allen Richtungen. Kein Laut - und doch fühlte er tief in seinem Innersten, daß da etwas sein mußte, daß etwas in der Nähe war, das er kannte - und fürchtete. Er erreichte das kleine Quellbecken und kauerte sich nieder, um seine Holzflasche mit dem klaren, kalten Wasser zu füllen.
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